KAPITEL 17
Am frühen Morgen fuhr ich mit Leonard zu dem Sägewerk am Rand von Camp Rapture. Es war frisch, die Luft kühl, und als die Sonne über die Bäume und Häuser am Horizont kroch, strahlte der Himmel so rot wie ein polierter reifer Apfel.
Hier zwischen LaBorde und Camp Rapture hatten wir beide mal gewohnt. In Leonards früherem Haus hatten wir schlimme Sachen erlebt; damals hielt er noch Hunde, wir schufteten beide auf den Rosenfeldern, und eines Tages stand plötzlich meine Exfrau Trudy bei mir vor der Tür und zog uns in einen Riesenschlamassel mit rein. Oder genauer gesagt, ich zog Leonard mit rein, weil ich ihr nicht widerstehen konnte und auch gar nicht wollte. Damals änderte sich unser Leben. Diese Geschichte hat uns verändert. Sie war eine Art Weichenstellung, ein Kurswechsel auf einen brutaleren Lebensweg. Ich hielt Leonard immer für den von Natur aus Brutaleren von uns beiden, doch in Wahrheit hatten meine Entscheidungen uns alles Folgende eingebrockt, und inzwischen waren aus uns, nach einem Haufen solcher Entscheidungen und Fehler, zwei Männer mittleren Alters geworden, körperlich hart und fit, aber müde. Ich zumindest, Leonard beklagte sich ja nie über so was. Keine Ahnung, ob es ihm überhaupt auffiel, dass er älter wurde. Ich merkte, wie ich älter wurde. An kalten Tagen wie diesem spürte ich es in den Knochen, und wenn ich mich abends aufs Kopfkissen legte, dachte ich über Versäumnisse nach. Nicht alles war schlecht. Ich hatte Brett, und jetzt Chance, und meinen Bruder Leonard an meiner Seite. Vielen Menschen fehlt dergleichen, obwohl sie sich danach sehnen. Aber, wie Leonard mal festgestellt hat, ich bin nicht so einfach glücklich zu machen.
Während der Fahrt dachte ich an Leonards früheres Haus zurück, wo Trudy gestorben war. Jetzt gehörte es nicht mehr ihm. Genauer gesagt existierte es gar nicht mehr. Nachdem er ausgezogen war, hatte ein Feuer es zerstört, und stattdessen hatte man so ein doppeltes Mobilheim aufs Grundstück geschleppt und dort fest installiert. Rundherum war jetzt Rasen, stets gemäht, und die Bäume an den seitlichen Grundstücksgrenzen hatte man gefällt und durch Hecken ersetzt. Die Hecken grünten etwa ein Jahr lang nach ihrer ersten Blüte und verkümmerten dann zu braunem Gestrüpp beiderseits des Grundstücks.
Am meisten schade war es um eine mächtige Eiche, die nicht weit hinter Leonards Haus mitten im Wald gestanden hatte. Sie war nämlich die letzte der großen Eichen, ein Überbleibsel von früher, als Bäume noch über lange Zeiträume wuchsen, mit breiten und hohen Stämmen, von keiner Säge je bedroht. Auf den dicken Ästen der Eiche konnte man hochklettern und sich oben gemütlich hinlegen und einschlafen, ohne Angst haben zu müssen, runterzufallen. Das weiß ich noch. Wir hatten es beide so gemacht, weil es uns da so gefallen hatte. Im Frühling lagen wir da in dem Baum, über uns das glänzende grüne Blätterdach, und manchmal auch im Herbst, wenn es bereits kühler war, bevor die Nächte dann wirklich kalt wurden. So lagen wir da jeder auf seinem Ast und redeten über Gott und die Welt.
Wir nannten die Eiche unseren Robin-Hood-Baum, nach dem Riesenbaum, in dem sich Robin Hood und seine Getreuen immer zum Feiern und Reden versammelten. Ich nannte ihn für mich auch den Tarzan-Baum und stellte mir dabei vor, dass man in seinem breiten Geäst ein Baumhaus bauen könnte mit genügend Platz, um darin mit einer gelenkigen blonden Jane zu wohnen, mit der man noch anderes treiben könnte als Elefanten zu jagen oder sich von Liane zu Liane schwingen. Und Leonard träumte womöglich davon, einen Tarzan als Gespielen zu haben, wobei er sich Tarzan zweifellos gefügig gemacht hätte.
Leonard und ich trafen uns immer bei der Eiche. Mein Fußweg dorthin führte durch Wald, nicht allzu weit, wenn man einen baumgesäumten Weg einschlug, dann einen Wildwechsel und schließlich einen gewundenen Trampelpfad durch ein Waldstück mit hohen Schwarzeichen, bis man am Fisherman’s Creek rauskam. Auf der anderen Seite des Creeks standen die Bäume lichter, jedoch genauso prächtig: Amberbäume und Hickorys und natürlich Kiefern.
Der Robin-Hood-Baum war ihrer aller Großvater. Die Eiche ragte höher empor und breitete ihr Geäst weiter aus als alle anderen. Ihre Rinde war dunkel und kräftig, und ihre Blätter jeden Frühling so grün wie Irland. Bei Regen darunter zu stehen war ein Erlebnis, denn die dicken Äste und das dichte Blattwerk ließen im Frühling und Sommer und bis in den Herbst, bevor dann die Blätter vertrockneten und braun und gelb herunterfielen, kaum Wasser durch. Bei Sturm schüttelten sich die Äste wie zornige Spartaner, die ihre Waffen gegeneinanderschlagen, doch sie brachen nicht. Die Erde unter der Eiche war fett und dunkel vom herabgefallenen und vermoderten Laub vieler Jahre. Auf dem Boden lagen dicke Eicheln, und wenn wir manchmal hinkamen, waren Eichhörnchen dort zugange, seltene schwarze Eichhörnchen, die sich in diesem Teil der Wälder heimisch fühlten. Sie schnatterten und tollten auch gern oben in der Baumkrone herum.
Leonard und ich, wir trafen uns oft dort, morgens, zu einem Frühstück mit hartgekochten Eiern, die wir uns in braunen Papiertüten mitbrachten. Dazu tranken wir Kaffee aus Thermoskannen. Hatten unser Angelzeug dabei. So saßen wir unter dem Baum, aßen und tranken und redeten in aller Ruhe. Nach dem Kaffee machten wir uns auf den Weg, mit unserem Angelzeug und einer Kühlbox, und einer trug das Eimerchen voll Erde mit lauter Würmern drin. Durch die Bäume und am schmalen Wasserlauf des Creeks entlang gingen wir zum Teich. An dem großen Teich hatte früher einmal ein Haus gestanden. Davon waren jetzt nur noch ein Haufen grauer Holzschutt und rostige Nägel und ein paar Backsteine übrig, die die Stelle markierten, wo einst das Feuer im Kamin gebrannt hatte. Dahinter stand immer noch eine Scheune mit ihren Schindelwänden, jedoch ohne die breiten Torflügel, die wahrscheinlich irgendjemand mitgenommen und anderweitig verwendet hatte. Bäume umzingelten die Scheune, und ein Amberbaum war unter das Dach gewachsen und hob es an einer Seite an.
Den Teich hatte man vor fünfzig Jahren oder so angelegt und Fische darin ausgesetzt, deren Nachkommen wir herausangelten. Dazu hatten wir uns ein kleines Boot mit viel Mühe zum Teich geschleppt, am Ufer des Creeks entlang, und das behielten wir dort, weil wir immer wieder zum Angeln herkamen. Niemand störte sich daran, denn außer uns kam niemand mehr zum Angeln hierher. Das Land hier gehörte mittlerweile jemandem oben im Norden, der es so gut wie vergessen hatte. Das Wasser im Teich war verschlammt, aber es gab fette Fische darin. Wir fischten sie raus und warfen sie normalerweise wieder rein, wenn sie nicht groß und dick genug waren; in dem Fall nahmen wir sie mit nach Hause zum Abendessen.
Wir angelten mit Rohrstöcken, nicht mit Angelruten mit Rollen. So angelte man hier nicht. Hier angelte man auf schlichte, altmodische Weise. An unseren Rohrstöcken hatten wir die Angelschnur befestigt, mit einem Angelblei, einem Korkschwimmer und einem Haken mit Köder, meistens Würmer. Vom Boot aus ließen wir dann die Angelschnur ins Wasser, ließen uns treiben und schauten zu, wie die Fische sprangen, die Libellen über dem Wasser schwebten, die Schatten der über uns hinwegfliegenden Vögel übers Wasser glitten. Gelegentlich beobachteten wir einen Frosch bei seinen Sprüngen oder eine Wassermokassinschlange bei ihren zuckenden Schwimmbewegungen. Schildkröten streckten ihre Köpfe wie Periskope empor und ließen sich mit einem sanften Plitschen wieder unter die Oberfläche zurückfallen, auf der sich dann ein Kräuselring ausbreitete.
Im Frühjahr blieb es dort lange kühl, im Sommer wurde es richtig heiß, und wir setzten uns dann breitkrempige Hüte auf und angelten trotzdem und faulenzten und sprachen oft nur leise miteinander, damit die Fische nicht vor uns abhauten. Wir tauschten unsere Meinungen über alles Mögliche aus, so wie wir es auch in unserem Baum oben taten. Darüber, wie verschieden wir doch waren. Ich erzählte Leonard meine Frauengeschichten, er mir seine Männergeschichten. Wir sprachen indirekt darüber, dass wir Brüder geworden waren, ohne dies direkt auszusprechen. Ich erzählte schlechte Witze, und Leonard reagierte grummelnd. Wir waren bereits zuvor enge Freunde gewesen, doch damals wurden wir unzertrennlich.
Als Leonard später aus dem Haus nah am Wald auszog und ich danach aus meinem Haus, ging uns dieser Treffpunkt verloren.
Einige Jahre später erinnerten sich die Leute oben im Norden wieder an ihr Stück Land. Holzfällertrupps rückten an und rodeten die Wälder, fällten sogar die mächtige uralte Eiche, deren hartes altes Holz den Sägen sicher zähen Widerstand leistete. Die Sägen gewannen den Kampf. Der Baum kippte um, wurde mit Benzin übergossen und angezündet. Man verarbeitete ihn nicht einmal zu Bauholz. Man wollte nur an die Kiefern ran. Wo die große Eiche gestanden hatte, blieb die Erde lange Zeit schwarz.
Irgendwann füllten sie auch den Teich auf. Eine Firma, die für eine Supermarktkette Hühnerzucht betrieb, kaufte das Land, und wo früher ein Teich mitten im Wald gewesen war, stand nun eine Reihe lang gezogener Gebäude zur industriellen Hühnerproduktion. Eine breite Schotterstraße führt nun von dem ehemaligen Wald zum Highway. Komisch, wie kurz mir diese Strecke bis zum Teich jetzt vorkam, wenn ich sie so sah. Als die Bäume noch standen, schien es ein weiter Weg zu sein.
Während wir daran vorbeifuhren, weigerte sich Leonard strikt, hinzusehen. Ich sah hin, obwohl mir nicht gefiel, was ich dort sah. Der Regen fällt immer noch, und der Wind weht immer noch, aber die Eiche und der Teich und die seltenen schwarzen Eichhörnchen sind verschwunden.