KAPITEL 18
Wir erreichten unser Ziel. Meine Erinnerungen hatten mich melancholisch gestimmt, was durch den Anblick des alten verlassenen Sägewerks nur noch verstärkt wurde. Eine Ruine am Ortsrand von Camp Rapture, hoch auf einem Hügel, dessen Abhang größtenteils von dichtem Wald überwuchert war. Rundum wuchsen Bäume, wie um die Sägewerksleute zu verspotten, die ihre belaubten Artgenossen einst an dieser Stelle zu Bauholz verarbeitet hatten. Eine besonders tapfere und trotzige Kiefer stemmte sich durch ein Loch im Dach. Ihre immergrünen Nadeln glitzerten, als würden sie schwitzen.
Neben dem Bau schimmerte ein Tümpel von beträchtlicher Größe bronzefarben in der Morgensonne, und die Hitze erzeugte Nebel auf der kalten Wasseroberfläche. Ein hässlicher Tümpel, anders als der, den wir geliebt hatten und an dessen Stelle jetzt die Hühnerfabrik stand. Der war zwar morastig gewesen, aber sauber.
Wir parkten so nahe wie möglich am Sägewerk, am Ende der Zufahrtsstraße, gingen den Rest zu Fuß und betrachteten das Wasserloch. Die Sonne stieg höher, der Nebel löste sich allmählich auf, und nun sah man, dass das Wasser ganz dunkel war vor lauter Sägemehlmatsch, der aussah wie Treibsand und es bronzefarben schimmern ließ.
Früher hatte eine Röhre aus dem Gebäude herausgeführt und das Sägemehl hier ausgespuckt, während drinnen kreisende Sägen die Bäume zu Brettern verarbeiteten und der Fortschritt die texanischen Wälder fraß. Unter dem Ende des Rohrs hatte sich das Regenwasser angesammelt und ein sumpfiges Loch entstehen lassen, das nun nach Säure roch.
»Also«, sagte Leonard. »Charm knipst ein paar Fotos von einem alten Sägewerk. Na und? Wie jeder weiß, sind hier immer wieder Leichen gefunden worden, das ist nichts Neues. Was könnte so wichtig sein, dass die Cops Charm das Leben schwer machen und ihr die Kamera-Speicherkarte wegnehmen und ihren Bruder umbringen? Kommt mir so vor, als hätten sie sie genauso gut in Ruhe lassen können.«
»Möglicherweise ging es nicht darum, was sie fotografiert hat, sondern was sie vermeintlich fotografiert hatte.«
»Und dann lassen sie sie laufen und kümmern sich einfach nicht mehr um sie?«, sagte Leonard. »Warum?«
»Weil sie sich die Fotos auf der Speicherkarte angeschaut haben. Da war nichts Beunruhigendes drauf. Aber was könnte Jamar gewusst haben, das ihnen Sorgen machte?«
»Na ja, er ging den Cops auf die Nerven.«
»Allerdings ein weiter Schritt von sich genervt fühlen bis hin zum Totprügeln und -treten. So blöd können nicht mal diese Dumpfbacken in Camp Rapture sein.«
»Wir haben ja schon oft festgestellt, dass Dummköpfe eben auf dumme Ideen kommen. Zum Beispiel wir beide.«
»Da hast du allerdings recht«, sagte ich. »Schauen wir uns das Sägewerk an.«
Wir gingen einen überwucherten Zufahrtsweg entlang. Das Unkraut war niedergedrückt und braun, und man konnte erkennen, wo kürzlich erst Autos entlanggefahren waren. Unter unseren Schuhen knirschte der Schotter wie zerstoßenes Glas.
An der Seitenwand des Gebäudes lehnte eine große Sperrholzplatte. Zwischen ihrer Kante und der Hauswand sickerte ein Streifen Licht durch. Ich schob die Platte beiseite. Wo die Holzwand vermodert und zerfallen war, bot sich ein Einstiegsloch. Drinnen schien die Morgensonne durch Dachlücken und erhellte den ganzen Raum und intensivierte das Grün der hinauswachsenden Kiefer. Die verstaubten Sägeblätter einer großen Säge rosteten vor sich hin, ebenso verstaubte Riemen führten über klobige Rollen zu einem wuchtigen Motor.
Der Boden unter unseren Füßen fühlte sich wie ein Teppich an, wo das Sägemehl eine fest gebackene Schicht gebildet hatte. Mäuse huschten blitzschnell hin und her und verschwanden unter zerbrochenen Brettern und in Wandlöchern. Um die Kiefer herum war im Abstand von etwa fünf Metern kreisförmig ein stabiler Drahtzaun gezogen, einmal rundherum. Auf unserer Seite davon gab es ein kleines Törchen aus Hühnerstalldraht mit einem Holzrahmen und rostigen Scharnieren.
»Hundekämpfe«, sagte Leonard.
»Sieht so aus«, sagte ich.
Wir betraten den Drahtzaunring. Auch hier bedeckte Sägemehl den Boden, doch die Deckschicht war zerwühlt, und der feste Erdboden darunter war aufgekratzt – von den Halt suchenden Pfoten verzweifelter Hunde, so stellte ich mir vor.
Vielleicht hatten sie Charm verdächtigt, heimlich die Hundekämpfe fotografiert zu haben, und vielleicht waren die Cops tatsächlich, wie Manny gemeint hatte, finanziell daran beteiligt, an etwas, das sie als Sport bezeichneten, so als würden die Hunde freiwillig daran teilnehmen. Vielleicht hatten sie befürchtet, sie hätte einen Kampf fotografiert oder gefilmt, der an jenem Abend hier stattgefunden hatte, und dass sie Bilder besäße von den Anwesenden, was, wenn einige im Polizeidienst oder im Stadtrat oder so waren, für Ärger hätte sorgen können.
Leonard hatte eine Kamera mitgebracht, mit der er das Ganze nun fotografierte, und ich tat das Gleiche mit meinem Smartphone und schickte die Bilder gleich an meine private E-Mail-Adresse.
Wir spazierten wieder hinaus, schoben die Sperrholzplatte zurück und gingen zum Wagen. Als wir gerade einsteigen wollten, rollte eine blaue Limousine hinter uns die Zufahrt hoch und versperrte uns den Weg. Zwei Männer stiegen aus und stellten sich vor ihren Wagen. Einer trug Jeans und ein weites Hawaiihemd. Er war groß, und sein kahl geschorener Kopf war oben von der Sonne verbrannt, im Gegensatz zur Blässe seines Gesichts. Das sah aus wie mit einem Kantholz geplättet. Der andere war kleiner, eher untersetzt, und wies eine gesunde Gesichtsröte auf, darüber einen dichten schwarzen Haarschopf und im Gesicht eine verbogene Nase; er ging, als wäre eins seiner Eier sehr viel schwerer als das andere. Mit offenem Mund stand er da, schnaufend. Ich hoffte, eine Fliege würde ihm auf der Zunge landen.
»Na, das ist ja ’n Ding«, sagte Leonard zu dem Mann im Hawaiihemd. »Wenn das nicht Sheerfuck höchstpersönlich ist.«
Da kapierte ich. Es war Sheerfault, gegen den Leonard einen Kampf verloren hatte und den er nicht leiden konnte. Er wirkte, als wäre er körperlich immer noch ganz auf der Höhe.
»Leonard Pine, oh je, ich hab eigentlich gedacht, dich hätte ein schwarzes Loch verschluckt«, sagte Sheerfault. »Tschuldigung. Sollte kein Niggerwitz sein. Ich glaub, das letzte Mal, als ich dich gesehen hab … mal überlegen … da hab ich dir deinen schwarzen Arsch versohlt, oder?«
»Nur nach Punkten«, sagte Leonard.
»So spricht der Verlierer. Ich war kurz davor, dich fertigzumachen. Eine Runde mehr, und ich hätte dich k. o. geschlagen.«
»Du hättest mich nicht mal mit ’nem Hammer k. o. geschlagen.«
Sheerfault grinste. Ein Grinsen, das dazu reizte, ihm die Zähne einzuschlagen.
»Ich wollte ja einen zweiten Kampf«, sagte er, »aber so wie ich mich erinnere, bist du dann in Rente gegangen.«
»Ich wollte nur nicht noch mal verlieren gegen jemand, der mich immer bloß antippt und mich nie richtig erwischt.«
»Ach was, ich hab dich ganz schön erwischt.« Sheerfault grinste noch breiter, eigentlich schier unmöglich, aber er schaffte es.
»Wer ist dein kleiner Freund?«, fragte Leonard. »Sieht aus, als ginge er noch aufs Töpfchen.«
»Bobo Townsend. Er ist nicht gerade ein großer Denker, stimmt’s, Bobo?«
»Bin kein großer Denker«, sagte Bobo.
»So vor fünf Jahren hat ihn ein Zug erwischt, und schon davor war er kein Genie«, sagte Sheerfault. »Der Zug hat seinen Truck erwischt, auf ’nem Bahnübergang, hat den Wagen zusammengequetscht und in Bobos Gehirn ein paar Drähte gelockert. Bobo sieht das Leben ganz einfach, stimmt’s, Bobo?«
»Ich hau gern Leute«, sagte Bobo.
»Das wär’s so ungefähr«, sagte Sheerfault. »Er haut gern Leute. Und immer, wenn er einen Zug pfeifen hört, scheißt er sich in die Hosen.«
»Kann nichts dagegen machen«, sagte Bobo.
»Solltest immer Klopapier dabei haben«, sagte ich. »Und frische Unterwäsche.«
»Ich hau dich gleich«, sagte Bobo.
»Kein Grund für Unhöflichkeiten«, sagte ich.
»Mach nur«, sagte Leonard. »Hau ihn. Und dann schau mal, was du davon hast, Banjo.«
»Bobo«, sagte Bobo.
»Wir müssen uns nichts beweisen«, sagte ich so seelenruhig wie möglich, als wäre ich ganz guter Dinge.
»Mach nur, Bobo«, sagte Leonard. »Hau ihn. Wir sorgen dann schon dafür, dass du ’n anständiges Begräbnis kriegst, und wenn wir dich ganz in der Erde versenkt haben, dann schmeiß ich das, was von deinem Kumpel noch übrig ist, mit runter ins Loch und scheiß noch ’n großen Haufen auf euch beide drauf.«
Verdammt, Leonard. Bobo kam mir ziemlich robust vor, und ich wollte den Tag nicht mit einer gebrochenen Nase und einer Zahnlücke beginnen.
»Ich werd nicht zulassen, dass du meinem Freund was tust«, sagte Bobo.
»Das ist nett«, sagte Leonard. »Aber Hap wird sich um dich kümmern und ich mich um deinen Freund.«
Bobo trat einen Schritt vor, mit gesenktem Kinn. Sheerfault streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. »Heute nicht, Bobo. Der schwarze Bastard plustert sich bloß auf.«
»Hab ich gar nicht nötig«, sagte Leonard.
Bobo hielt inne und entspannte sich wieder. Er fixierte mich mit leeren Augen. Ein Gesichtsausdruck wie ein leerer Sack. In seinem Schädel kletterte eine Gehirnzelle eine Klappleiter hoch, um auf einem der oberen Regale irgendeinen Gedanken zu finden.
»Ja«, sagte Bobo. »Also gut. Ein andermal.«
»Wolltet ihr Inzest-Hinterwäldler nur mal ein bisschen raus an die Sonne?«, fragte Leonard.
»Wir sind nur aus zwei Gründen hier hochgefahren, Pine. Erstens wollte ich dich dran erinnern, wie schlimm ich dich verdroschen hab, und zweitens wollten wir dir raten, dich von Manny fernzuhalten. Sie lügt nämlich. Behauptet, dass Cops scharf auf sie waren, in Wahrheit war das aber keiner. Sie war frustriert, dass keiner sie will.«
»Ach so, da wollte so eine schöne, intelligente Frau euch hässliche Schweine anbaggern, aber keine Chance, ihr seid standhaft geblieben, weil ihr so dermaßen edle und anständige und treue Seelen seid«, sagte Leonard.
»Wir sind keine Schwuchteln wie du, Pine«, sagte Sheerfault, »und manchmal stinkt eine Muschi eben, und die will man dann nicht unbedingt bumsen. Manny, die stinkt.«
»Im übertragenen Sinn, nehme ich an.«
»Sowohl als auch, vielleicht«, sagte Sheerfault. »Hab nie Gelegenheit gehabt, bei ihr unten rum zu schnuppern.«
»Meinst du damit, sie hat dich nicht rangelassen?«, sagte Leonard. »Die Frau hat anscheinend Geschmack.«
»Halt dich von ihr fern«, sagte Sheerfault. »Wäre nur zu ihrem und zu deinem Besten.«
»Sonst?«, sagte Leonard.
»Keine Ahnung«, sagte Sheerfault. »Kann alles Mögliche passieren. Ich meine, ich würde dir ja nicht wünschen, dass du wegen Gesetzesübertretungen in Camp Rapture in einer Arrestzelle landest, denn selbst in einem vorbildlichen Vollzugssystem wie unserem kann es mal zu Verletzungen kommen. Durch andere Häftlinge nämlich. Wir haben da Insassen, die’s nicht mögen, zusammen mit einer Person anderer Hautfarbe eingesperrt zu sein. Sagt man so unter deinen Leuten? Personen anderer Hautfarbe? Wie du siehst, bemühe ich mich, das Wort Nigger zu vermeiden. Das ist das Mindeste, was man von mir sagen kann: Ich bin fortschrittlich.«
»Und du selber, Sheerfault?«, sagte Leonard. »Willst du nicht selber, höchstpersönlich für ein paar Verletzungen sorgen, anstatt das irgendwelchen Häftlingen zu überlassen?«
»Hab ich doch schon längst.«
»Du hast bei mir höchstens für Ermüdung gesorgt.«
»Ich hab dich besiegt. Ich hab das Preisgeld gewonnen.«
»Hoffentlich hast du diese 75 Dollar gut in eine zusätzliche Krankenversicherung investiert«, sagte Leonard. »Denn wenn du mich schlagen willst, endlich mal, wirst du die hinterher brauchen.«
Sheerfault lächelte. »Immer noch der schlechte Verlierer.«
»Ach, den Wettkampf hab ich verloren, ein echter Kampf war das aber nicht«, sagte Leonard. »Einen beschissenen Tanzwettbewerb hab ich da verloren.«
»Glaub das nur weiterhin, Großmaul«, sagte Sheerfault, ging zurück zur Fahrertür seines Wagens, öffnete sie und setzte sich lächelnd hinters Steuer.
Bevor Bobo auf der Beifahrerseite einstieg, sagte ich zu ihm: »Bist du auch Polizist, Bobo?«
Er hielt vor der offenen Beifahrertür inne und legte seine Arme aufs Wagendach, dachte einen Gedanken und dann noch einen und sagte: »Bin kein Polizist.«
»Gut. Ich hab mir nur Sorgen gemacht, dass du ’ne Waffe trägst, mir der du dir in den Fuß schießen könntest.«
Bobo dachte auch darüber nach und sagte dann: »Danke.«
Er stieg ein, zog aber die Tür nicht zu, sondern stieg gleich wieder aus. In seinem Schädel musste eine weitere Gehirnzelle irgendetwas entdeckt haben.
»Soll das eine witzige Bemerkung gewesen sein?«, fragte er.
»Schlaf eine Nacht drüber«, sagte ich.
Er beäugte mich kritisch, glitt dann wieder in den Wagen und schloss die Tür.
Als sie davonfuhren, sagte Leonard: »Den Kerl hab ich echt gefressen.«
»Hab ich gemerkt.«
»Für diesen scheiß Bobo hab ich genauso wenig übrig. Sieht aus wie ’n Hydrant auf zwei Beinen.«
»Wetten, dass Bobos Mutter es bereut, ihn nicht als Kind mit seinem Teddybären erstickt zu haben?«, sagte ich.
»Vielleicht hol ich das für sie nach.«
»Ach, übrigens, danke dafür, dass du ihn beinahe dazu angestachelt hast, mir eine reinzuhauen, Bruder. Dafür bin ich dir noch was schuldig.«
»Den hättest du zur Sau gemacht, so beweglich wie du bist.«
»Du bist ein Unruhestifter.«
»Ein bisschen«, sagte Leonard.
»Jedenfalls führen sich zwei Kerle, die uns weismachen wollen, es ginge gar nichts vor sich, so auf, dass ich unweigerlich zu dem Schluss komme, dass hier irgendwelche Riesenschweinereien vor sich gehen.«
»Vielleicht sind sie wirklich so blöd«, sagte Leonard.
»Oder so nervös.«
»Leute nervös machen, das können wir«, sagte Leonard.
»Ja, oder?«, sagte ich. »Verdammt, ich mach mich ja selber nervös.«