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Die Schlacht auf der Hochebene
Ich habe es immer faszinierend gefunden, dass in der ewigen Weite von Raum und Zeit mehrere bedeutende Ereignisse gleichzeitig stattfinden können. Es wirft jedes Mal die Frage auf, was die Götter wissen, das ich nicht weiß.
– Das Buch Brin
»Brin?«
Die Hüterin der Wege war dabei, einen der Pflöcke auszugraben, die das Zelt aufrecht hielten, in dem sie und Padera ein Jahr lang gelebt hatten. Als sie ihren Namen hörte, sah sie auf.
Habet atmete schwer, sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und er lächelte wie gewöhnlich. Solange Brin sich erinnern konnte, war er der Hüter der Ewigen Flamme von Clan Rhen gewesen. Das bedeutete, dass er dafür verantwortlich war, dass das Feuer im Langhaus stets brannte. Eine wichtige Aufgabe, da alle im Dahl die Ewige Flamme nutzten, um ihre Lampen oder Herdfeuer zu entzünden. Habet war für diese langweilige, wenn auch simple Aufgabe bestens geeignet, da er ebenfalls sehr einfach gestrickt war. Leute wie Sackett und Heath Coswall hatten ihn als dumm bezeichnet. Krier, der auch Gifford zu quälen pflegte, hatte sich ebenfalls oft über Habet lustig gemacht. Doch all die Sticheleien waren sinnlos, da Habet sie nie zu bemerken schien. Brin glaubte nicht, dass er dumm war, nur ein wenig langsamer als andere. Und wie es auch bei Gifford der Fall war, waren seine Schwächen offensichtlicher als seine Stärken.
»Padera braucht dich«, sagte er mit seiner typischen leisen und langsamen Art, was sich oftmals so anhörte, als würde er jeden Augenblick einschlafen.
»Ich bin gerade dabei, unser Zelt abzubauen. Ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig machen. Sag ihr, dass ich komme, wenn ich fertig bin«, erklärte Brin frustriert. Sie und Padera hatten sich in den letzten eineinhalb Jahren zuerst das kleine Haus in Alon Rhist und dann das winzige Zelt geteilt. Brin kümmerte sich um die alte Frau, was eine gewaltige Aufgabe war, für die niemand ihr Anerkennung zollte – schon gar nicht Padera selbst.
»Padera braucht dich«, wiederholte Habet.
»Sie braucht mich immer für irgendwas, dabei mache ich doch das hier gerade schon für sie.«
Brin und die anderen ehemaligen Bewohner Alon Rhists hatten den Winter im Hochspeertal verbracht, wo sie ein wenig Schutz am Südufer des östlichen Flussarms des Berns gefunden hatten. Der dünne Zeltstoff hatte allerdings nicht viel gegen die bitterkalten Winterwinde ausrichten können, und Brin hatte sich in viel zu vielen Nächten in den Schlaf gezittert. Sie freute sich auf den Frühling, doch die Ankunft der wärmeren Jahreszeit bedeutete auch, dass der Krieg wiederaufgenommen wurde.
Die Armee würde an diesem Morgen nach Norden marschieren, und Tesh mit ihnen, aber Brin steckte hier fest und musste packen. Und danach würde Padera mit weiteren Aufgaben dafür sorgen, dass sie einander nicht mehr sehen würden, ehe die Armee aufbrach. Brin gab sich keinen Illusionen über ihre Zukunft mit Tesh hin. Der Mann, den sie zu heiraten hoffte, war zwar einer der besten Krieger auf dem Schlachtfeld, doch Kriege waren unvorhersehbar und gefährlich. Es half sicher, geschickt im Kampf zu sein, aber Brin fürchtete, dass das nicht ausreichte, um dem Schicksal zu entgehen.
Die Hoffnungen aller waren nach der Schlacht am Grandford gestiegen, weil sie seitdem nichts mehr von den Streitkräften des Fhans gesehen oder gehört hatten. Nicht so Brins. Man versuchte sie ständig zu beruhigen, dass die Rhune-Armee doch bloß fünfzehn Meilen über offene Wiesen nach Norden vorausspazieren würde, ohne auf Widerstand zu stoßen. Der Rest des Lagers würde schon bald folgen. In nur wenigen Tagen würde das gesamte Lager am Rand des Harwaldes aufgeschlagen werden.
Die meisten freuten sich auf den Umzug und konnten es kaum erwarten, einen neuen Platz für ihre Zelte zu finden. Das war Brin völlig egal. Sie wünschte sich nichts anderes, als dass Tesh überlebte. Vor Sorge war ihr ganz schlecht, und sie wollte ihn wenigstens verabschieden, ihm hinterhersehen und sich vergewissern, dass er in Sicherheit sein würde. Stattdessen steckte sie hier fest und musste alles zusammenpacken, während die alte Frau sich Mari wusste wo herumtrieb. Alles, wirklich alles blieb an ihr hängen, und sie wusste nicht, wie sie die viele Arbeit bewältigen sollte. Sie fühlte sich überfordert, wütend und frustriert. Die dämlichen Pfähle, die ihr Zelt aufrecht hielten, machten alles nur noch schlimmer, und nun war auch noch Habet hier, mit einer weiteren Aufgabe von der großen, erhabenen Padera, die schon wieder etwas von ihr wollte.
»Padera braucht dich«, wiederholte Habet zum dritten Mal. Sein Tonfall war immer noch genau derselbe.
»Warum?«, rief sie. »Was will sie denn von mir?«
Nun blinzelte Habet und trat einen Schritt zurück. »Braucht Hilfe …«
»Sie braucht immer Hilfe«, murmelte Brin, mehr zu sich selbst als zu ihm.
»… Hilfe mit Baby.«
»Baby?« Brins Augen weiteten sich. »Oh, um Maris willen! Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
Brin rannte zum Fluss hinunter.
Suri hatte aus Erde und Gras eine saftig grüne Brücke erschaffen, auf der Wildblumen blühten.
Normalerweise war die Brücke breit genug, doch an diesem Morgen waren alle früh auf den Beinen und schleppten ihre Habseligkeiten umher, sodass der Übergang völlig verstopft war. So klein und schmal Brin auch war, sie würde es nicht schaffen, sich zwischen den Leuten hindurchzuzwängen.
Innerlich schrie sie wütend auf. Was für ein Tag! Muss denn heute wirklich alles schiefgehen?
Direkt vor ihr wartete eine Gula mit ihren fünf Kindern und einem riesigen Korb, den sie auf dem Kopf trug. Sie wurde auf einer Seite von einem Wagen flankiert, der viel zu schwer mit Fässern beladen war, und auf der anderen Seite von einem halben Dutzend Schafe, die von einem Schäfer aus Menahan über die Brücke getrieben wurden. Niemand kam voran.
Padera braucht Hilfe mit dem Baby. Persephone bekommt ihr Baby!
»Wo ist dein Schild?«, fragte Grevius Tesh, während sie draußen standen und dabei waren, ihre Rüstungen anzulegen. Überall um sie herum waren Männer in Bewegung und machten sich marschbereit. Metallwaffen klirrten, Lederrüstungen knarzten.
»Brauch keinen.«
»Für die Übungskämpfe nimmst du einen.«
Tesh schlug seine beiden Kurzschwerter gegeneinander. »Schilde sind für die Defensive.«
Grevius legte Tesh freundschaftlich einen Arm um die Schultern und warf Edgar einen Blick zu, der wiederum Atkins angrinste und den Kopf schüttelte. »Hör mal, Junge, ich weiß, du denkst, du wärst der Gott des Krieges und so, aber wenn wir da draußen auf den Feind stoßen«, er machte eine ausholende Armbewegung in Richtung der Wiese, die sie gleich überqueren würden, »wird das nicht laufen wie in den Übungskämpfen.«
Grevius, Edgar und Atkins waren Veteranen der Schlacht von Grandford. Sie alle hatten sowohl den Kampf am Wolfskopf als auch die letzte Schlacht überlebt, in der Alon Rhist gefallen war. Atkins war ein bärtiger Rotschopf aus Warric, Edgar war Harkons Schild gewesen, bis der Stammesführer gestorben war, doch Grevius war der Berühmteste der drei. Er hatte Ruhm und Ehre bei der Verteidigung der Stadttore erlangt – und noch dazu eine furchterregende Narbe im Gesicht. Der Legende nach hatte er eigenhändig zwei Fhrey-Krieger getötet, bevor er von einem Miralyith davongeschleudert worden war. Gemeinsam mit Brigham – dem jüngsten der Killian-Söhne – waren sie Mitglieder der Ersten Kohorte des Ersten Speers. Außerdem kämpften sie Seite an Seite mit der Ersten Abteilung, was bedeutete, dass sie zu den Besten der Besten gehörten und in jedem Kampf ganz vorne mit dabei sein würden.
Tesh hatte jeden Tag mit ihnen trainiert, und sie waren so etwas wie Onkel für ihn geworden – abgesehen von Brigham, der genauso alt war wie er. Während Tesh sich darauf freute, bald in einer richtigen Schlacht kämpfen zu können, machte Brigham allerdings keinen besonders zuversichtlichen Eindruck. Der Killian-Junge war der letzte männliche Überlebende seiner Familie und sah so aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
»Da draußen ist kein Feind«, versicherte ihnen Eres, der gerade an ihnen vorbeiging, um seine Truppen zu inspizieren. »Wir machen heute Morgen bloß einen kleinen Spaziergang.«
»Du hast sicher recht«, antwortete Tesh mit einem fröhlichen Lächeln und wandte sich wieder an Grevius, sobald Eres außer Hörweite war: »Was allerdings schade ist, denn du hast auch recht – nämlich damit, dass es nicht wie bei den Übungskämpfen sein wird. Wenn ein paar Elben auftauchen würden, könnte ich endlich welche töten.«
Grevius sah zunächst verwirrt aus, dann lachte er leise und tauschte erneut einen Blick mit Edgar und Atkins. »Wenn wir den Fhrey das nächste Mal auf dem Schlachtfeld begegnen, wird der Bursche entweder in den ersten paar Sekunden sterben oder zu einer Legende werden.«
Tesh hatte seinen Brustharnisch fertig angelegt. Sein Blick fiel auf die Wagen, die sich in der Nähe der östlichen Zelte formierten. »Was soll denn mit denen passieren?« Er nickte in die Richtung.
»Sieht aus, als würde Lord Nyphron sie ausprobieren wollen«, sagte Atkins.
»Wofür? Um die Verwundeten abzutransportieren?«
Grevis zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht. Dafür sehen sie aber ein bisschen klein aus.«
»Na, du bist ja mal ein Optimist!« Atkins schüttelte den Kopf.
»Ich sehe nicht, wofür sie sonst taugen sollten«, sagte Tesh.
»Für irgendwas müssen sie ja gut sein«, fügte Brigham hinzu. »Er hat sicher nicht umsonst so viele machen lassen.«
In diesem Moment erklang ein Horn, und die Männer setzten sich gemeinsam mit allen anderen in Bewegung, um durch die Zeltreihen zu der schwarzen Flagge zu gelangen, die in diesem Moment gehisst wurde. Tesh war froh, dass sie nun endlich das Hochspeertal verlassen würden, wo Generationen von Dureyanern und Gula sich auf Geheiß der Fhrey bekriegt hatten und gestorben waren. Mit dem Beginn der neuen Kriegssaison hoffte er, eine ganz andere Art von Blut zu vergießen. Dass sie immer noch hauptsächlich von Galantianern angeführt wurden, war nicht nur frustrierend, sondern im Augenblick auch so ziemlich das Einzige, was Teshs gute Laune trübte.
Persephone hatte Nyphron im letzten Sommer geheiratet. Es war eine schreckliche Zeremonie gewesen, die die menschliche Rasse einmal mehr zur Knechtschaft verurteilte, obwohl sie gerade erst begonnen hatten, den Geschmack der Freiheit zu genießen. Nyphron war weiterhin der Anführer ihrer Streitkräfte und hatte jedem seiner Galantianer den Befehl über eine Kohorte übergeben. Teshs Befehlshaber war Eres, und wie alle Fhrey erledigte er seine Arbeit von einem sicheren Ort aus, weit weg vom eigentlichen Geschehen.
Sie formierten sich am Nordufer in perfekten Reihen, wie sie es geübt hatten. Tesh hatte den Sinn dahinter nie verstanden. Ein Kampf war wie ein chaotischer Tanz, bei dieser Feier des Todes war kein Platz für ordentliche Reihen. Doch er würde die Regeln befolgen, wenn es bedeutete, dass er dann Elben töten konnte.
Er nahm seinen Platz in der ersten Reihe zwischen Grevius und Edgar ein. Grevius kam die Ehre zuteil, genau in der Mitte zu stehen, da Eres der Meinung war, Erfahrung sei wichtiger als Begabung. Teshs Talent in Übungskämpfen war allgemein bekannt, aber niemand wusste, wie gut er sich in einem richtigen
Gefecht schlagen würde. Blut macht einen großen Unterschied. Besonders wenn deines vergossen werden soll
, war ein weitverbreitetes Sprichwort.
»Wir werden sehen, wie sich der Welpe schlägt, wenn erst einmal Blut vergossen wird«, hatte Eres gesagt, der fälschlicherweise davon ausging, dass Tesh noch nie getötet hatte.
Der Großteil der überlebenden Bürger Alon Rhists, die meisten davon Fhrey, waren nach Merredydd gegangen. Die wenigen Rhunes, die nicht in der Armee dienten oder militärische Unterstützung leisteten, waren in ihre Dahls in Rhen zurückgekehrt. Die im Hochspeertal Zurückgebliebenen hingegen waren Soldaten, Heiler, Schmiede, Jäger oder Köche. Sie waren eine Gemeinschaft von Kämpfern. Und nun bereitete sich das ganze Lager darauf vor, nach Norden zu ziehen. Ausnahmslos alle waren damit beschäftigt, zu packen, aber einige hatten ihre Arbeit unterbrochen, um die Armee losmarschieren zu sehen. Eres ließ seine Soldaten in Marschrichtung schauen, sodass Tesh nicht nach Brin Ausschau halten konnte. Er wusste aber, dass sie zusah. Sie würde versuchen, ihn unter den Tausenden Soldaten in der hellen Morgensonne auszumachen.
»Vorwärts!«, brüllte Eres, und die Reihen setzten sich gleichzeitig in Bewegung.
Sie marschierten auf die Ebene hinaus. Zu ihrer Rechten ragte der Berg Mador auf, auf dessen schneebedeckter Spitze unzählige Flüsse entsprangen und dessen symmetrische Form verriet, dass er keinen natürlich Ursprung hatte. Der Berg war durch Magie entstanden – ein Zauber, der Tausende Zwerge getötet hatte. Der Mador war wunderschön, aber gleichzeitig auch der größte und berühmteste Grabstein der Welt – ein der Erhabenheit des Krieges gewidmetes Denkmal.
Zu ihrer Linken lag der Drache, der sie bei der Schlacht von Grandford gerettet hatte. Seit fast einem Jahr ruhte er unbewegt an derselben Stelle. Gras war um ihn herum gewachsen, als wäre er ein verlassenes Haus. Manche glaubten, er wäre tot. Man hatte Tesh erzählt, dass Raithe, sein Stammesführer und Mentor, sich geopfert hatte, um das Biest zu erschaffen. Raithe war wie ein zweiter Vater für Tesh gewesen und hatte ihm beigebracht, dass Elben am besten zu töten waren, wenn man lernte, wie sie kämpften, und dieses Wissen gegen sie verwendete. Kurz vor seinem Tod hatte Raithe Tesh das Versprechen abgenommen, zu heiraten und eine Familie zu gründen, statt sein Leben dem Krieg zu widmen. Tesh hatte fest vor, dieses Versprechen einzuhalten, aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen. Vorher hatte er noch eine andere Pflicht zu erfüllen. Er musste den Schwur halten, den er seinem wirklichen Vater, seiner Mutter und dem ganzen Clan gegeben hatte, nachdem sie alle von den Fhrey abgeschlachtet worden waren.
»Gutes Wetter für ein Kämpfchen, nicht wahr?«, fragte Atkins, der vier Männer weiter stand.
»Wird später heiß werden«, antwortete Edgar. »Wenn die Sonne erst mal höher steht, wird’s in unseren Rüstungen wie in einem Backofen.«
»Dann hoffe ich, dass sie die Bierfässer schnell aufstellen. Alle werden durstig sein.«
Tesh war geneigt, seinem Kameraden zuzustimmen, was das schöne Wetter anging. Selbst wenn es heute nicht zum Kampf kommen sollte, war es ein schöner Spaziergang, mit blauem Himmel über eine blumenübersäte Wiese. Das Einzige, was etwas lästig war, waren die matschigen Stellen, an denen der geschmolzene Schnee noch nicht getrocknet war. Sobald sie sich dem Harwald näherten, würde er nach einem guten Platz für ein Picknick mit Brin Ausschau halten. Irgendwo, wo es ebenerdig und trocken war.
Vor ihnen bewegte sich etwas im hohen, vom Wind bewegten Gras.
Ein Vogel? Vielleicht eine Wachtel?
Tesh hörte aufgeregte Rufe vom Ende der Reihe. Er warf einen Blick hinüber und entdeckte ein Loch in ihrer Formation. Kurz darauf waren es schon mehrere. Seine Waffenbrüder fielen einer nach dem anderen.
»Ausschwärmen!«, brüllte Eres.
Dies war keiner seiner gewöhnlichen Befehle. Der Sinn ihrer Reihen war es, eine undurchdringliche Wand zu schaffen. Sie waren nie dazu ausgebildet worden, auszuschwärmen
. Im Gegenteil hatte man ihnen immer wieder eingeschärft, dass es alles versauen würde, wenn ihre Formation auseinanderbrach.
Sie taten es trotzdem, mit erwartbar mäßigem Erfolg, da sie es zuvor noch nie geübt hatten. Tesh und Edgar liefen ineinander, und ihre Brustharnische klirrten. Sie lachten und rannten in entgegengesetzte Richtungen davon. Tesh schaffte es nur wenige Schritte weit, bis er ein Pfeifen hörte und einen Windhauch spürte. Zunächst dachte er, dass der Wind vielleicht auffrischte, doch dann erkannte er das Geräusch und warf sich hinter einem Felsen zu Boden.
Nur einen Augenblick später hörte er lautes Prasseln, das sich wie Regen anhörte. Männer schrien, während Pfeile vom Himmel regneten.
»Pfeile? Woher haben die Fhrey denn Pfeile?«, brüllte Grevius. Er hatte hinter demselben Felsen Deckung gesucht wie Tesh. Die beiden zogen die Köpfe ein und pressten die Schultern gegen den Stein.
Inzwischen befand sich die gesamte Kohorte im Chaos. Alle rannten mitten auf dem Feld ziellos umher, zwei Dutzend Männer lagen tot am Boden, immer noch in ihren ursprünglichen Reihen.
Eine zweite Pfeilsalve fiel vom Himmel und tötete oder verletzte ein Dutzend mehr. Einer traf zischend nur eine Handbreit neben Teshs Fuß auf. Dann endete der Beschuss abrupt. Nun begann das Zielschießen. Einzelne Bogenschützen mähten einen Mann nach dem anderen nieder, die noch umherrannten und versuchten, sich im hohen Gras zu verstecken.
»Die meisten sind da oben«, sagte Grevius und zeigte auf einen Hügel in der Nähe. »Siehst du sie?«
»Und da drüben«, rief Tesh, der die blauen und goldenen Rüstungen der Elben auf einer anderen Erhöhung ausgemacht hatte. Er sah, wie sie sich aufrichteten, schossen und wieder verschwanden.
Männer schrien unaufhörlich. Die brüllenden Verletzten wurden erneut getroffen, um sie zum Schweigen zu bringen. Als Tesh einen Blick wagte, prallte ein Pfeil direkt neben seinem Gesicht vom Stein ab.
»Tet!«, fluchte er und zuckte zurück.
»Bleib unten. Sie können uns hier nicht treffen«, versicherte Grevius ihm.
»Noch nicht«, sagte Tesh. Er beobachtete zwei Elben, die geduckt und mit großen Sätzen einen Bogen um sie machten. »Aber sie suchen sich gerade eine bessere Position.«
Grevious sah Tesh mit einer Mischung aus Wut und Angst an. »Wir sitzen verdammt noch mal fest. Nichts zu machen.«
»Ich bin noch nicht mal nahe genug rangekommen, um einen von ihnen anzugreifen«, knurrte Tesh. »Aber das werde ich jetzt nachholen!«
»Sei nicht dumm. Die mähen dich in Sekunden nieder. Du hast ja noch nicht mal einen Schild, und mein kleines Ding ist nicht genug, um Pfeile abzuwehren.«
Da hörten sie den Donner.
»Na toll.« Grevius schüttelte den Kopf. »Was kommt jetzt noch?«
Tesh sah zum Himmel hinauf, doch der blieb klar, und es zeigten sich keine magischen Gewitterwolken. »Miralyith?«
Grevius schüttelte den Kopf. »Dieser Donner klingt anders.«
Das Geräusch kam nicht aus dem Himmel, sondern von ihrem Lager. »Pferde!«
»Es sind die kleinen Wagen«, bestätigte Grevius. »Sie …« Er beendete seinen Satz nie. Ein Pfeil drang durch seine Kehle, und die Metallspitze prallte klirrend gegen den Stein, als sie an der anderen Seite wieder herauskam.
»Schneller!«, brüllte Moya, als Gifford die Zügel schnalzen ließ und das Pferd über die offene Fläche jagte.
Die kleinen Wagen mit den großen Rädern rumpelten über das Flachland. Moya hob ihren Bogen. Die anderen Karren rasten hinter ihr in den Kampf. Sie führte sie an, schoss voran wie die Spitze eines Speers. Niemand hatte ihr den Befehl dazu gegeben, sie folgte keinem Plan. Die Karren hatten bereitgestanden und waren sogar schon bemannt gewesen, da sie etwas hatten ausprobieren wollen. Niemand hatte damit gerechnet, an diesem Tag den Feind zu sehen, geschweige denn auf Widerstand zu stoßen. Der Plan war gewesen, dass Moya und ein paar andere hinausfahren und prüfen sollten, ob die Pferde, ohne zu scheuen, an den Soldaten vorbeigehen würden. Doch das war gewesen, bevor die Fhrey aufgetaucht waren. Bevor die Pfeile herabzuregnen begannen und die Erste Kohorte vernichtend geschlagen worden war.
Als Moya ihre abgeschlachteten Kameraden fallen sah und ihre Schreie hörte, hatte sie gerufen: »Los! Sofort!«
Und der ehemalige Töpfer und neu ernannte Kriegsheld Gifford hatte die Bremse gelöst und das Pferd so schnell vorangetrieben, dass Moya beinahe hinausgefallen wäre.
Die anderen sahen sie losfahren und glaubten wohl, dass die grüne Angriffsflagge gehisst worden war, denn kurz darauf befanden sich alle Karren auf dem Feld. Der Lärm der donnernden Hufe war erstaunlich.
»Fahr nicht über die Leichen!«, schrie Moya Gifford an.
»Ich ve-suche es! Ist nicht leicht zu lenken. Wi- fahwen echt schnell!«
Gifford hatte recht. Der Boden unter ihnen war nur noch verschwommen auszumachen, und selbst kleine Unebenheiten ließen den Wagen hüpfen und schlingern, sodass Moyas Zähne klapperten.
»Oh-oh!«, rief Gifford, als eine weitere Wolke Pfeile in die Luft stob. Wie ein grauer Regenschleier stiegen sie in den Himmel und beschrieben einen perfekten Bogen. Es war eindeutig, auf wen der Feind zielte. Der Feind nahm nun nicht mehr die Krieger ins Visier, sondern die Wagen.
Moya versteifte sich und wartete auf den Aufprall, doch als die Pfeile landeten, trafen sie mehrere Meter hinter ihnen auf den Boden. Gifford grinste Moya an, und sie grinste zurück.
»Schneller!«, rief sie. »Fahr sie um.«
Gifford zog an einem Lederriemen, und das Pferd wandte sich scharf nach rechts. Der Wagen schwankte und kam einem Felsen gefährlich nahe.
»Heilige Mari, Gifford, lass den Elben wenigstens eine Chance, uns umzubringen, bevor du es tust!«
»Entschuldige. Es ist, als ob ich eine Lawine lenke«, erklärte er. Endlich ein Satz ohne rrr
, den seine verwachsenen Lippen korrekt aussprechen konnten.
»Da sind sie!«, brüllte Moya gegen den Wind an, als sie die blau-goldenen Uniformen im hohen Gras auf dem Hügel direkt vor ihnen entdeckte. Sie hob ihren Bogen im selben Moment, in dem drei Fhrey ihre Pfeile abschossen. Doch sie zielten nicht auf Moya oder Gifford, sondern auf das Pferd.
Das Tier brach zusammen, und der Wagen überschlug sich, sodass seine Passagiere durch die Luft geschleudert wurden. Doch da sie nicht zum Fliegen gemacht waren, flogen Moya und Gifford nicht weit. Sie prallten auf dem Boden auf und überschlugen sich, bis sie nicht weit vor den Fhrey-Schützen zum Liegen kamen.
Benommen, durchgeschüttelt und an mehreren Stellen geprellt, erkannte Moya, dass sie Audrey verloren hatte. Ihr Bogen lag mehre Meter von ihr entfernt im Gras, und ihre Pfeile waren überall verstreut.
Sie hörte das Knarren der Fhrey-Bögen, als sie gespannt wurden, und das Klappern von Giffords Rüstung, als er sich nach vorn rollte und seinen Rücken gegen ihren drückte, um ihren Körper mit seinem zu schützen. Moya zuckte zusammen, als sich die Pfeile mit einem scharfen Geräusch von den Sehnen lösten. Ob Gifford über ihr lag oder nicht, sie würde sterben, da war sie sich sicher. Doch stattdessen hörte sie das Klirren der Pfeilspitzen auf Metall, als die Pfeile harmlos von Giffords Rüstung abprallten.
»Danke, Woan«, flüsterte Gifford.
»Gifford, Vorsicht!«, schrie Moya, als die Fhrey ihre Bögen fallen ließen und stattdessen zum Frontalangriff übergingen.
Stolpernd rappelte sie sich auf und hastete in Audreys Richtung, doch sie wusste, dass sie ihren Bogen niemals rechtzeitig erreichen würde.
Verdammt!
Brin hüpfte auf und ab, um einen Blick über die zähe Masse von Reisenden zu erhaschen, die die Brücke verstopften. Sie saß fest. Ein einziges Mal braucht Padera mich wirklich und …
»Ach, vergiss es doch«, sagte sie laut, schüttelte entnervt den Kopf und kämpfte sich seitlich durch die Menge bis zum Rand der Brücke vor. Unter ihr war der Fluss nur ein paar Fuß tief, und die Strömung sah nicht allzu stark aus. Brins Blick folgte dem Lauf des Flusses bis zu seiner Quelle – dem schneebedeckten Berg Mador.
Es wird sehr kalt sein.
Sie biss die Zähne zusammen und sprang.
Als Brin ins Wasser platschte, schnappten einige Leute auf der Brücke erschrocken nach Luft, und eine Frau rief: »Ist alles in Ordnung?«
Brin brauchte einen Moment, bevor sie antworten konnte, denn sie hatte recht gehabt, was die Temperatur des Wassers anging. Ein paar Sekunden lang raubte die Kälte ihr den Atem. Aber sie hatte auch recht behalten, was die Tiefe und die Strömung anging: Das Wasser reichte ihr nur bis zur Hüfte, und es gelang ihr, die Stellung zu halten, indem sie ihre Füße gegen den kiesigen Grund stemmte.
»Ja, alles in Ordnung«, log sie.
Das Wasser war bitterkalt, und als sie einen Fuß hob, um einen Schritt zu machen, drückte die Strömung sie sofort wieder zurück. Brin beugte sich vor und benutzte ihre Hände wie Paddel, um das Wasser fortzudrücken und sich vorwärtszuschieben. Ihr Oberkörper war noch trocken, aber das würde er nicht lange bleiben. Alles oder nichts.
Das wird wehtun,
dachte sie. Dann atmete sie einmal tief ein, mehr um sich auf den Kälteschock vorzubereiten, als um Luft zu holen, und tauchte ihren ganzen Körper ins Wasser. Sie machte Schwimmbewegungen mit den Armen und drückte sich mit den Füßen vom Flussbett ab, sodass sie halb schwamm und halb über den Kiesgrund lief. Das Wasser wurde allerdings rasch tiefer, und irgendwann schwamm sie nur noch. So wurde sie von der Strömung den Fluss hinuntergetragen.
Bis auf die Haut durchnässt, zitternd und erschöpft erreichte Brin schließlich das Ufer und krabbelte auf allen vieren an Land. Doch das hielt sie nicht auf. Schon sprang sie auf und rannte los. Durch den dadurch entstehenden Wind wurde ihr im ersten Moment noch kälter, doch das Rennen wärmte sie auf.
Es war nicht schwer, Persephone am Nordufer zu finden. Ihr Zelt war das größte auf dieser Flussseite. Brin betrat das Zelt, in dem Persephone, in eine mit Grasflecken übersäte Decke gehüllt, auf dem Boden lag. Die Keenigin war schweißgebadet. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und atmete durch zusammengebissene Zähne ein und aus. Der Fhrey-Heiler, der sich auch nach dem Rauhangriff um sie gekümmert hatte, schob gerade seine Ärmel hoch, als ob er sich darauf vorbereitete, Geschirr abzuwaschen. Justine, eine hübsche junge Waise aus Menahan, stand etwas abseits der Szene. Sie war die Braut gewesen, die Colin Hochlands Mutter heimlich für ihren Sohn ausgesucht hatte, bevor alle Hochlandsöhne in der Schlacht von Grandford umgekommen waren.
»Da bist du ja!« Padera packte Brin am Ellbogen. »Wo warst du denn? Geh Roan holen und sag ihr, sie soll ihre Tasche mitbringen. Dann hol einen Eimer Wasser. Warm, aber nicht heiß. Und sieh zu, dass du ein paar saubere Tücher auftreiben kannst.«
»Du hast mich nur hergerufen, um Roan holen zu gehen?«, fragte Brin verblüfft. »Warum hast du nicht einfach …«
»Geh schon. Heute noch!«
Persephone schrie auf, und Brin raste durch die Zeltöffnung wieder ins Sonnenlicht hinaus.
Alle waren auf den Beinen und rannten aufgeregt umher. Sie hörte laute Rufe. Brin nahm an, dass der Umzug der Grund für die Aufregung war, doch als sie Roan fand, stand diese auf einem aus gestapelten Kisten gebauten Turm und sah mit schreckgeweiteten Augen nach Norden.
»Roan! Roan!«, rief sie. »Persephone braucht dich! Sie bekommt ihr Baby!«
Roan warf einen Blick auf Brin und wandte sich dann wieder der Wiese zu, als ob sie hin- und hergerissen wäre.
»Roan, beeil dich und bring deine Tasche mit!«
Nachdem Roan genickt hatte, sodass Brin sicher sein konnte, dass sie sie verstanden hatte, rannte Brin weiter, auf der Suche nach Wasser.
Ein paar Töpfe hingen noch über den wenigen übrigen Kochfeuern. Sie schnappte sich den, der ihr am nächsten war.
»Was machst du denn da?«, beschwerte sich ein Gula-Mann, als sie seinen dampfenden Topf stahl.
»Ich beschlagnahme den hier auf Befehl der Keenigin«, sagte sie. Das war schon ihre zweite Lüge an diesem Tag. Sie schnappte sich auch einen Eimer und füllte ihn mit Flusswasser. Dann mischte sie den Inhalt aus beiden Gefäßen, bis das Wasser warm und nicht zu heiß war, und stahl ein paar Stofffetzen aus einem Korb, von denen sie annahm, dass es sich um Verbände für die Verwundeten handelte.
Es ist noch nicht mal Mittag, und ich bin schon zu einer Lügnerin und Diebin geworden.
Als sie zum Zelt zurückkam, hörte sie Padera rufen: »Pressen!«
Als Brin eintrat, nahm ihr die alte Frau sofort die Verbände und den Eimer aus der Hand. »Hol eine Decke – eine saubere.«
»Wo soll ich denn …«
»Mach schon!«
Aber Brin konnte keine finden. Ihre eigene Decke befand sich auf der anderen Flussseite. Frustriert hielt sie inne, um nachzudenken.
Da hörte sie in der Ferne laute Männerschreie. Und als sie nach Norden schaute, sah Brin, dass das Gras auf der Wiese platt getrampelt worden war. Eine breite Schneise markierte den Weg, den die Armee genommen hatte. Brin konnte sie noch in der Ferne sehen; ihre Waffen funkelten in der Sonne. Sie konnten kaum eine halbe Meile weit gekommen sein.
Sie kämpfen!
Die strengen Reihen waren aufgebrochen, die Formation vergessen. Das Gras war mit reglosen Körpern übersät.
Tesh!
Tesh war überrascht, den Wagen umkippen zu sehen. Schockiert verfolgte er, wie Gifford und Moya durch die Luft flogen und hart auf dem Gras aufkamen. Sie überschlugen sich und grunzten vor Schmerz, schienen aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Dann feuerten die Bogenschützen ihre Pfeile ab, doch nichts geschah.
Als Tesh sah, wie die Fhrey ihre Bögen fallen ließen und die Schwerter zogen, warf er einen Blick zum Himmel und flüsterte: »Danke, Mari!«
Ohne zu zögern, zog er beide Schwerter und sprintete hinter dem Felsen hervor. Er war nur wenige Schritte entfernt, doch die Elben waren verdammt schnell, und sie näherten sich Gifford.
»Egat, eyn mer Tetlin, brideeth!«
, brüllte Tesh, so laut er konnte. Er wusste nicht wirklich, was das bedeutete, aber er war sich sicher, dass es eine Beleidigung war. Die Fhrey jedenfalls verstanden ihn offenbar, denn sie sahen überrascht auf und schenkten Tesh damit die zusätzlichen Sekunden, die er brauchte, um sie zu erreichen.
Er führte den ersten Streich mit links, ein schwacher Rückhandschlag. Das war eine von Sebeks Strategien gewesen, wenn er mit Donner und Blitz gekämpft hatte. Die erste Klinge wurde pariert, die zweite tötete. Im Gegensatz zu Eisen waren Elbenkörper weich.
Als würde man Käse schneiden.
Der Gedanke brachte ihn unwillkürlich zum Grinsen.
Bevor der zweite Elbenkrieger den Angriff sah, wahrscheinlich sogar bevor er überhaupt wusste, dass Tesh angreifen würde, fiel Tesh auf ein Knie, duckte sich unter dem Elbenschwert hindurch und rammte seine Klinge nach oben unter die mehrschichtige Rüstung seines Gegners. Das Schwert schlitzte dem Elben den Bauch auf. Noch während er fiel, kam ein weiterer heran, um Teshs drittes Opfer zu werden. Tesh stieß sich fest vom Boden ab und sprang, um dem tiefen Schwertstreich zu entgehen, drehte sich in der Luft, ließ sein Schwert niederfahren und köpfte den Elben mit einem Streich.
Drei! Das ist einer mehr als Grevius!
Doch es gab noch mehr, und freundlicherweise kamen sie einer nach dem anderen, um ihn der Reihe nach anzugreifen. So blieben ihm jedes Mal, nachdem er einen niedergemäht hatte, ganze fünf Herzschläge, bevor der nächste kam. Tesh brauchte nicht mehr als drei Herzschläge, um sich zu erholen. Diese Elben waren keine Galantianer. Nicht mal Instarya. Die Fhrey, die ihn angriffen, schienen weniger gut am Schwert ausgebildet zu sein als selbst die Männer, die für die Eimerkette im Brandfall zuständig waren. Sie besaßen die Schnelligkeit und Wendigkeit der Fhrey, aber ihnen fehlte alles andere. Und als mehr und mehr Leichen den Boden bedeckten, fraß ihre wachsende Angst selbst diese Vorteile auf.
Teshs Arme, Hände und Brust waren blutüberströmt, und er wurde gerade erst warm. Mit der Hitze der Sonne im Nacken und dem Geruch von Blut in der Nase fühlte er sich gut. Sogar besser als gut – er fühlte sich großartig.
Und dann hörte es auf. Der Ansturm der Elben versiegte, was Tesh enorm frustrierte. Er hatte doch gerade so einen guten Rhythmus gefunden. Er wollte nicht, dass es aufhörte, doch der Feind rückte nicht weiter vor. Allerdings liefen die Elben auch nicht davon, was merkwürdig war. Sie schienen auf etwas zu warten.
»Tesh!«, rief Gifford.
Überrascht, dass der verkrüppelte Töpfer noch am Leben war, drehte Tesh sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein im hohen Gras verborgener Fhrey einen Pfeil in seine Richtung abschoss.
Moya erreichte ihren Bogen und riss Audrey zusammen mit ein paar Grashalmen in die Höhe. Die Bogensehne war noch intakt, sie konnte also weiterkämpfen, wenn sie bloß …
Nicht weit entfernt ragte ein Pfeil aus der Erde. Es war keiner ihrer eigenen, sondern einer der Fhrey. Während einer Dürre ist jede Pfütze recht
, dachte Moya, als sie ihn aus der Erde riss und auf den Bogen legte.
Dann wirbelte sie herum und erkannte Tesh, der in einem Kreis aus toten Fhrey stand. Die anderen Fhrey zogen sich gerade zurück, während ein einzelner Schütze auf ihn zielte. Moya spannte augenblicklich Audreys Sehne, aber sie wusste, dass sie zu spät kam. Sie konnte den Fhrey erschießen, doch sein Pfeil würde Tesh trotzdem töten.
Sie dachte nicht nach, traf die Entscheidung nicht bewusst. Wie bei den meisten Dingen, die Moya in ihrem Leben passierten, reagierte sie bloß. Wenn sie darüber nachgedacht hätte, hätte sie sich wahrscheinlich anders entschieden, doch in diesem Sekundenbruchteil, als Gedanken zu langsam waren, tat Moya das Einzige, was sie tun konnte. Sie hatte gar keine Zeit zu erkennen, dass es unmöglich war.
Beide Bögen entließen ihre Pfeile im selben Moment. Der Fhrey zielte auf Tesh und hätte ihn wahrscheinlich in die Öffnung der Rüstung direkt über seinem Schlüsselbein getroffen. Doch der Pfeil erreichte nie sein Ziel. Auf halbem Weg zwischen Bogensehne und Teshs Hals kollidierte er mit Moyas Pfeil. Ein Krachen wie von Eis im Frühling hallte über das Schlachtfeld.
Tesh und der Fhrey starrten Moya verdutzt an.
Als der Fhrey nach einem weiteren Pfeil griff, sprintete Tesh auf ihn zu. Im selben Moment entdeckte Moya einige ihrer Pfeile ein paar Schritte entfernt und sprang auf.
Doch der Wettlauf wurde von jemandem gewonnen, mit dem niemand gerechnet hatte. Gifford, der immer noch auf dem Boden neben dem Fhrey-Schützen lag, richtete sich auf und schwang sein funkelndes Schwert. Zwar verfehlte er seinen Gegner. Aber er zerstörte dessen Bogen.
Nur einen Augenblick später wurde der Fhrey von Teshs Schwertstreich und Moyas Pfeil getötet.
Die verbleibenden Fhrey flüchteten.
Moya hätte gern geglaubt, dass sie sie zu dritt in die Flucht geschlagen hatten. Doch hinter ihr donnerten nun auch die anderen Wagen heran, gefolgt von den neu formierten Soldaten – und noch etwas anderem.
Der Drache hatte sich erhoben.
Der Gilarabrywn öffnete seine mächtigen Schwingen und warf seinen Schatten über die Hälfte des Schlachtfelds. Schon wenn das Biest zusammengerollt auf seinem Hügel lag, war es in seiner schieren Größe beängstigend, aber nun, mit den ausgebreiteten Flügeln, war es geradezu gigantisch und furchterregend. Selbst Moya wurde nervös, während die Fhrey geradezu in Panik verfielen.
Moya erwartete, dass der Drache sich im nächsten Moment in die Luft erheben, Feuer speien und sie alle wahllos töten würde. Stattdessen musterte das Monster lediglich das Chaos.
»Gifford! Ist alles in Ordnung?« Moya eilte an seine Seite.
Er nahm seinen Helm ab, um sie anzusehen. »Ich glaube, ich hab einen blauen Fleck am Knie.«
»Einen blauen Fleck? Machst du Witze?«
»Nein.« Er klopfte auf sein von der Rüstung geschütztes Knie und zuckte zusammen. »Ich glaub, ich bin dawauf gelandet, als wi- umgefallen sind.«
Die Fhrey zogen sich zurück. Die Schlacht war vorbei, und beinahe im gleichen Moment entdeckte Brin ein ordentlich zusammengelegtes Stück blauen Stoffs. Sie griff danach und rannte zurück. Aus Persephones Zelt drang ihr ein herzzerreißendes Weinen entgegen – Babygeschrei.
Als Brin ins Zelt trat, sah sie nur das Neugeborene. Es war kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte. Ein Junge, ein winziger, rosiger Junge. Padera wusch ihn gerade in einem Becken. Roan nahm Brins Stoff und wickelte den Säugling darin ein. Dann übergab sie ihn Persephone, die sich erschöpft gegen einige Getreidesäcke lehnte. Doch die frischgebackene Mutter lächelte, und ihre Augen leuchteten, als Roan ihr das Kind auf ihre Brust legte.
»Ist das nicht ein galantianischer Umhang?«, fragte Roan.
Da erst erkannte Brin, wie der blaue Stoff glänzte. Sie zuckte die Achseln.
Die Keenigin betrachtete das winzige Bündel mit dem haarlosen Kopf, und für einen kurzen Moment sah sie traurig aus.
»Liebe Mari«, flüsterte sie und drückte es an ihre Brust. »Gewähre mir diesen einen Wunsch: Lass meinen Sohn mich überdauern.«
Die Nacht wurde von unzähligen Dungfeuern erhellt.
So weit Tesh sehen konnte – was in der Dunkelheit nicht besonders weit war –, flackerten Lagerfeuer. Das Nordufer des Berns war fast ebenso karg wie das Südufer, sodass sie nur wenig Feuerholz für ihre Siegesfeier gefunden hatten. Doch die Soldaten machten das Beste aus dem, was sie hatten.
Aus den Trinksprüchen auf die Gefallenen war schnell eine ausgelassene Feier geworden, nachdem sich die Kunde über die Geburt von Persephones Baby herumgesprochen hatte. Nyphron hatte angeordnet, dass Bierfässer angestochen und Becher an alle verteilt werden sollten.
»Auf Grevius!«, rief Edgar und hob seinen eingedellten, tropfenden Becher. »Ein feiner Krieger und guter Freund.« Dies war Edgards fünfter Trinkspruch auf einen Mann, den man bis zur Schlacht von Grandford nicht gerade als beliebt bezeichnet hätte. Der Krieg hatte ihm Berühmtheit weit über seine Verdienste hinaus verliehen. Allerdings hatte er seine Auszeichnungen noch nicht einmal ein Jahr lang genießen können.
»Möge er seinen Weg auf dem Fluss nach Phyre finden«, sagte Trent vom Clan Nadak. »Und mögen die Tore nach Rel offen stehen und ihn willkommen heißen.«
»Pah!«, rief Atkins. »Grevius ist auf dem Weg nach Alysin!«
Diese Worte wurden von zustimmendem Grunzen begleitet. Selbst Pliny nickte überzeugt, obwohl er ein Dummkopf war, der keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen. Er wollte einfach nur als Teil der Gruppe akzeptiert werden.
Pliny vom Clan Melen, ein Gersten- und Haferbauer, hatte sich in den Monaten nach der Schlacht von Grandford dem Lager angeschlossen, als Nyphron alle wehrtauglichen Männer an die Front berufen hatte. Er und Trent flatterten seitdem unaufhörlich um Tesh herum und flehten ihn an, sie auszubilden.
An diesem Abend war Tesh zurückhaltend und ein wenig barsch. Er hatte überraschend schlechte Laune, wenn man bedachte, dass man ihn zu einem der Helden der Schlacht auf der Hochebene ernannt hatte. Ein Titel, den er sich mit Moya und Gifford teilte. Alle drei waren sie ausgezeichnet worden: Gifford für die Demonstration des tödlichen Potenzials der Pferdewagen, Moya für ihren spektakulären Schuss, der Tesh das Leben gerettet hatte, und Tesh für die beeindruckende Präsentation seiner Schwertkunst, die zweifellos bewiesen hatte, dass Rhunes es mit Fhrey aufnehmen konnten.
»Obwohl Grevius auch an einen Ort im Nachleben gehen könnte, der für Propheten bestimmt ist, falls es so etwas gibt«, warf Atkins ein. »Wie es scheint, hatte der Mann, der zwei Fhrey getötet hat, auch noch die Gabe der Voraussicht.« Er hob seinen Becher in Teshs Richtung. »Der arme Bastard hatte recht, was dich angeht, nicht wahr?«
Edgar stellte sich neben Atkins und legte ihm einen Arm um die Schultern. Beide Männer schwankten schon beträchtlich. »Um genau zu sein, hat er zwei Vorhersagen über Tesh gemacht, und beide haben sich erfüllt.«
»Ja, er ist schließlich nicht tot.« Atkins schlug Edgar auf den Rücken. »Also befinden wir uns wohl in Gesellschaft einer Legende, was, Jungs?«
»Erzähl uns noch mal, wie viele von den Bastarden du zur Strecke gebracht hast!«, rief Edgar Tesh zu.
Tesh stand etwas abseits der anderen, tiefer in den Fängen der Nacht. Auch er hielt einen Becher mit etwas, was wahrscheinlich Bier war, aber er hatte es nicht probiert. Er hatte den Becher bisher nur von einer Hand in die andere geschoben.
»Wie viele?«, hakte Edgar lauter nach.
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Keine Ahnung. Hab irgendwann zu zählen aufgehört.«
Daraufhin brachen Edgar und Atkins in Gelächter aus.
»Der Bursche erinnert sich nicht«, gluckste Edgar.
»Hat zu zählen aufgehört!« Atkins hielt sich den Bauch, seine Augen tränten.
»Ich versteh’s nicht«, sagte Brigham, dessen Blick zwischen Edgar, Atkins und Tesh hin und her zuckte. »Was ist daran so lustig?«
Brigham Killian, den Tesh im Übrigen wirklich gernhatte, hatte sich erst vor Kurzem ihrer kleinen Gruppe angeschlossen. Er war siebzehn, genau wie Tesh, und die älteren Männer machten sich oft über die beiden lustig. Tesh, der in Dureya aufgewachsen war, war Schlimmeres gewöhnt, doch Brigham kam aus der freundlicheren Welt vom Clan Rhen und verstand die spielerischen Neckereien meistens nicht.
Edgar ging zu ihm und legte Brigham gutmütig einen Arm um die Schultern. »Der Mann da drüben ist eine Legende, weil er in seiner allerersten Schlacht fünfzehn Fhrey abgeschlachtet hat – im Alleingang«, sagte er und lachte wieder.
»Das weiß ich«, antwortete Brigham. »Ich war dabei. Aber warum ist das so witzig?«
»Was du nicht kapierst, ist, dass Tesh sich nicht etwa deshalb weigert, uns die Zahl seiner Opfer zu nennen, weil er sich nicht erinnern kann oder weil er zu bescheiden ist. Nein, er kann einfach nicht so weit zählen.«
Edgar und Atkins brachen erneut in schallendes Gelächter aus, und diesmal stimmten fast alle anderen mit ein.
Es stimmte. Tesh weigerte sich, weiter als bis zwölf zu zählen. Seiner Meinung nach kamen danach keine echten Zahlen mehr, zumindest keine mit eigenem Namen. Danach kamen nur noch diese komischen Zehner
, die nur die bekannten Zahlen wiederholten: drei-zehn, vier-zehn, fünf-zehn. Und alle sprachen sie falsch aus, genau wie Edgar es gerade getan hatte. Anstatt fünf und zehn
zu sagen, nannten sie sie fünfzehn
. Wenn es nach Tesh ging, war dreizehn
die gefährlichste Zahl, da es die erste war, die aus der Reihe tanzte. Beinahe genauso schlimm waren die noch merkwürdigeren Paare wie die zweifachen und dreifachen Zehner, denen alle Spitznamen wie zwanzig
und dreißig
gaben. Das ganze System war ein lächerliches Chaos, das überhaupt nicht praktisch war. Niemand musste höher als zwölf zählen können. Alles, was danach kam, kürzte man besser als verdammt viel
ab. Tesh hätte diese Gedanken wohl auch geäußert, wenn er wie die anderen getrunken hätte, aber er hatte seinen Becher ja nicht angerührt.
»Was ist los mit dir? Warum trinkst du denn gar nichts?«
Tesh drehte sich um und entdeckte Brin, die neben ihm aufgetaucht war. Ihre Gesichtszüge waren weich im Feuerschein, und sie sah besorgt aus.
Tesh war kurz versucht, ihr seine Theorien über Zahlen, Spitznamen und die unnötigen Komplikationen zu erklären, die diese mit sich brachten. Aber das war es nicht, was sie wissen wollte.
Edgar und Atkins waren so erpicht darauf gewesen, Tesh als Grevius’ Nachfolger zu preisen, dass ihnen die ganze Zeit über nicht aufgefallen war, dass Teshs Becher sich nie leerte. Brin war gerade erst aufgetaucht, und doch hatte sie sofort bemerkt, was niemand anders erkannt hatte.
Sind alle Frauen so? Oder nur sie?
»He, Hüterin!«, rief Atkins ihr mit einem breiten, betrunkenen Grinsen zu. »Du musst in deine Geschichte aufnehmen, was der Junge heute vollbracht hat. Fünfzehn. Das ist doch was! Fünfzehn!
Dieser Rekord wird so schnell von niemandem gebrochen. Und der Bursche weiß nicht mal, was das bedeutet. Weißt du, was fünfzehn heißt, Hüterin?«
Brin starrte Atkin mit zusammengekniffenen Augen an, als hätte er den Verstand verloren.
»Komm.« Tesh nahm ihre Hand und führte sie vom Feuer fort, tiefer in die Nacht hinein.
»Was war das denn?«, fragte sie.
»Es ging um die Anzahl der Fhrey, die ich getötet habe.«
»Oh.« Brin nickte, als er sie zu einem Hügel führte.
»Ignorier sie einfach. Wie geht es dir denn? Ich hab gehört, dass du einen großen Tag hattest. Du warst dabei? Im Zelt der Keenigin?«
»Bei der Geburt?« Brin nickte und grinste von einem Ohr zum anderen. »Ein wunderschönes Baby. Sie hat ihn Nolyn genannt.«
Tesh dachte eine Weile darüber nach. »Komischer Name, Nolyn.« Er war vielleicht nicht gebildet, aber er hatte ein wenig Fhrey aufgeschnappt. »Lyn
bedeutet Land auf Fhrey, stimmt’s?«
Brin lächelte und nickte.
»Ziemlich beeindruckend für einen, der die Zahl fünfzehn nicht versteht, oder?« Tesh pikste sie in die Seite und brachte sie damit zum Kichern.
»Ja, ja, schon gut, du hast recht!« Sie schlug ihm auf die Finger. Als sie sicher war, dass er aufhören würde, atmete sie einmal tief ein. »Der Name ist eine Kombination aus Rhunisch und Fhrey. Persephone wollte etwas von beiden Kulturen – da der Kleine zu keiner der beiden so richtig gehört, wollte sie das in seinem Namen reflektieren.«
»Kein Land!« Tesh hatte das Rätsel gelöst.
»Ja.« Sie nickte.
»Hört sich nicht sehr vielversprechend an, oder? Von Geburt an von allem isoliert zu sein. Nirgendwohin zu gehören.«
»Er ist einzigartig«, antwortete sie. »Auf gewisse Weise sind wir das ja alle. Jeder muss seinen Platz finden.«
»Wie sieht er aus?«
»Hab ich doch schon gesagt. Er ist wunderschön.«
»Das meine ich nicht. Was ist mit seinen Augen, Ohren, Haaren?«
Brin seufzte. »Du hasst sie so sehr.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Seine Ohren sind rund, und er hat noch nicht viele Haare.«
»Und seine Augen? Sind sie blau?«
»Nein. Sie sind …« Sie zögerte.
»Was? Sie sind braun, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind grün.«
»Grün? Ich habe noch nie grüne Augen gesehen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hab ja gesagt, dass er einzigartig ist und wunderschön, und ich wünschte, du würdest die Fhrey nicht so sehr hassen.«
»Also hasst du sie nicht?«
»Um ganz ehrlich zu sein, nein. Ich hatte früher Angst vor ihnen, jetzt immer noch ein bisschen, schätze ich, aber nicht mehr so sehr.«
»Sie haben Tausende von uns auf dem Gewissen. Sie haben meinen gesamten Clan ausgelöscht und fast dasselbe mit Nadak gemacht. Brin, ich habe zugesehen, wie sie meine Mutter und meinen Vater, meine Onkel, Tanten, Freunde und Nachbarn ermordet haben.«
»Glaubst du, da bist du der Einzige? Ich habe meine Eltern verloren, als die Fhrey Dahl Rhen angegriffen haben. Und du hast gesehen, was mit Gelston passiert ist. Er ist mein Onkel.«
»Dann solltest du es verstehen. Wie kannst du sie nicht
hassen?«
»Wegen Arion, Nyphron und Anyval. Er ist der Heiler, der Persephone nach dem Rauhangriff gerettet und ihr heute bei Nolyns Geburt geholfen hat. Unser alter Stammesführer Konniger hat versucht, Persephone umzubringen, aber deswegen hasse ich noch lange nicht alle Männer oder Stammesführer.«
»Das ist nicht mal annähernd dasselbe.« Tesh runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mit ihr streiten. Er hatte heute genug gekämpft.
»Wenn du sie so sehr hasst, warum freust du dich dann nicht, dass du fünfzehn von ihnen getötet hast?«
Tesh seufzte und ließ sich im spröden Gras nieder.
Brin sah nun wieder besorgt aus. Sie kniete sich neben ihn.
»Ich weiß es nicht. Du hast recht. Ich sollte mich freuen, aber das tu ich nicht.« Er sah zurück zum Feuer, wo Edgar und Atkins laut jubelten. »Ich sollte da unten sein und mit ihnen lachen und trinken.« Er lehnte sich zurück, bettete den Kopf ins Gras und sah zu den Sternen auf, die ihr Funkeln über die Welt auswarfen, eins der wenigen schönen Dinge in Dureya und Gula. »Ich sollte mit dir tanzen. Ich sollte brüllen, dass Raithes Tod gerächt wurde. Ich sollte befriedigt sein, stolz und … glücklich.«
»Aber das bist du nicht?«
Tesh schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich leer. Noch leerer als vorher, und ich weiß nicht, warum.«
»Die da unten denken jedenfalls, dass du ein Held bist.« Sie nickte in Richtung der Männer am Feuer.
Tesh nickte. »Sie wollen, dass ich ihnen beibringe, wie es geht: Trent, Pliny, sogar Atkins und Edgar. Und Brigham. Er ist der Letzte der Killians, weißt du.«
Brin nickte. »Ich bin mit ihnen aufgewachsen. War verknallt in Brigham und seinen großen Bruder Hanson.«
»Echt jetzt?«
»Ja.« Sie legte sich neben ihn. »Aber das war, bevor ich dich kannte.«
Tesh zog sie an sich, streichelte ihren Nacken und fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. »Wenn ich heute an Grevius’ statt gestorben wäre, hättest du mich dann vermisst? Hättest du geweint?«
»Das kommt darauf an. Überlebt Brigham in deinem Szenario?« Sie grinste Tesh schelmisch an und drehte den Kopf, um so zu tun, als hielte sie am Feuer nach Brigham Ausschau.
»Du bist furchtbar, weißt du!«
Sie drehte sich wieder ihm zu. »Nein, bin ich nicht.« Sie küsste ihn sanft. »Und du bist auch gar nicht mal so übel.«
Tesh hätte sich in diesem Moment in sie verliebt, wenn er das nicht schon lange zuvor getan hätte.
»Du wirst mich doch heiraten, oder?«, fragte sie.
»Muss ich. Ich habe es Raithe versprochen, und ich werde dich heiraten, sobald der Krieg vorbei ist.«
»Dann hältst du besser Wort.« Sie schmiegte sich an ihn. »Du willst schließlich nicht, dass Raithe von den Toten zurückkehrt und dich in Gestalt einer Mane heimsucht.«
»Was ist das?«
»Ein lebender Toter, meist jemand, der sich weigert, nach Phyre zu gehen.« Sie bohrte einen Finger in seine Brust. »Sie kommen als Geister zurück, weil jemand, der ihnen im Leben nahestand, ihnen unrecht getan hat.«
»Aha. Dann solltest du dich aber lieber von Brigham Killian fernhalten, sonst werdet ihr beide von mir
heimgesucht, nachdem ich sterbe.«
Sie lächelte zu ihm auf. »Ich habe eine bessere Idee. Stirb nicht.«
»Werde ich nicht, wenn du es auch nicht tust.«
»Einverstanden.« Brin nickte. »Wir beide werden ewig leben.«
»Hört sich nach einem guten Plan an. Weißt du, dass ich dich liebe?«
»Ich habe da so ein Gerücht gehört«, sagte sie skeptisch. »War nicht sicher, ob ich es glauben soll oder nicht.«
Tesh zog sie noch fester an sich und küsste sie. Als er sie endlich Atem holen ließ, flüsterte sie: »Also stimmt das Gerücht doch.«