17
Malcolm hat es mir erzählt
Es wäre ein Leichtes für mich, diesen Teil auszulassen, vor allem weil ich gerade alle Hände voll damit zu tun habe, die aktuellen Ereignisse aufzuzeichnen. Ich könnte so tun, als hätte ich ihr von Anfang an geglaubt, aber das wäre eine Lüge. Und ich weiß jetzt noch besser als jemals zuvor, dass Lügen nicht nur hinterlistig, sondern vor allem gefährlich sind.
– Das Buch Brin
»Entschuldige die Verspätung«, rief Brin, als sie im Zickzack zwischen den Zeltseilen hindurchrannte wie eine Zehnjährige, die zu spät zum Abendessen kam.
Als wäre sie nie erwachsen geworden
, dachte Tressa fasziniert und genervt zugleich. Das Leben war nicht gerecht, aber irgendwie war Brin dem Gift entkommen, das die Erfahrung von Leid und Verlust mit sich brachte. Die kleinen Gemeinheiten, die die Unschuld eines Kindes vertrieben und es zu einem bitteren Erwachsenen heranwachsen ließen, hatten keine Wurzeln in dem Mädchen geschlagen. Tressa wusste allerdings, was Brin bereits alles durchgemacht hatte, was sie nur noch mehr verwirrte. Wie schafft sie es nur, immer so fröhlich zu sein?
Tressa konnte sich nicht erinnern, jemals so gewesen zu sein, so … sie wusste nicht, wie sie Brin am besten in einem Wort beschreiben konnte. Naiv
kam dem wohl am nächsten, aber das passte auch nicht ganz genau. Jung
war eine andere Alternative, aber Brin war kein Kind mehr. Sie war zweiundzwanzig. Im Frühling hatten sie ihren Geburtstag gefeiert, eins der wenigen Feste im Lager. Padera hatte einen Kuchen gebacken, und die Leute waren singend um ein Lagerfeuer getanzt. Tressa war nicht eingeladen gewesen. Sie hatte ihnen aus ihrem Versteck in den Schatten zugesehen und sich gefragt, wie der Kuchen wohl schmeckte.
In Brins Alter hatte Tressa bereits ihren ersten Ehemann zu Grabe getragen, den zweiten geheiratet und zwei Kinder verloren. Keins der beiden war älter als acht geworden – nicht acht Jahre, sondern acht Tage. Wenn sie mit ihnen gestorben wäre, hätte vielleicht jemand um sie getrauert, wie sie um Aria getrauert hatten, nachdem diese bei Giffords Geburt gestorben war. Dass ihre Kinder zu schwach gewesen waren, um zu überleben, zeichnete sie als schlechte Mutter aus. Im Alter von zweiundzwanzig waren Tressas Träume bereits wie Getreide brutal zermahlen und wie Spreu vom Wind fortgeweht worden. Sie hatte vergessen, wie man lächelte. Doch da war Brin, die lächelnd auf sie zurannte und dieses dämliche Buch an sich drückte, als hätte sie überhaupt keine Sorgen.
Brin fiel neben dem Regenfass auf die Knie, das zwischen dem großen Bratspieß und den Wäschetrögen stand. Hier trafen sie sich jeden Tag, damit die Hüterin Tressa das Lesen beibringen konnte. Es war kein besonders schöner Ort, aber hier waren sie niemandem im Weg.
Tressa hatte bisher erst wenige Lektionen hinter sich gebracht, und sie verstand immer noch nicht viel mehr als am Anfang. Das Konzept ergab Sinn: Ein Bild stand für einen Laut. Das Problem war, dass Tressa sich nicht vorstellen konnte, wie es irgendjemandem gelingen sollte, all die möglichen Lautpaare auswendig zu lernen. Je mehr sie büffelte, desto mehr wurde ihr klar, dass es hoffnungslos war. Es gab einfach zu viele. Für Brin war es vermutlich einfach, da sie das Gedächtnis einer Hüterin hatte und seit ihrer Kindheit auf diese Rolle vorbereitet worden war. Tressa hingegen fiel es ja schon schwer, sich zu erinnern, wann sie sprechen und wann sie lieber den Mund halten sollte. Nichtsdestotrotz genoss sie ihre Zeit mit Brin.
»Ich wurde aufgehalten«, sagte Brin keuchend. »Tesh ist zurück.«
»Dann überrascht es mich, dass du überhaupt gekommen bist.«
Brin runzelte die Stirn und legte den Stapel auf den Boden. »Ich bin nicht seinetwegen zu spät, und ich kann auch nicht bleiben. Ich bin nur gekommen, um dir ein paar Seiten zu geben, mit denen du vielleicht allein üben kannst. Ich muss wirklich wieder zurück.«
»Zurück wohin?«
»Ins Gemach der Keenigin
.« Brin schob die Seiten sorgfältig übereinander und legte einen Stein darauf, um sie vor dem Wind zu schützen. »Es ist etwas passiert, das ich aufzeichnen muss.«
»Was denn?«
Brin war schon wieder auf den Beinen. Sie sah frustriert aus. Tressa konnte sehen, dass sie mit sich rang. Sie wollte gehen, zögerte aber noch. Da erkannte Tressa, dass Brin nicht unhöflich sein wollte. Zu ihr
. Für Tressa war das, als würde sie einen doppelten Regenbogen sehen. Sie hatte davon gehört, aber solch ein Wunder noch nie mit eigenen Augen gesehen.
Wie macht sie das nur? Es ist, als ob sie nicht in derselben Welt lebte wie ich.
»Wir haben gerade erfahren, dass Suri von den Fhrey gefangen genommen wurde«, erklärte Brin nun rasch. »Es ist schrecklich! Sie haben Suri in den Turm eingeladen, um über den Frieden zu verhandeln, aber es war eine List. Wir müssen überlegen, was jetzt zu tun ist. Nyphron glaubt, dass sie Suri nach Estramnadon bringen, in die Hauptstadt der Elben. Die ist noch viel weiter weg als der Turm. Er denkt, dass die Fhrey sie zwingen werden, ihnen zu verraten, wie man Drachen erschafft. Sollte das stimmen, ist es nicht schwierig, eins und eins zusammenzuzählen. Persephone hat Justine geschickt, um Moya zu holen, deshalb bin ich nur kurz hergekommen, um dir die Seiten zu bringen. Moya wird nicht lange brauchen, also muss ich so schnell wie möglich wieder zurück.« Brin seufzte, schüttelte den Kopf und presste eine Hand auf den Mund, als ob sie sich übergeben müsste. »Tesh hat gesagt, dass sie Suri in einen Käfig gesperrt haben.«
»In einen Käfig?«, fragte Tressa.
»Ja, deshalb – Tressa, ist alles in Ordnung?«
»Wir müssen doch etwas tun können«, sagte Moya gerade im Inneren des Zelts, als Tressa sich näherte.
Tressa war noch nie im Zelt der Keenigin gewesen. Seit sie Persephone Reglans Ring gegeben hatte, hatte sie nicht mehr mit ihr gesprochen. Selbst damals hatte sie nicht viel mehr als »Hier« gesagt. Das bedeutete, dass die beiden das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, als Persephone die falsche Geschichte von Konnigers Tod erzählte. Sie hatte es aus Gutmütigkeit getan, was Tressa nicht verstand, da Konniger schließlich versucht hatte, Persephone zu töten. Alle wussten davon und glaubten, Tressa hätte mit ihm unter einer Decke gesteckt. Dies war der Grund, warum die ehemaligen Bewohner von Dahl Rhen ihr nicht gerade freundlich gesinnt waren. Sie war allerdings auch vorher nicht besonders beliebt gewesen.
Habet kauerte am Boden und kümmerte sich um das Feuer. Er schaute zu ihr auf.
»Was starrst du denn so?«, fuhr sie ihn an.
Er zuckte die Achseln und lächelte.
Der Schwachkopf war eine weitere Person, der es gelungen war, nicht an der elendigen Trostlosigkeit des Lebens zu zerbrechen. Genau wie Brin war der Idiot der Ewigen Flamme immun gegen alles Schlimme, was ihm widerfahren war. Dummheit hat eben auch ihre Vorteile.
Tressa hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sich anzukündigen und darum zu bitten, eingelassen zu werden. Doch das hätte Moya nur eine Gelegenheit gegeben, sie abzuweisen. Das konnte sie nicht zulassen. Dies war der erste Schritt und auch der leichteste. Wenn sie selbst das nicht schaffte, wie sollte ihr dann der Rest gelingen?
Tressa öffnete die Zeltplane und trat ein. Persephone saß auf einem Stuhl, der aus Alon Rhist kommen musste. Moya stand neben ihr. Brin, die zurück an die Seite der Keenigin geeilt war, während Tressa noch den Mut gesammelt hatte, sich ebenfalls auf den Weg zu machen, saß auf dem Boden. Die halb beschriebene Seite vor ihr zeigte, dass sie bereits mit den Aufzeichnungen begonnen hatte. Nyphron stand in der Mitte des Zelts. Alle starrten Tressa an.
»Hallo«, sagte sie und fühlte sich dumm. Sie hatte manchmal Albträume, in denen sie nackt ins Lager kam und alle sie anstarrten. Dies fühlte sich genauso an.
»Was willst du …«, begann Moya. Ihre Augen weiteten sich zuerst und verengten sich dann zu Schlitzen. Sie machte einen Schritt auf den Eingang zu.
Ich habe zwei Sekunden, bevor sie mich rausschmeißt
. »Ich weiß, wie wir Suri retten können«, verkündete Tressa.
Persephone hielt Moya am Handgelenk fest und zog sie zurück. »Was hast du gerade gesagt?«
»Ihr müsst den Fluss überqueren, nicht wahr? Ich weiß, wie.«
»Ach, wirklich?«, sagte Moya ungläubig. »Woher weißt du überhaupt von Suri?«
»Ich habe es ihr erzählt«, warf Brin ein. Sie sah ertappt aus, als ob sie eine Sünde begangen hätte.
Moya schalt die Hüterin nicht. Stattdessen funkelte sie Tressa an, als ob sie die unschuldige Brin verdorben hätte. »Du weißt zum Tet noch mal gar nichts. Verschwinde, Tressa!«
»Nein, warte«, sagte Persephone. »Ich möchte mir anhören, was sie zu sagen hat.«
»Also, ähm …«, begann Tressa, wohl wissend, wie verrückt sie klingen musste. »Es gibt eine Tür, die nach Es-tra-ma-dingsbums, also zur Hauptstadt der Fhrey, führt. Dahin bringen sie Suri doch, oder nicht?«
Persephone sah Brin an, die Moya ansah, die wiederum sagte: »Du bist sturzbetrunken, Tressa, nicht wahr? Wessen Flasche hast du diesmal gestohlen?«
Tressa ignorierte Moya. Sie würde sie niemals überzeugen können. Deshalb konzentrierte sie sich auf Persephone, die ihr zuhörte. »Die Tür ist mit einer Passage im Untergrund verbunden, deren Eingang in einem Sumpf nicht weit von hier liegt. Wenn wir dorthin gehen, können wir durch die Fhrey-Tür in ihre Stadt gelangen und Suri retten.«
Nyphron verdrehte die Augen. Alle drei Frauen starrten sie nun an, doch selbst Moya sah nicht mehr wütend aus. Was Tressa in ihren Gesichtern sah, war viel schlimmer als Wut. Es war Mitleid.
»Ich weiß, dass es sich verrückt anhört, aber ich habe es mir nicht ausgedacht. Ich habe es von Malcolm gehört. Er hat es mir erzählt.« Beim Klang ihrer zittrigen, elenden Stimme begann Tressa nun sogar an sich selbst zu zweifeln.
Persephone nickte langsam und sagte: »Danke, Tressa. Ich weiß es zu schätzen, dass du hergekommen bist, um uns davon zu erzählen.«
Anhand ihres sanften Tonfalls wäre Tressa am liebsten in Tränen ausgebrochen. Sie könnte es nicht ertragen, vor ihnen zu weinen. Also fuhr sie herum und rannte aus dem Zelt.