22
Treyas Talente
Mir war kalt, ich war hungrig, und ich hatte solche Angst. Ich badete in Selbstmitleid und glaubte, dass ich – dass wir – so viel mehr opferten als alle anderen. Dann dachte ich an Suri und schämte mich.
– Das Buch Brin
Mawyndulë gefiel ganz und gar nicht, dass es ihn unablässig anstarrte. Das Rhune funkelte ihn durch die Gitterstäbe hindurch an. Die Beine hatte es angezogen und den Rücken gegen den hinteren Teil des Käfigs gelehnt. In der Dunkelheit spiegelte sich das Lagerfeuer in seinen Augen, was dem Rhune ein düsteres, dämonisches Aussehen verlieh. Mawyndulë fragte sich, was es wohl dachte, erinnerte sich dann aber wieder daran, dass es überhaupt nicht dachte – es war schließlich ein Rhune.
Aber selbst Tiere haben Gedanken, oder?
Er stand auf und bewegte sich näher ans Feuer heran. Der Blick des Rhunes verfolgte ihn. Wenn es tatsächlich in der Lage war zu denken, vermutete Mawyndulë, dass es ihm nicht gerade ein langes, gesundes Leben wünschte.
Es hasst mich. Es will mich töten, weil ich Arion zur Strecke gebracht habe.
Der Gedanke war verstörend. Den Blick dieses Wesens auf sich zu spüren, während er nur wenige Schritte entfernt stand, fühlte sich an, als würde er am Rande einer Klippe stehen, nach unten sehen und sich fragen, wie es wohl wäre, einen Schritt zu machen – wie es wohl wäre, zu fallen. Mawyndulë hatte im Krieg gekämpft, er hatte sich dem Feind auf der anderen Seite der Grandford-Schlucht gestellt, doch nichts davon hatte sich so angefühlt wie das hier. Der Feind in Alon Rhist war ein gesichtsloses Ding auf der anderen Flussseite gewesen, das in seinem Kopf eine eher vage Form angenommen hatte und dessen Hass ihm durch eine ganze Armee übermittelt worden war. Das hier – dieses wütend starrende Rhune in der Kiste –, das war etwas Persönliches.
Es wird mir das Geheimnis nicht verraten. Noch nicht.
Mawyndulës Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Sein Vater und Jerydd hatten mit ihren verstaubten, dämlichen Plänen alles ruiniert. Nichts davon war Mawyndulës Schuld, doch sie würden es ihm irgendwie in die Schuhe schieben. Wenn Katastrophen auftraten, suchte man immer nach einem Sündenbock.
Sie hätten das Rhune länger umschmeicheln und es beschwichtigen müssen, damit es sich in Sicherheit wog.
Nein,
erkannte Mawyndulë. Das hätte keinen Unterschied gemacht.
Der Alte Kel war zu arrogant. Er hätte nicht einmal für eine Sekunde so tun können, als würden sie sich ernsthaft um Frieden bemühen. Mawyndulë versuchte sich vorzustellen, wie Jerydd sich höflich mit dem Rhune unterhielt, während sie Tee tranken und sich anlächelten. Er fand es einfacher, sich vorzustellen, wie Regentropfen nach oben anstatt nach unten fielen. Damit konnte Mawyndulë sich anfreunden. Der Gedanke, eine Rhune zu hofieren, war dagegen einfach unvorstellbar.
Ich hätte mich nie einverstanden erklärt, das Ding nach Estramnadon zu eskortieren, wenn es nicht in einen Käfig gesperrt wäre.
Allein der Gedanke daran, es freizulassen, ließ ihn schaudern.
Am anderen Ende ihres Lagers hatte das Rhune sein Unbehagen bemerkt. Er glaubte zu sehen, dass es lächelte.
Egal. Wir bekommen das Geheimnis schon aus ihm heraus. Vasek wird es herausschneiden, wenn es sein muss.
Einen kurzen Moment dachte Mawyndulë darüber nach, wie er ihm die Information eigenhändig entlocken könnte. Er könnte Käfer in seinen Kopf zaubern – oder das Ding nur denken lassen, sie wären in seinem Kopf. Er könnte es verbrennen, sein Blut zum Kochen bringen, seine Hände schmelzen, die Finger gefrieren und sie dann mit einem Stock zerschlagen. Die Kunst war jeglichen konventionellen Folterformen weit überlegen.
Mawyndulë setzte sich ans Feuer und stocherte mit einem Stock darin herum, und ihm kam der Gedanke, dass er das Rhune gar nicht in die Hauptstadt bringen müsste, wenn er das Geheimnis schon vorher aus ihm herausbekäme. Er könnte es sofort töten. Dann würde er mit der Lösung für all ihre Probleme nach Hause zurückkehren und wäre der Held von Erivan, Retter seines Volkes.
Ich könnte sogar den ersten Drachen erschaffen und ihn zu Jerydd schicken. Vielleicht noch heute Nacht.
Wieder dachte er über die beste Foltermethode nach, etwas, das den meisten Schmerz hervorrufen, aber dem Ding nicht die Fähigkeit zu sprechen rauben würde.
Es wäre besser, wenn ich die Informationen gar nicht erst gewaltsam von ihm erzwingen müsste, sondern sie direkt aus ihm herausholen könnte.
Er starrte das Rhune an, während er überlegte, wie er die Kunst benutzen konnte, um entweder seine Gedanken zu lesen oder es dazu zu zwingen, seine Fragen zu beantworten. Die verschiedenen Ideen zauberten ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Dann fiel sein Blick auf den Ring um den Hals der Kreatur.
Verdammt sei Ferrol!
Er verzog enttäuscht das Gesicht, als er sich an die Rhune-Kämpfer erinnerte, die immun gegen die Angriffe des Spinnenkorps gewesen waren.
Er konnte das Rhune immer noch foltern, aber auf konventionelle Weise.
Der Orinfar-Ring schützte ihn vor dem Ding, aber er hinderte ihn auch daran, es mit der Kunst anzugreifen. Mawyndulë gefiel die Vorstellung ganz und gar nicht, sich mit einem Stock, einer Fackel oder einem Messer in den Käfig vorzuwagen. Außerdem wäre es zu leicht, einen Fehler zu machen. Das Letzte, was er sich leisten konnte, war, es unabsichtlich zu töten. Sowohl sein Vater als auch Jerydd würden ihn dafür hassen, wenn er mit einem toten Rhune zurückkehrte.
»Euer Bett ist gemacht, mein Herr.« Treya kam zu ihm. »Habt Ihr Euer Mahl beendet?«
Mawyndulë warf einen Blick auf die leere Schale. »Das war wirklich schrecklich.«
»Während der Reise habe ich nicht viel Auswahl, mein Herr. Ich werde Euch einen schönen Kuchen backen, wenn wir zurückkommen.« Sie lächelte ihn an.
»Wie auch immer.« Mawyndulë schaute düster drein und begann wieder, im Feuer herumzustochern. Das Ende des Stocks fing Feuer. Er wedelte damit hin und her und beobachtete, wie das rauchende Ende orange glühte. Ich frage mich, wie laut das Rhune wohl schreien würde, wenn ich es damit berührte. Dann würde es sicher aufhören, mich anzustarren.
»Heute Nacht wird es kalt.« Treya sah zu den dunklen Baumkronen auf und zog ihren Umhang enger um ihren Hals. Dann warf sie einen Blick auf den Käfig. »Das arme Ding wird erfrieren. Ihre Kleider sind zu dünn.«
»Na und?« Wieder fing der Stock Feuer. Diesmal ließ Mawyndulë ihn eine Weile brennen, bevor er die Flammen löschte.
Treya hatte nicht geantwortet, und als er sich zu ihr umdrehte, bemerkte er, dass sie ihn ebenfalls anstarrte. Sie hatte wieder ihre Mein-Prinz
-Miene aufgesetzt.
»Was denn?«, fragte er und warf die Hände in die Luft.
»Ihr solltet ihr Eure zweite Decke geben.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Warum nicht?«
»Bist du wahnsinnig? Das ist ja widerlich. Danach müsste ich die Decke verbrennen.«
»Müsstet Ihr nicht.« Treya warf ihm einen bösen Blick zu, als ob es einen Grund dafür gäbe. »Seht nur, wie das arme Ding zittert.« Sie deutete auf den Käfig.
»Lass es doch zittern. Ist mir egal.«
Treya verschränkte die Arme vor der Brust. »Was, wenn sie heute Nacht erfriert und wir morgen mit einer gefrorenen Leiche nach Estramnadon zurückkehren müssen?«
»So kalt wird es nicht werden.«
»Es muss gar nicht so kalt werden, damit jemand, der sowieso schon schwach ist, daran stirbt.« Treya schürzte die Lippen und hob die Augenbrauen. »Wissen wir überhaupt, ob man sie im Turm gefüttert hat? Es mag Tage her sein, dass sie das letzte Mal gegessen hat. Und was ist mit Wasser? Durst ist noch gefährlicher als Kälte.«
Sie sagte es mit diesem vertrauten, nervtötenden Gesichtsausdruck, der ihm mitteilen sollte: Ich mag zwar nur Eure Dienerin sein, aber ich bin schlauer als Ihr – und das wisst Ihr auch.
Mawyndulë verdrehte die Augen. »Na schön, dann gib ihm halt die bescheuerte Decke.«
»Und die Essensreste?«
»Was? Im Ernst?«
Treya deutete auf den Topf, in dem sie Gemüse und Hirse gekocht hatte. »Wenn Ihr es nicht wollt, warum kann sie es dann nicht haben?«
Mawyndulë wollte dem Rhune überhaupt nichts geben, aber ihm fiel kein anderes Argument mehr ein. Treya nahm sein Schweigen als Zustimmung und gab die Essensreste aus dem Topf in eine Schale.
»Vergiss nicht, welche Schale du ihr gibst«, sagte er streng, »und serviere mir bloß nie mein Essen darin.«
»Ich werde sie verbrennen und die Asche begraben, während ich Ferrol darum bitte, selbst den Staub verschwinden zu lassen, zu dem sie zerfallen wird.« Sie sagte es ernsthaft genug, dass Mawyndulë nicht sicher war, ob sie ihn verspotten wollte oder nicht. Treya war gut darin. Er nahm an, dass die meisten Diener das gut konnten.
»Sei vorsichtig«, wies er sie an. »Pass auf, dass es dich nicht packt. Es kann wahrscheinlich keinen Unterschied zwischen deinem Arm und dem Essen machen.«
Treya warf ihm einen weiteren bösen Blick zu. »Natürlich kann sie das. Warum benehmt Ihr Euch so? Ihr bringt sie zu Eurem Vater, damit er ihr das Geheimnis zur Erschaffung von Drachen entlocken kann. Wenn sie so primitiv ist, wie Ihr sagt, wie sollte sie den Fhan in der Kunst unterweisen können?«
»Es wird meinen Vater nicht in der Kunst unterweisen
!«, fuhr Mawyndulë sie so laut an, dass Treya zusammenzuckte. »Das ist lächerlich. Ein Rhune kann einem Miralyith nichts beibringen! Es mag ein Geheimnis haben, in etwa so, wie dein klappernder Sack ein paar Töpfe enthält, aber der Sack kann dir nicht beibringen, wie man kocht! Ich kann nicht glauben, dass du das gerade wirklich gesagt hast. Aber wahrscheinlich ist es eben genau das, was eine dumme Gwydry denken würde.« Mawyndulë warf den rauchenden Stock ins Feuer. Die Wut brannte ebenso heiß in ihm.
Wie kann sie es wagen, so etwas zu sagen? Ich sollte sie dafür bestrafen! Anzudeuten, dass der Fhan – der Fhan! – von einem Rhune unterrichtet werden könnte. Und noch dazu in der Kunst! Was für eine Idiotin!
»Entschuldigt bitte, mein Herr.« Treya hielt die Schale mit beiden Händen fest. Sie sah beunruhigt aus.
Ich habe ihr Angst gemacht.
Mawyndulë fühlte sich schrecklich. Er schrie Treya fast nie an. Sie war die Einzige, die nie seinen Geburtstag vergaß und ihm jedes Jahr etwas schenkte. Es waren immer billige, dumme Dinge, manchmal sogar handgemacht, aber sie ließ es sich nicht nehmen. Sie war die Einzige, die für ihn da gewesen war, als er seine Zulassungsprüfung für die Akademie nicht bestanden hatte. Sie hatte ihm blöde Witze erzählt und frische Blumen in sein Gemach gestellt, um ihn aufzuheitern. Und wenn er krank wurde, brachte sie ihm Tee und saß Tag und Nacht an seinem Bett. Als er ein Kind gewesen war, hatte sie ihm sogar vorgesungen.
Das hatte ich vergessen.
Als er nun in ihrem Gesicht las, wie verletzt sie war, überkam ihn ein unangenehmes Gefühl. Er wollte sich entschuldigen, doch er war der Prinz. Es ziemte sich nicht für ihn, sich bei einer Gwydry-Dienerin zu entschuldigen. Das würde nur zu zukünftigen Problemen führen.
Er stand auf. »Ich mache einen Spaziergang. Kümmere dich um alles, bis ich zurückkomme.«
Treya nickte und sah ihm hinterher, als er zwischen den Bäumen verschwand.
Mawyndulë entfernte sich nicht weit vom Lager. Er ging lediglich den Hang zum Flussufer hinunter, sodass sie ihn nicht mehr sehen konnte. Er ließ sich zwischen die Farne fallen, sah zum Blätterdach auf und fragte verzweifelt: »Warum ist mein Leben so hart?«
»Hier, bitte sehr«, sagte Treya, als sie das Essen zwischen den Gitterstäben hindurchschob. Trotz ihrer mutigen Worte ein paar Minuten zuvor stellte sie die Schale am äußersten Rande des Käfigs ab, so weit wie möglich von Suri entfernt.
Suri runzelte enttäuscht die Stirn. Du glaubst nicht einmal selbst an das, was du sagst.
Suris Ärger verflog allerdings schnell, als sie erkannte, dass die Dienerin sich Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Einmal mehr wünschte Suri, sie könnte die Kunst anzapfen, um Treyas Gefühle zu lesen. Etwas stimmte nicht. Die Fhrey kam ihr stark und intelligent vor, brach aber trotzdem in Tränen aus, nachdem sie von diesem verzogenen Balg grob zurechtgewiesen worden war. Etwas war Suri entgangen. Andererseits fehlte es ihr gerade an so einigem: Nahrung und etwas Warmes zum Anziehen standen ganz oben auf ihrer Liste.
Während sie langsam durch den Käfig auf die Schale zukrabbelte, hoffte sie, dass Treya nicht vergessen hatte, dass sie ihr eine Decke geben wollte. Ihr war furchtbar kalt. Ihre regelmäßigen Zitteranfälle hatten sie erschöpft, doch sie hatten auch einen unerwarteten Vorteil: Während ihr körperliches Befinden sich verschlechterte, verbesserte sich ihre Psyche. Das grundlegende Verlangen nach Essen und Trinken sowie die schmerzhafte Kälte, die der Nachtwind mit sich brachte, hatten die Angst vor dem Eingesperrtsein verdrängt. Langsam konnte Suri wieder klar denken, was eine Erleichterung war, auch wenn ihre Gedanken sich hauptsächlich um ihr Verlangen nach Essen und Wärme drehten.
»Danke«, sagte sie zu der Dienerin, als sie die Schale an den Mund hob und sich das Essen mit den Händen in den Mund schaufelte. Es war eine Art Haferbrei mit etwas Gemüse. Suri wusste nicht genau, was es war, doch es war ihr egal. Es war etwas zu essen, und sie verschlang jeden Bissen, leckte dann Finger und Hände und schließlich sogar die Schüssel ab.
»Hast du einen Namen?«, fragte Treya.
Natürlich habe ich einen Namen! Hast du nicht gerade erst diesem blutsaugenden Blutegelprinzen erklärt, dass ich kein dummes Tier bin?
Doch Suri erinnerte sich daran, dass die Fhrey immer noch ihre beste Chance auf eine Decke war, also antwortete sie stattdessen: »Ja, mein Name ist Suri.« Sie hielt der Fhrey die leere Schale hin. »Und das war wirklich lecker. Du bist eine hervorragende Köchin.« Es mochte eine Lüge sein, Suri wusste es nicht. Sie erinnerte sich nicht an den Geschmack des Gerichts. Diese Schale voll unbekannter Zutaten war das Erste, das sie seit Tagen zu sich genommen hatte. Sie wäre selbst mit Ratteninnereien zufrieden gewesen. »Dürfte ich auch etwas Wasser haben?«
Treya starrte sie verblüfft an.
Es ist eben nicht dasselbe, Worte auszusprechen, an deren Wahrheit man glaubt, und sich wirklich mit dieser Wahrheit auseinanderzusetzen.
»Ich … äh … ja. Ja, natürlich.« Treya fuhr herum, ohne ihr die Schale abzunehmen.
Suri bekam Mitleid mit der Fhrey und wich zurück, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Schale zu bringen.
Treya kam mit einem Wasserschlauch zurück. Ohne innezuhalten, schüttete sie etwas in die Schale.
Es wäre wahrscheinlich zu viel verlangt, mich direkt von dem Wasserschlauch trinken zu lassen. Ich sollte mich freuen, dass sie es nicht auf den Boden gegossen hat, damit ich es auflecken kann.
»Danke nochmals«, sagte Suri. Sie krabbelte zur Schale und tat sich schwer damit zu trinken, ohne etwas zu verschütten. Doch das meiste landete in ihrem Mund. Treya gab ihr mehr, und diesmal gelang es Suri besser. »Mir ist so kalt, dass es mir schwerfällt, die Schale festzuhalten.« Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit.
»Oh!« Treya eilte davon. Sie kam mit einer Decke zurück und stopfte sie durch die Gitterstäbe. »Hier.« Obwohl sie nicht direkt vor Suri stand, war sie ihr doch näher gekommen als anfangs mit der Schale.
In die Decke eingewickelt fand Suri auch einen knielangen Kittel.
»Das ist mein Wechselkleid«, erklärte Treya und biss sich auf die Lippe, als Suri es aufhob.
Das Kleid war sauber, und Suri konnte die Falten erkennen, wo Treya es ordentlich zusammengelegt hatte. »Bist du sicher, dass du es mir geben willst?«, fragte sie, als sie es sich über den Kopf zog. Es war zu groß, und der weite Ausschnitt hing ihr über eine Schulter, aber es war warm. »Er hat nicht gesagt, dass du mir Kleidung geben darfst.«
Treya schaute in die Richtung, in die Mawyndulë verschwunden war. Suri erwartete, Furcht auf ihrem Gesicht zu sehen, doch was sie stattdessen sah, war Trauer. Sie hat keine Angst vor ihm, weil er sie angebrüllt hat, oder war wütend, weil er sie so respektlos behandelt. Sie war bloß verletzt.
Suri war keine Expertin, wenn es um Beziehungen zwischen Personen ging, deshalb konnte sie nicht sicher sein, aber irgendetwas war zwischen den beiden.
»Er ist gar nicht so schlimm, weißt du«, sagte Treya. »Er ist ein Prinz – er muss stark und selbstbewusst sein, weil er eines Tages herrschen wird.«
Es schien, als ob Treya nicht nur Suri, sondern auch sich selbst davon zu überzeugen versuchte.
Suri legte sich die Decke um die Schultern und zog sie am Hals fest zusammen. »Du bist sehr freundlich zu mir. Warum?«
Treya sah überrascht aus, dann nachdenklich, und schließlich zuckte sie mit den Schultern. »Ich habe noch nie eine Rhune getroffen. Ich habe Geschichten über große, haarige Bestien mit scharfen Zähnen gehört, die uns alle töten wollen, aber du bist nichts davon. Du bist sogar ziemlich hübsch. Mir gefallen sogar die Bilder auf deiner Haut.« Sie fuhr sich mit dem Finger über das eigene Gesicht. »Haben Sie eine Bedeutung?«
Suri nickte. »Sie bedeuten ich
.«
Treya sah für einen Moment verwirrt aus, dann nickte sie, als hätte sie verstanden. »Ich würde nicht mit ansehen wollen, dass man einen Hund so behandelt wie dich – und du bist kein Hund.«
»Aber ich bin auch keine Fhrey.«
»Nein … Aber auch nicht alle Fhrey werden gleich behandelt. Ich bin keine Miralyith. Ich bin eine Gwydry.«
»Das habe ich gehört.«
Treya nickte und warf wieder einen Blick in den Wald. »Manchmal glaube ich, sie vergessen, dass wir auch Fhrey sind. Das ist nicht gut für einen zukünftigen Fhan.«
»Ich nehme nicht an, dass du in Erwägung ziehen würdest, mich freizulassen?«, fragte Suri.
Treyas Augen wurden groß.
»Ich verspreche, nicht wegzulaufen oder dir den Arm abzubeißen oder so – ehrlich. Ich … ich habe nur ein großes Problem damit, eingesperrt zu sein. Es … es macht mir Angst. Die Wände, sie … ich muss mich frei bewegen können. Das ist nicht bei allen Rhunes so. Nur bei mir. Mir wird dann ganz schlecht. Ich mag noch nicht einmal Häuser.«
»Tut mir leid, das kann ich nicht tun.« Treya schüttelte den Kopf. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als ihr etwas einfiel. »Ich habe ja noch nicht einmal den Schlüssel. Ich kann dich gar nicht rauslassen.«
Suri wusste nicht, was ein Schlüssel war, obwohl Arion das Wort oft benutzt und Suri sogar als einen bezeichnet hatte. »Na ja, danke trotzdem für das Essen und die Kleidung. Du hast mir sehr wahrscheinlich das Leben gerettet.« Suri spähte in den Wald hinaus. »Er hätte mir nichts gegeben.«
Treya nahm die Schale und nickte. »Hasse ihn nicht.«
Oh, die Milch wurde bereits verschüttet, als er Arion getötet hat. Wenn der Ring um meinen Hals nicht wäre, hätte ich diese zweibeinige Zecke längst in einen aufgedunsenen, eitergefüllten Pickel verwandelt und ihn platzen lassen.
Suri sprach nichts davon aus, doch sie konnte auch nicht die Person anlügen, die ihr womöglich gerade das Leben gerettet hatte. Also nickte sie nur.
»Wir kommen bald in Estramnadon an«, sagte Treya. »Ich bin sicher, dass sie dich dann rauslassen werden.«
Suri nickte wieder, doch sie konnte sich über gar nichts mehr sicher sein, außer dass sie Treya mochte.
Nicht alle Fhrey sind böse
, erinnerte sie sich. Dann warf sie wieder einen Blick auf die Stelle, an der Mawyndulë zwischen den Bäumen verschwunden war. Aber genau wie bei uns Menschen sind es viele von ihnen.
Da sie nun Essen im Magen und die Decke und das Kleid hatte, um sich zu wärmen, fiel ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gitterstäbe, die sie einsperrten. Einmal mehr begann sie zu zittern. Und wieder fiel ihr das Atmen schwer.