23
Stimmen im Nebel
Manchmal blendet uns unser Drang, zu glauben, sodass wir die Realität nicht mehr erkennen, und manchmal blendet uns die Realität so sehr, dass wir nicht mehr wissen, was wir glauben sollen.
– Das Buch Brin
Mehr und mehr Leute zogen im Sumpf an ihnen vorbei, bewegten sich lautlos zwischen den Bäumen hindurch. Moya fühlte sich, als wäre sie zu spät zu einer Versammlung, die gerade geendet hatte, und müsste sich nun durch die nach Hause strömenden Teilnehmer kämpfen. Die merkwürdige Prozession bestand aus Gruppen verschiedenster Größen, die meisten waren allerdings allein unterwegs. Die stummen Reisenden folgten der Wasserstraße, ohne auch nur ein einziges Platschen oder Wellen auf der Oberfläche zu hinterlassen. Unter ihnen waren sämtliche Arten von Menschen.
Moya entdeckte Männer, Frauen und Kinder. Als sie Kleinkinder von nicht einmal fünf Jahren sah, die leise wimmerten, während sie durch die Dunkelheit liefen, war sie den Tränen nahe. Unter ihnen waren aber auch Zwerge und sogar ein paar Fhrey. Die meisten Männer waren wie Soldaten gekleidet, andere sahen wie Bauern aus, die gerade vom Feld kamen. Fast alle Frauen weinten, viele wehklagten. So verschieden sie alle waren, so hatten alle Reisenden auf dieser Wanderung der Seelen doch eins gemeinsam: Sie sahen elend aus, als ob jeder Schritt ihnen große Schmerzen bereitete.
Eine Frau mit tränenüberströmtem Gesicht, die einen Haufen blutiger Lumpen trug, blieb vor Moya stehen und sah sie an. »Warum?«, fragte sie. Moya hatte keine Antwort darauf. Sie verstand die Frage nicht. Die Frau schüttelte angewidert den Kopf und ging weiter.
Etwa einhundert Seelen waren in dieser Nacht an ihnen vorbeigezogen, während sie weiter durch den Sumpf wateten. Als die Nachzügler der letzten geisterhaften Truppe langsam von der Dunkelheit verschluckt wurden, warf Moya Gifford einen Blick zu. »Dieser Ort wird eindeutig heimgesucht.«
Gifford antwortete nicht, sah sie noch nicht einmal an. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schien dort oben etwas zu suchen.
»Gifford?«, fragte Roan. »Was ist denn los?«
»Lauscht mal«, wandte Gifford sich an alle.
Grillen, Frösche, Moskitos, Wind in den Blättern der Bäume – Moya hörte das Konzert des Sumpfes, doch was ihr am lautesten in den Ohren dröhnte, war ihr eigener Atem.
»Was sollen wir denn hören?«, frage Regen.
»Die Stimmen.«
»Die Geister?«, hakte Moya nach.
Gifford spürte ihren Blick auf sich und schüttelte den Kopf. »Nein, die nicht. Etwas andewes … es flüste-t.«
»Ich höre nichts«, sagte Moya. »Irgendjemand anderes? Tekchin, du hast die besten Ohren.«
Der Fhrey schüttelte den Kopf.
»Giff?«, sagte Tressa voll schrecklicher Vorahnung. »Sagen dir diese Stimmen etwa, dass du uns alle töten sollst?«
Gifford schüttelte den Kopf. »Nein. Die Stimmen spwechen nicht mit mi-, sonder-n zueinande-.«
»Also sind es noch mehr Geister?«, fragte Moya. »Unsichtbare?«
»Ich glaube nicht.«
»Was sonst?«, fragte Tekchin.
»Ich glaube«, Gifford bewegte die Lippen nachdenklich hin und her, »dass es die Bäume sind.«
»Die Bäume?«, fragte Moya. »Ist das dein Ernst?«
»Suri spricht mit Bäumen«, merkte Roan an. Sie stellte sich neben Gifford und hakte sich bei ihm unter.
»Ich dachte, dass sie sich das nur ausgedacht hat«, sagte Moya. »Genau wie sie immer so getan hat, als würde sie mit dem Wolf sprechen.«
»Ich glaube, dass sie beides wirklich getan hat.« Roan sah auf. »Was sagen sie denn?«
»Sie spwechen übe- uns«, sagte Gifford. »Fwagen sich, was wi- im Sumpf zu suchen haben.«
»Das frage ich mich auch«, warf Moya ein. Sie zitterte nun am ganzen Leib, da die Nachtluft immer kälter geworden war. »Sind diese Stimmen – glaubst du, dass sie ein Problem sind? Stellen sie eine Bedrohung für uns dar?«
Gifford schüttelte den Kopf. »Nein, lediglich Bäume, die miteinande- spwechen.«
»Was sollen wir tun, Moya?«, fragte Brin. Die Hüterin sah erschöpft aus. Sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten, und sie zitterte ebenfalls, so sehr, dass ihre Zähne beim Sprechen aufeinanderschlugen.
Persephone hatte Moya geschickt, um die kleine Gruppe zu beschützen und zu führen, doch dabei gab es ein Problem. Moya hatte zwar ihre Bogenschützen in der Schlacht von Grandford angeführt, aber sonst noch nie die Führung für etwas übernommen. Mit den Schützen war es einfach gewesen. Sie war Teil eines größeren Ganzen gewesen, und ihr Befehl war es gewesen, sich um etwas zu kümmern, in dem sie gut war. Sie hatte nur mutig sein müssen, dumm und waghalsig, aber hauptsächlich mutig. Nun wurde etwas ganz anderes von ihr verlangt. Die anderen erwarteten, dass sie Antworten hatte, was nicht der Fall war. Sie wollten, dass sie schlau war, was sie nicht war. Moya hatte mehr als genug Mut, aber sie war nicht besonders clever. Sie hatte ihre Truppe mitten in einen furchterregenden, vor Geistern, Schlangen und wer wusste schon was sonst noch wimmelnden Sumpf geführt, und sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollten. Noch schlimmer war, dass sie nicht wusste, wie sie wieder herauskommen sollten. Schon seit einiger Zeit befürchtete sie, dass sie aufgrund all des Wassers keinen klaren Pfad würden zurückverfolgen können. So wie es derzeit aussah, war es ziemlich wahrscheinlich, dass sie alle hier draußen sterben würden.
Sie hielt Audrey horizontal, damit der Bogen nicht das Wasser berührte, und warf einen Blick zum Himmel hinauf. Sie hoffte, die Sterne zu sehen, doch alles, was Moya erkennen konnte, war Dunkelheit. Sieben müde, verängstigte, durchnässte Personen, die Antworten von ihr erwarteten oder wenigstens eine Richtung, in die sie weitergehen konnten. Sie hatte nichts von beidem für sie.
»Es ist spät, wir müssen uns ausruhen. Wir könnten uns dort drüben auf dem Baumstumpf abwechseln.«
»Der ist nicht groß genug, um darauf zu schlafen«, erwiderte Tressa.
»Du wärst überrascht zu sehen, wo du überall einschlafen kannst, wenn du müde genug bist«, sagte Tesh.
»Selbst wenn wir ein bisschen wegdösen, ist doch die viel wichtigere Frage: Was dann?« Das Gesicht der vermaledeiten Frau verlangte förmlich danach, geschlagen zu werden. Ununterbrochen trug sie diesen missbilligenden Gesichtsausdruck zur Schau, der besagte, dass sie alles und jeden verurteilte und nach Fehlern suchte. Selbst ihr seltenes Lächeln schien drohend.
»Wir sind deinetwegen losgezogen«, sagte Moya zu ihr. »Und wegen deines Malcolm-Kults. Nun, da wir jetzt hier sind, was ist denn dein Vorschlag?«
Tressa dachte einen Augenblick nach, und Moya nahm an, dass sie sich eine besonders bösartige Beleidigung überlegte. Doch als sie endlich antwortete, war es etwas Unerwartetes. Tressa sah Gifford an, der auf dem Baumstumpf Platz genommen hatte. »Warum fragen wir nicht die Bäume?«
»Na klar, tolle Idee«, maulte Moya. »Warum fragen wir nicht auch gleich die Schlangen, wo wir schon mal dabei sind?«
»Persephone hat Magda Fragen gestellt, und Suri hat die Antworten gehört«, warf Brin ein. »Erinnert ihr euch, dass sie uns das in Roans Rundhaus erzählt hat?«
Moya starrte Brin einen Moment an. Sie konnte sich nicht genau an das Gespräch erinnern, aber sie wusste, dass es stattgefunden hatte. Aus diesem Grund ist Brin die Hüterin und nicht ich.
»Kannst du das, Gifford?«
»Vielleicht. Ich kann es ve-suchen.« Gifford legte den Kopf in den Nacken, als wollte er zu Eton beten. Er räusperte sich und sagte dann: »Äh … hallo. Ich bin Giffo-d. Wenn es nicht zu viel ve-langt ist, wäwen wi- euch zu tiefstem Dank ve-pflichtet, wenn ih- uns sagen könntet, wo wi- heute Nacht schlafen können.«
»Auf dem Trockenen«, fügte Roan hinzu.
»Ja«, wiederholte Gifford. »Wo es nicht nass ist.«
Brin, Regen und Roan nickten zustimmend. Dann warteten sie alle, still und regungslos. Suchten die Dunkelheit über ihnen mit den Augen ab oder musterten Gifford. Moya lauschte angestrengt. Wenn sie nicht in einer solch schwerwiegenden Situation gesteckt hätten, hätte sie wohl gelacht. Ihre Truppe bestand aus zwei Männern, vier Frauen, einem Fhrey und einem Zwerg, die gegenwärtig alle knietief in dreckigem, kaltem Wasser standen und verzweifelt hofften, die Bäume würden ihnen verraten, wo sie ein Nickerchen machen konnten. Unter anderen Umständen hätte Moya gebetet, dass die Bäume nicht
mit ihnen sprachen.
Mehrere Minuten vergingen, dann wehte eine sanfte Brise. Moya spürte sie nicht, doch sie hörte das leise Rascheln über sich. Kurz darauf glaubte selbst sie, etwas zu hören. Ihr Blick fuhr zu Gifford, und er nickte.
»Könnt ih- uns bitte helfen?«, fragte er.
Eine Pause.
»Wi- suchen die Hexe – die Hexe von Tetlin.«
Eine weitere Pause.
»Könnt ih- uns helfen?«
Moya konnte nicht sagen, ob Gifford wirklich mit jemandem sprach oder ob er nur etwas in die Nacht hinausrief und auf eine Antwort hoffte.
Ein paar Blätter segelten zu Boden. Zuerst erschien das niemandem ungewöhnlich. Doch dann sagte Roan, die schon immer eine bizarre Faszination für belanglose Dinge gehabt hatte: »Die Blätter fallen.«
»Ja, Roan«, sagte Moya. »Das passiert eben im Herbst.«
»Nicht in einer geraden Linie.«
Moya starrte. Sie alle starrten. Genau wie Roan gesagt hatte, trieb auf der unbewegten Wasseroberfläche eine Reihe Blätter. »Wird uns das ins Trockene oder zur Hexe von Tetlin führen?«
Gifford war nicht besonders hilfreich, als er sie nur achselzuckend ansah.
»Frag sie.«
»Kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
Gifford wurde rot, und er senkte beschämt den Kopf.
Roan sprach für ihn.« Es fällt ihm schwer, die Worte Trockene
, oder
, zur
und führen
zu sagen.«
Gifford sah Roan an. »Hilf mir zu spwechen.«
Sie nickte, sah aber verängstigt aus. Roan fiel es bereits schwer, mit jemandem wie Padera zu sprechen, und nun verlangte Gifford von ihr, sich mit ein paar gruseligen Sumpfbäumen zu unterhalten?
Gifford sah wieder auf. »Entschuldigt mich noch mal, wisst ih-, ob de- Weg …« Er deutete auf Roan.
»… zur Hexe oder ins Trockene führt?«, fügte Roan hinzu.
Gifford nickte.
Wieder warteten sie. Gifford lächelte Roan stolz an, als ob er gerade einen Salto gemacht hätte. Seine Frau verkniff sich ein bescheidenes Lächeln.
Es ist, als ob keiner der beiden wirklich realisiert, wo wir hier eigentlich sind
, dachte Moya erstaunt.
Mehr Blätter fielen und schlossen so die Lücken in der langen Reihe auf dem Wasser.
»Also, was jetzt?«, fragte Moya.
Gifford hob wieder die Schultern.
»Dank der Großen Mutter, dass wir das geklärt hätten«, seufzte Moya. »Alle Straßen führen irgendwohin, nicht wahr?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern begann, dem Pfad aus Blättern zu folgen.
Überraschenderweise mussten sie nicht lange gehen, und Moya war erschüttert zu sehen, dass am Ende der Blätterspur ein Strand auf sie wartete. Der Sand war schwarz, und es gab viele zerklüftete Felsen, doch es war eindeutig eine Küste. Moya hörte Wellen krachen, konnte sie aber nicht sehen. Im Dunkeln sah sie nichts als eine gähnende Leere, doch sie erkannte das Rauschen der See von ihrer Reise nach Neith. Das Ufer bestand aus nicht viel mehr als einem breiten Sandstreifen, wo Meer und Sumpf aufeinandertrafen. Gras traf auf Sand, keins der beiden dominierte. Doch es war trocken hier und hauptsächlich flach – alles, worauf eine erschöpfte Person hoffen konnte.
»Schlaft ruhig«, verkündete Moya. »Audrey und ich übernehmen die erste Wache.«
Moya brauchte genauso dringend Ruhe wie die anderen. Sie glaubte sogar insgeheim, dass sie sie, aufgrund der Anstrengung, die ihre Rolle als Anführerin mit sich brachte, mehr verdiente als die anderen. Aber Persephone würde wach bleiben.
Da Moya nicht so schlau wie die Keenigin war, fand sie, dass sie wenigstens versuchen sollte, ihr nachzueifern.
Niemand widersprach ihr. Niemand sagte überhaupt etwas. Die meisten machten sich nicht einmal die Mühe, eine Decke auf dem Boden auszubreiten, bevor sie sich hinlegten. Sie waren beinahe augenblicklich eingeschlafen.
Tekchin war der Letzte, der sich zur Ruhe begab. »Du weckst mich auf, sobald deine Augen zuzufallen beginnen«, ermahnte er sie.
Sie erwähnte nicht, dass das vor zwei Stunden gewesen wäre. Sie küssten sich, und er rollte sich neben ihr zusammen.
Moya hatte sich einen Platz in der Nähe eines großen schwarzen Felsens ausgesucht, dessen Oberfläche vom Wasser geglättet war. Sobald Tekchin eingeschlafen war, zog sie ihre Stiefel aus und ließ sich mit ausgestreckten Beinen auf dem Sand nieder.
Große Mutter, wie gut es sich anfühlt, aus dem Wasser raus zu sein!
Eine kalte, feuchte Brise wehte vom Meer heran. Sie zitterte und zog eine Decke aus ihrer Tasche. Wie durch ein Wunder war die Wolle trocken geblieben. Moya legte sich den dicken Stoff um die Schultern, lehnte sich an den Felsen und entspannte sich.
Schlechte Idee. Es ist zu bequem. Ich sollte aufstehen. Oder wenigstens …
Ihre Lider schlossen sich, ihr Kopf sackte herab. Als ihr Kinn auf ihre Brust traf, erwachte sie schlagartig.
Bei Tetlins Hintern!
Sie hasste sich selbst und diesen verdammten Sumpf. Moya stand auf und vertrat sich die Beine, wobei sie Fußspuren im Sand hinterließ, die schon bald zu so etwas wie einem Graben um das Lager wurden. Die Stiefel hatte sie aus gelassen. Nicht einmal ein Rauh würde sie dazu bewegen, die Dinger wieder anzuziehen. Allmählich fühlte sie sich leicht schwindelig, also hielt sie inne. Stattdessen grub sie die Zehen in den Sand und starrte in die endlose Nacht hinaus. Hinter ihr ragten unregelmäßige Formen in verschiedenen Schwarztönen auf – Bäume, Büsche und hohe Gräser –, doch wenn sie in die andere Richtung schaute, sah sie nichts.
Eine einzige Leere. Es könnte der Rand der Welt sein. Noch fünf Schritte in diese Richtung, und ich würde einfach runterfallen.
Moya hatte keine Ahnung, wo sie sich im Hinblick auf die ganze Welt befand. Während ihrer Kindheit in Dahl Rhen hatte sie geglaubt, Elan bestehe nur aus dem Sichelwald und den umliegenden Dörfern. Als sie älter wurde, hatte sie erkannt, dass Rhulyn größer war, nachdem sie Geschichten vom Land der Gula im Norden gehört hatte. Sie hatte gewusst, dass Alon Rhist – wovon sie immer angenommen hatte, dass es das Reich der Fhrey war – auch irgendwo da draußen war und dass die Dherg im Süden lebten, am anderen Ende von etwas, das man das Blaue Meer nannte. Sie hatte ihr Leben mit dieser Karte im Kopf verbracht, die jahrzehntelang feste Grenzen gehabt hatte. Nun waren diese Grenzen verschwommen. Moya hatte das Blaue Meer überquert und festgestellt, dass die Welt sich noch weiter erstreckte. Sie war nach Alon Rhist gereist und hatte auch dort kein Ende und keinen Rand vorgefunden. Rhulyn, so schien es, war klein, die Welt ihrer Jugend unbedeutend. Wie viel weiter erstreckte sich das Land? Vielleicht wusste das niemand, oder vielleicht hatte sie endlich das Ende erreicht.
Was würde wohl passieren, wenn ich vom Rand springen würde? Würde ich sterben? Oder würde ich einfach immer weiter fallen?
Moya ließ den Blick über die kleine Düneninsel zu den anderen schweifen. Tekchin schlief wie immer auf dem Rücken. Bald würde er anfangen zu schnarchen. Giffords und Roans Formen passten so gut zusammen, dass sie wie eine einzige Person aussahen. Regen hatte sich ein kleines Nest in den Sand gegraben, um sich vor dem Wind zu schützen. Brin lag neben Tesh und hatte ihn wie eine Decke um sich gezogen.
Er hat es getan.
Der Gedanke, der schon die ganze Zeit über in ihrem Kopf herumgeflattert war, kam endlich bei ihr an. Obwohl Tesh es abstritt und Tekchin die Unschuld des jungen Mannes ebenfalls beteuerte, wusste sie, dass Tesh die Galantianer getötet hatte.
Anwir, Eres und Sebek – er war mit jedem von ihnen zusammen gewesen oder zumindest in ihrer Nähe, als sie starben. Niemand wusste, wo er sich während der Schlacht von Grandford aufgehalten hatte. Er war später als alle anderen in Persephones Zimmer aufgetaucht. Blutverschmiert. Eres war bei der ersten Schlacht im Harwald sein Kommandeur gewesen, und Tesh hatte sogar persönlich darum gebeten, Anwir als seinen Späher einzusetzen.
Dann bleiben nur noch Nyphron und Tekchin. Ist er deshalb mitgekommen? Und als er vorschlug, dass Tekchin und er zusammen vorausgehen sollten, um einen Schlafplatz zu finden, war das eine Falle? Ist er nur hier, um Tekchin umzubringen?
Es ergab alles so viel Sinn, dass Moya sich zu fragen begann, was sie tun würde, falls Tesh einen Angriff startete. Sie musterte Brin, die glücklich und zufrieden in seinen Armen aussah.
Würde sie mir je verzeihen, wenn ich ihn töte?
Sie seufzte und schaute wieder auf das schwarze Wasser hinaus.
Diese ganze Reise ist dämlich.
Das hatte Moya sich von Anfang an gesagt. Sie hatte bereits gewusst, dass das Vorhaben unmöglich war, als Tressa mit Persephone gesprochen hatte, und seitdem war alles außer Kontrolle geraten. Die Hexe von Tetlin existierte nicht. Sie war wie das Gerücht, dass Fhrey Götter seien. Alles nur Geschichten. Sie setzten hier ihr Leben aufs Spiel, um sich selbst nicht mehr so schuldig fühlen zu müssen, da sie nichts tun konnten, um Suri zu retten. Sie versuchten, sich selbst zu überzeugen, dass sie den Fhan davon abhalten konnten, das Geheimnis zum Erschaffen von Drachen zu erfahren. Doch nur weil man etwas unbedingt wollte, wurde es noch lange nicht Wirklichkeit. Hoffnung und Glaube allein haben noch kein Essen auf den Tisch gebracht
, hatte Moyas Mutter immer gesagt.
Weiß Roan das? Weiß es Gifford?
Die beiden waren schlau, doch sie hatten ihre Schwachstellen. Es ist alles Tressas Schuld! Warum versucht sie auf einmal so zu tun, als wäre sie eine Heldin? Heilige Mari, wie ich diese Frau hasse!
Moya warf einen Blick auf Tressa, die sich auffällig weit von den anderen entfernt zusammengerollt hatte. Tressa wusste, dass sie nicht erwünscht war und von den anderen nicht gemocht wurde, also besaß sie wenigstens den Anstand, sich fernzuhalten. Allerdings zitterte sie in der Kälte.
Dumme Gans!
Warum, um der Großen Mutter willen, sollte Tressa uns so weit rausschicken? Dieser ganze Ausflug ist nichts als Schwachsinn.
Moya musste sich dringend vor diesem Gedanken schützen, der wie eine besonders große Welle auf sie niederzukrachen drohte, denn sie wollte nicht akzeptieren, dass die Hexe von Tetlin nicht nur real, sondern ihnen womöglich sogar sehr nah war.
Die Hexe war die Quelle alles Bösen in der Welt. Sie hatte die Dämonen und Rauhs erschaffen. Aus ihr waren alle Krankheiten und Seuchen entstanden. Sie aß Kinder, kochte sie in einem Kessel mit Karotten und Basilikum. Sollte sie wirklich existieren, hatte Moya einen schrecklichen Fehler in Tressas Plan aufgedeckt. Niemand glaubte wirklich daran, dass sie die Hexe finden würden. Es wäre, als würde man Mari höchstpersönlich finden oder … als würde man sich mit einem Geist unterhalten?
Sie sah Mieks. Er näherte sich ihr in der Dunkelheit.
»Moya?«
Moya öffnete die Augen und zuckte überrascht zurück, als sie Tressas Gesicht in der Dunkelheit vor sich sah. »Was? Was denn?«
»Alles in Ordnung. Du bist bloß eingeschlafen.«
»Hm?« Moyas Herz raste, ihr Atem ging viel zu schnell. Audrey lag auf ihrem Schoß, und ihre Füße waren immer noch nackt. Sie zitterte vor Kälte. »Oh.«
»Leg dich hin«, sagte Tressa. »Ich übernehme für eine Weile.«
Moya fühlte sich benommen.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Tressa und gähnte. »Ich werde es den anderen nicht verraten. Du hast schließlich noch einen Ruf zu verlieren.«
Moya nickte. Sie war zu müde, um mit Tressa zu streiten. Sie krabbelte zu dem schlafenden Tekchin, rollte sich neben ihm zusammen und breitete die Decke über sie beide. Hier war es warm und sicher. Sie ließ den Kopf auf den Sand sinken.
Tressa.
Moya schüttelte den Kopf. Oh, wie ich diese Frau verabscheue.
Moya erwachte mit einem steifen Hals, Sand im Mund und der Erkenntnis, dass sie sich in einer Wolke befanden. Die undurchdringliche Schwärze der Nacht war dem trüben Weiß eines dichten Nebels gewichen. Roan, Gifford und Regen kümmerten sich um ein kleines Lagerfeuer, während Tekchin, Tressa und Tesh Treibholz sammelten. Brin kauerte, in ihre Decke eingewickelt, am Feuer und starrte in die Flammen, deren Rauch in der steifen Brise hin und her wogte.
»Morgens wird es jetzt immer kälter«, sagte Tesh, ließ seinen kleinen Haufen Feuerholz danebenfallen und rieb sich die Arme.
Roan nahm sich zwei der neuen Holzscheite und legte sie an strategisch schlauen Stellen aufs Feuer.
»Ist das … in Ordnung
?«, fragte Moya. Sie warf erst Gifford und dann den vom Nebel umgebenen Bäumen einen Blick zu. »Für … du weißt schon.«
Gifford sah über die Schulter, schien für einen Moment verwirrt, nickte dann aber. »Oh ja – es gab noch keine Klagen.«
»Wir haben kein lebendiges Holz verwendet«, erklärte Regen. »Dachten uns, dass es wohl …« Er zuckte mit den Schultern.
»Unhöflich wäre?«, fragte Brin.
»Kwank und ve-stöwend«, fügte Gifford hinzu.
Die neuen Scheite fingen rasch Feuer, und die Flammen verbreiteten eine angenehme Wärme, die bald so stark wurde, dass Moya sich etwas zurücklehnen musste. In der Ferne krachten die Wellen ununterbrochen ans Ufer. Moya wusste nicht, warum sie annahm, dass das Geräusch über Nacht verschwunden sein könnte, doch sie fand es trotzdem seltsam.
»Habt ihr schon alle gegessen?«
Tekchin nickte. Er saß neben ihr, schob ihr nun eine Strähne aus dem Gesicht und strich ihr Sand von der Wange. »Nichts Großes, nur ein paar Bissen.«
Moya kramte blind in ihrer Tasche und fand ein Stück Käse, das sie noch nicht angeknabbert hatte. Während sie aß, versammelten sich die anderen um das Feuer. Alle Blicke lagen einmal mehr auf ihr. In dem Moment erkannte sie, was vor sich ging: Sie haben die ganze Zeit gewartet, dass ich aufwache und ihnen sage, was als Nächstes zu tun ist.
»Tesh, Regen und ich sind heute Morgen auf Entdeckungstour gegangen«, sagte Tekchin. »Wir befinden uns am Rande des Grünen Meeres. Der Fluss Ithil ergießt sich vom Sumpf in die Bucht, und dies ist die Flussmündung. Also haben wir den Sumpf hinter uns gelassen, aber« – er warf Moya einen Blick zu – »es gibt hier keine Insel.«
»Sie muss da draußen sein.« Tressa zeigte in die Richtung, aus der das Meeresrauschen kam.
»Vielleicht«, sagte Tekchin.
»Das ist ein ziemlich großes Vielleicht«
, sagte Tesh. »Sie könnte genauso gut im Sumpf sein.« Er zeigte in die Richtung, aus der sie kamen. »Oder sie existiert überhaupt nicht. Und wenn sie auf dem Meer ist, können wir sie nicht erreichen.«
»Wir könnten schwimmen«, sagte Moya.
Alle drei schüttelten den Kopf.
»Haben’s nach Sonnenaufgang versucht«, erklärte Tekchin.
»Und?«
»Also zum einen ist das Wasser wirklich kalt.«
»Und zum anderen?«, fragte Moya.
Tesh drehte sich, um ihr einen Riss in seiner Tunika zu zeigen. »Irgendein Vieh hat versucht, ein Stück aus mir rauszubeißen. Mehr als nur eins, glaube ich. Also, wenn die Insel da draußen ist, kommen wir ohne ein Boot nicht an sie ran.«
»Na schön«, sagte Moya. »Dann ist es das wohl. Wenn es keine Insel gibt und keinen Weg, um sie zu erreichen, sehe ich nicht, wie wir …«
»Oh, bitte.« Tressa verdrehte die Augen. »Er hätte uns nicht hergeschickt, wenn wir es nicht schaffen könnten.«
»Wer?«, fragte Moya. »Malcolm?«
»Natürlich Malcolm.« Tressa legte neues Feuerholz auf.
»Was ist nur zwischen euch beiden vorgefallen?«, fragte Moya. »Habt ihr miteinander geschlafen?«
»Nein!«, fuhr Tressa sie entsetzt an. Mit hasserfülltem Gesichtsausdruck entfernte sie sich ein Stück von der Gruppe.
»Was denn?« Moya war ehrlich schockiert von Tressas Wutanfall. Die Frage war vermutlich das Freundlichste, was sie in letzter Zeit zu Tressa gesagt hatte. »Konniger ist seit Jahren tot, und Malcolm ist doch nett. Du hättest es sicher schlechter treffen können.«
»So ist es nicht – so ist es überhaupt nicht
! Ihr seid so blind. Malcolm weiß alles.«
»Er weiß nicht alles
.«
»Doch, das tut er. Er kennt den genauen Augenblick, in dem ihr geboren seid. Was euer Lieblingsessen ist. Wofür ihr euch am meisten schämt, was ihr noch nie jemandem anvertraut habt. Er weiß, dass wir in diesem Moment hier sitzen und was wir sagen. Er weiß wahrscheinlich sogar, was wir denken und was wir als Nächstes sagen werden.«
Moya presste die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen. Sie wusste nicht, warum. Vor zwei Tagen hätte sie Tressa ins Gesicht gelacht und sich nichts dabei gedacht. Sie hatte sich oft genug absichtlich über sie lustig gemacht. Wie ich diese Frau hasse!
»Es ist wahr!«, rief Tressa. »Ihr werdet schon sehen.« Sie deutete in Richtung der Wellen. »Wir werden die Insel finden. Sie wird gleich da drüben sein, und wir werden kein Boot brauchen – oder wir werden eins finden. Malcolm hat schon vorhergesehen, dass wir Erfolg haben werden. Er weiß, dass wir es schaffen.«
»Er weiß es nicht«, sagte Roan leise. Sie starrte in die Flammen.
Damit erregte sie Tressas Aufmerksamkeit. »Wie kannst du das sagen?« Sie schrie Roan nicht an. Ihr Tonfall war sanft, verletzt, als ob Roan sie hintergangen hätte.
»Er hat selbst gesagt, dass er nicht alles weiß«, erklärte Roan. »Über die Vergangenheit vielleicht schon, aber nicht die Zukunft. Ein Fuß kann den Ereignissen in die Quere kommen, wisst ihr noch? Also, obwohl er die Zukunft gesehen hat, weiß er, dass sie verändert werden kann.«
»Fang du nicht auch noch damit an«, sagte Moya. »Roan, gerade du …«
»Du kannst mich auch dazuzählen«, unterbrach Regen sie. »Ich war in jener Nacht auch in der Schmiede, als Suri … na ja, als sie getan hat, was sie getan hat.«
»Was im Namen der Hexe von Tetlin ist denn passiert, dass ihr alle denkt, Malcolm wäre so besonders?«
»Du tätest gut daran, diesen Fluch in nächster Zeit nicht zu benutzen«, sagte Tressa. Sie ging zu dem kleinen Haufen Feuerholz, den Tekchin abgelegt hatte, und fütterte das Feuer damit. Es spuckte und zischte in der feuchten, nebligen Morgenluft.
»Was? Wegen der Hexe?«
Tressa nickte. »Wir haben schließlich vor, sie zu finden. Wenn wir sie antreffen, könnte sie es als beleidigend auffassen.«
»Oh, bitte.« Moya schüttelte den Kopf. »Aber mal im Ernst, warum seid ihr alle so sehr davon überzeugt, dass Malcolm gottgleich ist?«
»Hast du es noch nicht gehört? Er ist
ein Gott«, brachte Tesh skeptisch hervor.
»Ein Gott?« Moya lachte. Als niemand anderes mitlachte, hielt sie inne. »Ach, kommt schon.«
Moya wandte sich an Brin, die nur mit besorgtem Gesichtsausdruck die Schultern zuckte. »Ich war nicht dabei, aber er scheint wirklich viel zu wissen. Und als ich ihm von dem Älteren erzählte, ist er so schnell aufgebrochen, als wollte er ihn jagen. Und er hat Tressa gesagt, dass Suri gefangen genommen werden würde, Jahre bevor es überhaupt passierte.«
»Das gilt aber nur, wenn ihr bereit seid, Tressa zu glauben, was ich nicht bin.« Moya funkelte Tressa an, doch die grinste nur zurück. »Na gut, wie dem auch sei. Malcolm ist ein Klugscheißer. Bitte sehr. Es tut sowieso nichts zur Sache, denn wir können diese Insel ja nicht finden …« Sie sah in den undurchdringlichen Nebel hinaus.
»Selbst wenn sie da draußen ist«, sagte Tesh, »wissen wir nicht, wie weit entfernt oder in welcher Richtung sie liegt.« Er stand auf und machte ein paar Schritte in Richtung des Wassers, als ob er noch einmal schwimmen gehen wollte.
Moya sah den Riss in seiner Kleidung und sogar einen kleinen Blutfleck.
»Dann warten wir eben, bis der Nebel sich verzogen hat«, schlug Tressa vor.
»Und wenn das nicht passiert?«, fragte Moya.
»Es kann ja nicht immer so sein«, sagte Tressa.
Moya sah sie verständnislos an. »Letzte Nacht hat ein Geist mit uns gesprochen. Wir alle haben eine ganze Parade von Toten an uns vorbeiziehen sehen. Tekchin hat mir erzählt, dass er und Tesh ein Nest mit Augäpfeln anstatt Eiern gefunden haben. Ach ja, und die Bäume flüstern miteinander. Nein, Tressa, ich nehme an, dass es sogar ziemlich wahrscheinlich ist, dass der Nebel hier immer so dicht ist.«
»Hört mal, wenn jemand zusammenpacken und nach Hause gehen möchte, nur zu«, sagte Tressa. »Ich kann die Insel auch ohne euch finden.«
»Weil Malcolm gesagt hat, dass du Erfolg haben wirst«, beendete Moya ihren Gedankengang.
Tressa nickte. »Genau.«
»Na schön«, sagte Moya. »Du willst bleiben, dann bleib eben. Der Rest von uns …«
»Was sagen denn die Bäume dazu?«, fragte Brin Gifford. »Wissen sie, wie man zur Insel kommt?«
Gifford schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gefwagt. Bin soga- zu ihnen gegangen.« Er deutete auf die nächste Baumgruppe. »Wollte mit ihnen spwechen. Sie haben nichts gesagt.«
»Vielleicht sprechen sie nur nachts?«
»Vielleicht.«
»Wir müssen warten«, meldete sich Roan wieder zu Wort. Ihre Stimme war kaum hörbar über dem Knistern der Flammen.
»Warten?«, fragte Moya. »Worauf, Roan? Dieser Ausflug sollte nicht länger als eine Nacht dauern. Wir haben nicht viel Essen und Trinken übrig. Nur wenn wir Glück haben, finden wir überhaupt den Weg zurück, ohne uns zu verlaufen. Je länger wir hierbleiben, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir in richtige Schwierigkeiten geraten.«
»Es ist genau wie in Tirre«, sagte Roan.
Moya legte den Käse zurück in ihre Tasche und beugte sich vor. »Was meinst du, Roan?«
»Das Wasser – es sinkt.«
»Sinkt?«
»In Tirre war der Wasserspiegel manchmal hoch und manchmal niedrig. Wenn du dir den unteren Rand der Baumstämme anschaust, siehst du eine Verfärbung. Es ist eine Hochwassermarke. Sie zeigt an, wie hoch das Wasser manchmal steigt.«
Moya musterte die Bäume, mit denen Gifford zu sprechen versucht hatte. Sie konnte nichts erkennen. »Ich sehe keine Marke.«
»Natürlich nicht, weil das Wasser im Moment hoch ist. Aber es wird sinken. In ein paar Stunden wird es viel tiefer sein.«
»Und was dann?«, fragte Moya.
»Ist doch offensichtlich, oder nicht?«, fragte Tressa, die mit träumerischem Gesichtsausdruck weit in die Ferne schaute. »Wir gehen einfach zu Fuß zur Insel. Ich hab’s euch doch gesagt. Malcolm hat immer recht.«
»Wie lange müssen wir warten?«
Roan zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht.«
Moya seufzte.
Diese ganze Reise schien eine einzige riesige Zeitverschwendung zu sein – mit dem Unterschied, dass Roan glaubte, es wäre machbar. Und hatte sie nicht Wunder erschaffen? Schließlich stimmte immerhin der Teil mit dem heimgesuchten Sumpf.
Aber ist es wirklich möglich, dass die Hexe von Tetlin da draußen ist?
Moya blickte in den Nebel hinaus und überlegte. Und was werde ich tun, wenn wir sie finden und sich herausstellt, dass alles wahr ist? Und viel wichtiger … was wird sie uns antun?