Ralf Kramp
Weißes Gold
Das grelle Licht zwang Mathis, die getönte Brille aufzusetzen. Wenn der Sonntag schon in der Frühe so sonnig begann, wurde es schmerzhaft. Er wurde immer lichtempfindlicher. Patrice hatte ihm geraten, zum Arzt zu gehen. Wahrscheinlich würde es sich nicht ewig aufschieben lassen.
Zwischen der Avenue Michelet, der Rue Charles Schmidt und der Périphérique kochte die Sonne schon die Gerüche der Stadt zu einem unbeschreiblichen Mief zusammen. Der Flohmarkt war bereits in vollem Gange. In der Rue Marceau hatte es beim Aufbau eine Schlägerei zwischen den Kanaken gegeben und vor dem Laden von Lucie war ein Idiot aus der »Creuse« mit seinem Lieferwagen in ein paar teure Glasvasen hineingerollt.
Er trank im »Paul Bert« einen Café Express im Stehen und machte sich auf den Weg. In drei Stunden spätestens würde er seinen Rundgang für eine kurze Mittagspause unterbrechen und würde sein Hachis Parmentier essen, so wie jeden Sonntag. Sie hielten ihm einen kleinen Platz an der Säule frei, denn sonst würde er eine Ewigkeit warten müssen: Um die Mittagszeit platzte das Viertel aus allen Nähten und alle hatten gleichzeitig Hunger. Die Dauer seiner Reservierung betrug exakt zehn Minuten, das war die Abmachung. Würde er eine Minute zu spät kommen, würde er warten müssen. Oder hungern.
»Ah, Mathis«, rief der alte Alexis. Es klang weder besonders freundlich noch besonders übellaunig. »Wie lange wird das noch dauern?«
»Am fünfzehnten bestimmt, Alexis.«
»Fünfzehnten was?«
»Am fünfzehnten Juni.«
»Am fünfzehnten, scheiße! Das war das letzte Mal, verstehst du.« Alexis schien zu träge, um sich richtig aufzuregen. Die Hitze vermutlich.
Mathis machte eine wegwerfende Handbewegung und widmete sich der Auslage des gegenüberliegenden Ladens. Er war nicht der einzige, der bei Alexis in der Kreide stand. Und er war bestimmt einer der pünktlichsten Zahler. Und wenn er am fünfzehnten zahlte, würde Alexis gleich fragen, ob ein neuer kleiner Kredit gebraucht würde. In diesem Viertel arbeiteten hunderte von Halsabschneidern. Große, kleine, sympathische, unsympathische. Sie beschissen Einheimische und zogen Touristen ab, sie handelten mit edlen Antiquitäten und vertickten auf alt getrimmten Ramsch. Sie begaunerten sich gegenseitig und schanzten sich doch hin und wieder die lukrativsten Geschäfte zu. Die Welt des marché aux puces in Saint-Ouen war ein buntes, verstaubtes, übel riechendes Karussell, das sich jeden Sonntag von morgens bis abends träge und quietschend drehte. Und er war jedes Mal dabei.
Die alte Sandrine zupfte ihn am Ärmel, als er sich anschickte, rechterhand in die Rue Jules Vallès einzubiegen. »Morgen, mein Schöner.«
»Morgen, mein Augenstern.«
»Ich kriege nächste Woche ein paar Teppiche, die könnten dir gefallen.«
»Wieder türkische?«
»Nepal, mein Schätzchen, Nepal. Ich kriege sie aus Marseille, und der Typ, der mir die Fotos gezeigt hat, hat ganz glasige Augen gehabt, so war er verliebt in die Dinger.«
»Warum verkauft er sie dir dann?«
»Weil er in mich noch viel mehr verliebt ist, mein kleiner Affe.« Sie grinste ihn an und ihr borstiges Kinn schob sich frech nach vorne. »Was ist, willst du sie dir angucken?«
Er hatte zweimal Pech mit Teppichen gehabt. Bei dem letzten Deal hatte er beinahe draufgezahlt. Das kam alle paar Jahre einmal vor. So was durfte nicht einreißen.
»Ich gucke sie mir mal an«, versprach er ihr trotzdem. »Und wenn ich keinen nehme, dann schieben wir wenigstens eine schnelle Nummer darauf«, sagte er und kniff sie in den breiten Hintern. Sie lachte schrill auf und versetzte ihm eine kaum ernst gemeinte Ohrfeige.
Als er um die Ecke bog, pfiff er leise vor sich hin. In Gedanken ging er die Liste derer durch, die er für einen schönen Nepalesen interessieren konnte. Fast wäre er mit Hamilton zusammengestoßen. Sie nickten einander kurz zu und bemühten sich beide, schnell weiter zu kommen. Mit Hamilton vermied man besser jeden Umgang. Der Jamaikaner machte dreckige Sachen mit kleinen Jungs, das wusste jeder. Er hatte sich auf Erotika spezialisiert, mit denen er seine Bude in der Rue Farcot bis unters Dach vollgestopft hatte. Mathis hatte ihn einmal K.O. geschlagen, nachdem er ihn dabei überrascht hatte, wie er einen kleinen Türken auf dem Klo vom »Les deux frères« befummelte.
Pascal hatte neue Postkarten. Mit flinken Fingern fächerte Mathis sie durch. Ein paar schöne Sachen. Zwei aus Brest, Zwanziger Jahre. Da wusste er gleich, wer die brauchte.
»Zwei Euro«, sagte er.
Pascals Mundwinkel krochen nach oben und die Zigarette richtete sich steil auf.
»Mehr als zwei Euro kriegst du sowieso nicht.«
»Zehn das Stück.«
»Zehn? Du spinnst! Sechs Euro zusammen.«
»Das ist Vannes im Jahr 1918. Und der Hafen von Quimper, etwa dieselbe Zeit. Sehr rar.«
»Zehn zusammen. Mehr geb ich nicht.«
»Zwölf.«
Mit einem Seufzer kramte Mathis in seiner Hosentasche und fummelte zwölf Euro in Münzen zusammen. »Hier, du Verbrecher.«
Als er die Karten in der Innentasche seiner Jacke verschwinden ließ, versuchte er sich an den Vornamen des Belgiers zu erinnern, der die Bretagne sammelte. Da waren sicher dreißig Euro für ihn drin. Ein kleiner Fang zum Warmwerden. Immerhin hatte er sich schon sein Hachis Parmentier verdient. Und gleich bekam er auch schon Hunger. Eine merkwürdige Verkettung, aber so war das fast immer.
Er beschloss, zu dem schwitzenden Glatzkopf zu gehen, dessen Namen keiner kannte. In seinem Hinterhof fand er immer was. Vornehmlich türmten sich dort unglaubliche Mengen an Gerümpel, aber zwischen den rostigen Gartenstühlen, den aufquellenden Kommoden und den gesplitterten Garderobenspiegeln hatte es bislang immer etwas gegeben, das er mit Gewinn hatte weiterverkaufen können. Sein größter Coup war es gewesen, als er dem Kahlköpfigen vor zwei Jahren eine kleine, bronzene Statuette mit marmornem Sockel aus einer Kiste voll Gerümpel für einen Zwanziger abgeschwatzt hatte. Ein Sammler hatte ihm schließlich zweihundert dafür bezahlt, und Mathis hatte an seinem Lächeln erkennen können, dass er locker auch das Doppelte hätte verlangen können. Am darauf folgenden Wochenende war Mathis dann frech wieder beim Glatzkopf aufgetaucht und hatte behauptet, er wolle die Statuette abholen, die er beim letzten Mal habe zurückstellen lassen.
Der fette Kahlkopf hatte in seinem Unrat herumgekramt, hatte selbstverständlich keine Statuette gefunden und hatte lautstark protestiert, als Mathis seine zwanzig Euro zurückverlangte. Als sein Handlanger, der geistig zurückgebliebene Pignolle, bestätigte, er habe gesehen, wie in der Vorwoche ein Geldschein von Mathis’ in die Hand des Glatzkopfs gewandert sei, gab das schwitzende Ungetüm schließlich nach und rückte das Geld wieder raus. Seither hatte sich Mathis nicht mehr getraut, die Nummer noch einmal durchzuziehen.
Neben dem »Relais des Broc’s« saß auf einem Campingstuhl, angelehnt an einen der Blumenkübel, eine dicke, alte Frau und hatte auf einer grauen Decke zu ihren Füßen ihren Ramsch ausgebreitet. Ein paar Tässchen, zwei Kerzenhalter aus Kristall, billiger Schmuck und …
Mathis blieb stehen und betrachtete das Angebot intensiver. Seine Technik war in Jahrzehnten erprobt. Kein Interesse zeigen. Er zog das Handy heraus und tat so, als nehme er ein Gespräch an.
»Ja, Patrice? Was gibt’s?«
Er hatte etwas entdeckt, das ihn interessierte. Sehr interessierte.
Die Alte hätte mit ihrem Dutt und den dicken Brillengläsern, mit ihren im Schoß ruhenden knotigen Händen, vor der Kulisse der grellbunt mit Graffiti vollgesprühten Wand, ein famoses Objekt für fotografierende Touristen abgegeben.
»Ich bin noch ein, zwei Stündchen hier, und dann mach ich die Fliege. Heute finde ich nichts. Nur Schrott hier heute.« Während er mit seinem imaginären Gesprächspartner plauderte, tippte er geringschätzig mit der Spitze seiner abgetragenen Camel Boots gegen das Objekt seiner Begierde.
Eine kleine Figur, vielleicht zwölf, dreizehn Zentimeter lang, völlig unscheinbar. Ein langgestreckter Tierkörper. Ein Löwe im Sprung. Aus dieser Entfernung war er sich nicht ganz sicher. Es konnte sich als etwas völlig Wertloses entpuppen. Etwas aus Plastik. Der Griff eines Korkenziehers womöglich, keine zehn Cent wert. Und doch sah es für ihn nach echter Schnitzerei aus. Horn? Elfenbein? War es afrikanisch?
»Okay, Patrice. Ich werde gleich noch mein Hachis essen, und dann komm ich rüber. Salut!«
Er ließ das Handy wieder in seiner Hosentasche verschwinden und beugte sich betont desinteressiert vor.
Es war Elfenbein. Und zwar kein Mammutelfenbein, soweit er das aus dieser Entfernung erkennen konnte. Nicht der Ersatz, sondern das Weiße Gold selbst!
Dafür hätte er gleich ein Dutzend Interessenten. Echtes Elfenbein war selten geworden, seit die Artenschutzauflagen so hoch waren. Immer wieder tauchte mal was auf, aber die Sammler kauften alles direkt weg.
Wie beiläufig nahm er einen der hässlichen Kristallleuchter in die Hand und legte ihn wieder weg. Sein Finger strich über den schartigen Rand einer hübschen aber wertlosen Mokkatasse. Dann die Schnitzerei.
Sie war kunstvoll ausgeführt, mit fein ziselierten Ornamenten in der Löwenmähne. Kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein reines Schmuckstück. Ein kleines Kunstwerk.
Er grinste die Frau jungenhaft an. »Niedlich. Was soll das kosten?« Er hielt es zwischen Zeigefinger und Daumen. Die Alte sollte sehen, dass er nicht mehr als zehn oder zwanzig Euro dafür geben würde.
In ihrem Gesicht regte sich kaum etwas. Sie rückte langsam die Brille gerade und fragte: »Wie viel Sie geben?«
Ganz schlechter Anfang, Mütterchen, dachte Mathis. Die Nummer hatte er schon jetzt gewonnen. Sie hatte einen slawischen Akzent. Sie war keine Händlerin, sondern sie saß hier, weil sie ihre Habe zu Geld machte. Sie war darauf angewiesen, dass sie den Ramsch loswurde. Ein Glücksfall für jemanden wie ihn.
Er betrachtete die Figur von allen Seiten, schob nachdenklich die Unterlippe vor und sagte schließlich: »Fünf Euro?«
Sie schüttelte den Kopf. Langsam und gleichmäßig, wie ein Roboter.
Scheiße, Fehleinschätzung, dachte Mathis. Doch eine Ausgekochte.
Und dann sagte sie: »Müssen geben zehn.«
Bingo! Das Ding war gut und gerne einen Hunderter wert. Er beschloss, nicht weiter zu handeln und richtete sich auf. Das kleine Kunstwerk leuchtete gelblich in der Morgensonne.
Er kramte einen Zehner aus der Tasche und reichte ihn ihr hinüber. Als ihre Finger ihn an seinem äußersten Zipfel berührten, fragte sie: »Sie mögen?«
»Hübsch. Wirklich sehr hübsch. Ich werde es meiner Freundin schenken.«
Mathis dachte: »Von dem Hunderter, den ich dafür kriege, werde ich mir eine Freundin kaufen.«
Sie ließ den Schein wieder los und beugte sich zur Seite. Mathis beobachtete verunsichert, wie sie begann, in einer bauchigen Lederhandtasche zu kramen. Dann förderte sie etwas zutage, was seinen Pulsschlag beschleunigte. Die Plastik, die sie ihm jetzt reichte, war etwas kleiner als die, die er gerade erworben hatte, aber dafür viel filigraner gearbeitet. In feinstem Biedermeier-Stil griffen zwei feingliedrige Hände zum Gruß ineinander. Die Formen waren so glatt, so geschwungen, so perfekt, dass Mathis Mühe hatte, seine Aufregung zu unterdrücken.
Die Alte kramte weiter. »Oder das hier. Ich nicht gerne zeigen.« Sie barg jetzt aus der Handtasche ein weiteres kleines Kunstwerk. Zwei Japaner beim Liebesspiel. Zwei kopulierende, kleine Körper, die nackten Gliedmaßen in Perfektion ausgestaltet, die Zwischenräume aufs Sorgfältigste ausgehöhlt.
»Wollen lieber das für Freundin?« War da etwa der Anflug eines anzüglichen Lächelns auf ihren blauen Lippen?
Er würde es Hamilton anbieten. Der Drecksau würde er hundertfünfzig dafür abknöpfen. Oder mehr! Vorsichtig blickte er nach rechts und links. Beobachtete ihn niemand? Hier kannten ihn alle und sahen gleich, wenn er auf etwas Lohnenswertes gestoßen war.
»Ich nehme alle«, sagte er. »Alle drei … aber nur, wenn Sie mir einen guten Preis machen.« Er strahlte die Alte an. Sie glotzte ausdruckslos zurück und es störte ihn fast, dass sie es ihm so leicht machte. Kühn sagte er: »Zwanzig für alle.«
Sie schwieg und schien angestrengt nachzudenken. Woher mochte sie kommen? Polen? Tschechien? Ukraine?
Nun mach schon, Oma. Sag dreißig, und ich gebe dir fünfundzwanzig.
»Moment.«
Was jetzt?
Sie reckte den Hals, um an ihm vorbeizusehen und rief: »Jegor!«
Auf der anderen Straßenseite drehte sich ein kleines, verhutzeltes Männlein um und blinzelte zu ihnen herüber.
Sie rief etwas in einer fremden Sprache, und er setzte sich in Bewegung. Mit kleinen Trippelschritten überquerte er den Asphalt und nahm vor seiner Frau Aufstellung wie ein Soldat vor dem Feldherrn. Sie quakte ihm ein paar Sätze zu, während er sich immer wieder zu Mathis wandte und lächelnd nickte.
»Meine Frau sagt, sie finden Gefallen an Schnitzereien.« Sein Akzent war ebenfalls unüberhörbar, aber sein Satzbau war nicht annähernd so holprig wie der seiner Frau.
Mathis wiegte den Kopf hin und her. »Jaja, ganz nett sind sie. Ich nehme auch alle drei, aber nicht um jeden Preis, wissen Sie?«
Sicher lief es jetzt doch aufs Feilschen hinaus. Der Alte war vermutlich der Mann für die kniffligeren Verhandlungen.
Der kleine Mann nickte wieder. »Ich sage zwanzig.«
Beinahe wäre Mathis der Mund offen stehen geblieben. Er konnte sein Glück nicht fassen. Die beiden Greise hatten ja keine Ahnung, welche Schätze sie ihm mehr oder weniger hinterherwarfen.
»Wir müssen verkaufen. Haben zu viele, verstehen Sie?«
»Sie haben noch mehr?«
Beide nickten. »Zuviel«, brummte die Frau. »Zuviel Figuren, zu wenig Geld.«
Mathis’ Blick wanderte über den Stand und die Handtasche. »Aber nicht hier …«
»Zuhause.« Die Alte begann, die drei Figuren in Zeitungspapier einzuwickeln. »Wollen sehen?«
Mathis zwang sich zur Ruhe. Er wusste, dass die Leute aus dem Osten häufig ihre Habe verscherbelten, um zu Geld zu kommen, das war nichts Neues. Vermutlich waren es Erbstücke; Dinge, die in Russland oder wo auch immer möglicherweise nur einen ideellen Wert hatten. Aber für ihn bedeutete es Kohle, satten Verdienst. Wenn sie noch mehr von dieser Qualität für ihn hatten, würde er gleich ein paar Sammler sehr, sehr glücklich machen können. Alexis würde sein Geld schon morgen zurückbekommen!
»Wohnen Sie weit weg? Ich habe kein Auto.«
»Rue Biron, Monsieur«, sagte der alte Mann. »Gar nicht weit.«
Das war tatsächlich gleich um die Ecke. Nördlich der kleinen Hallen an der Rue des Rosiers verlief die Straße, die nur linkerhand mit Wohnhäusern bebaut war. Eine traurige Gegend. Wer hier hauste, war nicht zu beneiden.
»Wie viele von den Dingern haben Sie denn?«
»Zu viele«, brummte die Frau erneut, und ihr Mann runzelte die Stirn. Er sagte: »Ich hänge daran. Sagt man so? Hänge daran? Meine Frau sagt, es sind zu viele.«
Mathis beschloss, die beiden zu erleichtern und nickte. »Gut. Ich will sie mir ansehen.« Dann reichte er der Frau einen Zwanziger. »Schon mal für die drei hier.«
Sie gab ihm das Knäuel aus Zeitungspapier, in dessen Inneren sich die drei Kostbarkeiten verbargen.
Der Mann trippelte gleich los. Trotz seiner gebeugten Gestalt war er ein wieselflinkes Männlein. Mathis ließ ihn zwei, drei Schritte vorausgehen, um möglichst nicht den Anschein zu erwecken, dass sie zusammen unterwegs waren. Von seiner Goldader sollte vorerst noch niemand erfahren. Damit der Alte nicht das Gefühl hatte, ihn unterhalten zu müssen, hatte er wieder sein Handy gezückt und telefonierte angeblich mit Patrice. Während er vor sich hin plapperte, überlegte er, ob die beiden wohl sonst noch irgendwelche Schätze horteten. Lohnte es sich vielleicht sogar, Claude aus Clichy anzurufen? Mit ihm gemeinsam könnte er bei nächster Gelegenheit die Wohnung ausräumen. Claude war ein verlässlicher Partner, wenn es um solche Sachen ging.
Erst einmal aber musste die Wohnung besichtigt werden. Sie kamen am »Paul Bert« vorbei. Er hatte Hunger, aber sein Hachis konnte ruhig warten. Ein Arme-Leute-Essen. Pah!
Wie ein langer Korridor führte die Rue Biron schnurgerade zwischen den Backsteinmauern der Halle linkerhand und den Wellblechrückseiten des Trödelviertels zur Rechten hindurch. Mathis hatte sein getürktes Telefonat beendet und das Handy weggesteckt. Hier war niemand unterwegs, der sie beobachten würde. Der Trubel des Flohmarkts lag hinter ihnen. Er hatte das Paketchen an einer Ecke aufgerupft und ließ die Finger über die glatte Oberfläche der japanischen Kamasutra-Darstellung gleiten. Das Material war einzigartig. Sein gelblicher Glanz strahlte warm und erhaben.
Mathis spürte, wie ein Glücksgefühl seinen Körper durchflutete.
An die langgestreckte Halle schlossen sich auf der linken Seite abbruchreife Häuser an. Vor einem Gebäude mit rissiger, grüner Sandputzfassade, dessen Erdgeschossfenster zugemauert waren, blieb der Alte stehen und holte einen Schlüsselbund hervor. Die Holztür, die er damit öffnete, hätte man vermutlich mit der bloßen Hand aufbrechen können.
Sie traten in einen muffigen Hausflur ein, und der Alte lächelte entschuldigend. »Ist kein Palast«, sagte er mit belegter Stimme. »Wir wohnen seit vier Monaten hier und hoffen, bald wieder zu können ausziehen.«
Er stieg vor Mathis die knarrende Holztreppe hinauf und fummelte an seinem Schlüsselbund herum. »Ist ein Loch«, sagte er bitter. »Ein richtiges Loch. In Trykratne wir hatten sogar Garten.«
»Und das ist wo?«
»Ukraine.«
Sie hatten den ersten Stock erreicht und der Alte öffnete eine weitere Tür.
Dahinter roch es anders als im Treppenhaus. Es duftete nach Sandelholz. Auf dem Boden lagen bunte Teppiche, in den Vasen steckten künstliche Rosen, an den hässlichen Wänden waren die Risse und Flecken halbwegs mit Fotografien, Wandkalendern und kleinen Bildern in kitschigen Goldrahmen verdeckt worden. Ein kleines, abgewetztes Sofa stand gleich beim Fenster, in einem Käfig zwitscherte ein gelber Kanarienvogel und auf einem zerkratzten Tisch stand frisches Obst. Die beiden Alten hatten es sich, so gut es ging, gemütlich gemacht. Aber Mathis hatte nichts übrig für das Idyll, denn seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem.
Sie standen in einer kleinen Vitrine. Sie waren auf Regalbrettern aufgereiht und wurden auf einer kleinen Kommode zur Schau gestellt. Sie standen auf der Fensterbank und auf einem kleinen Beistelltisch. Es waren sicher hundert und mehr: Elefanten, winzige Madonnen, Schachfiguren und Brieföffner. Das Prachtstück war ein kleines Kästchen, zusammengesetzt aus vielen zierlichen Einzelteilen. Ein Kunstwerk von unglaublicher Schönheit.
Der Alte kniff den Mund mit verstohlenem Stolz zusammen und folgte Mathis’ Blick, der über die Ausstellung wanderte.
»Woher zum Teufel haben Sie die nur alle?«
»Ich habe sie selbst hergestellen. Sagt man hergestellen? Nein, hergestellt.«
»Sie?« Mathis betrachtete ihn ungläubig mit weit geöffneten Augen.
»Ich bin Beinschnitzer. Das war mein Beruf in Heimat.«
»Sie wollen mir wirklich sagen, dass Sie all das hier …«
Der alte Mann nickte und rückte eine Elefantenfigur in die richtige Position. »Aber meine Frau sagt, ich darf nicht mehr neue machen. Wir haben zu viel. Und das Material …«
»Aber sie müssen!«, jubelte Mathis. »Sie müssen weitermachen!«
»Nein, ich darf nicht! Ich bin immer wieder versucht, aber darf nicht sein. Das Material, es ist so schwer zu bekommen…«
Mathis hatte eine Madonnenfigur ganz dicht vor sein Gesicht geführt und betrachtete sie begeistert. Er würde ein Vermögen mit dem Alten machen! Er würde ihn für sich arbeiten lassen, ganz im Geheimen!
»Haben Sie ihr Werkzeug noch? Ich meine, haben Sie es mitgebracht aus der Ukraine?«
Der Alte nickte. »Unten im Keller. Es ist alles eingerichtet. Ich muss von Zeit zu Zeit einfach machen ein paar neue Figuren. Verstehen Sie, es steckt in mir drin. Tief in meinem Herzen.«
»Das verstehe ich! Das verstehe ich gut!«
»Aber meine Frau sagt…«
»Unsinn! Sie sind ein Künstler!«
»Meine Sie?«
»Aber ja doch. Wie Sie dieses Material bearbeiten, das ist beispiellos. Ich habe noch nie solche Kunstfertigkeit gesehen!«
»Ich möchte ja auch…«
»Sie müssen!«
»Ich muss.« Die Stimme des Alten klang plötzlich rau und brüchig. »Ich muss …«
»Unbedingt!« Mathis hatte sich unterdessen auf einen der bunten Teppiche gekniet und betrachtete mit glänzenden Augen das kleine Kästchen auf dem Beistelltisch. »Dieses Material! Wo kriegen sie es her?«
»Es ist schwer zu bekommen, sehr schwer.«
»Es ist kein Horn, keine Tagua-Nuss … es sieht aus wie echtes Elfenbein.«
»Es ist sehr kostbar.« Der Alte war nach nebenan gegangen, offenbar in die Küche. Mathis vernahm undeutlich metallene Geräusche und das Klappen von Schränken. »Es wird mit Meißeln und Bohrern geformt. Ich noch poliere mit Bimsstein und Scheuerkraut, wie die Alten. Man muss die richtigen Stücke nehmen. Man muss sorgfältig auswählen. Es bleibt so viel übrig. Wie sagt man? Verschnitt.« Der Alte kam zurück. Der Dielenboden knarrte unter seinen Schritten.
Mathis kniete immer noch und öffnete das Kästchen. Da war etwas in seinem Inneren, das ihn stutzen ließ. Zuerst sah es aus wie winzige Kieselsteine, aber als er mit dem Finger hindurchpflügte, erkannte er, worum es sich tatsächlich handelte. Es waren Zähne. Eine ganze Handvoll Zähne.
»Sie haben recht, junger Mann. Meine Frau wird verstehen, dass ich muss«, hörte er die Stimme des Alten jetzt nahe über sich. »Es ist in mir drin. Ich muss.«
Mathis war der festen Überzeugung, dass dies sein Glückstag war. Hier hinter dieser schäbigen Hausfassade verbarg sich eines der wunderbarsten Geheimnisse von St. Ouen. Er drehte den Kopf und sah zu der hinter ihm stehenden, gebeugten Gestalt hinauf.
»Was für ein wunderbares Material!«, sagte er euphorisch.
Der Alte lächelte versonnen und nickte wieder. Erst dann entdeckte Mathis das Beil, das er mit beiden Händen umklammert hielt und im nächsten Moment mit unerwarteter Geschwindigkeit in die Höhe riss.
»Ich muss«, sagte der Alte ächzend.