Tatjana Kruse
Das große Zittern der Chefköche Frankreichs
Gestern Abend
Ich hob den Wikingerhelm mit beiden Händen an. Der Mai Tai Cocktail darin schwappte mir entgegen. Augen zu und durch.
»Schmecken gut?«, wollte der freundliche Kellner wissen. Er war ein frisch importierter Polynesier, trug jedoch das schulterlange Haar platinblond gefärbt zu einem nordischen Lodenwams und einer Thorsberghose – lebendes Symbol für das »Mahi Mahi Walhalla« in Straßbourg, das angesagteste Fusion-Cooking-Restaurant in ganz Frankreich. Chef Jean Levebre war einer der handverlesenen französischen Meisterköche, die sich mit sage und schreibe vier Sternen schmücken durften.
»Danke«, sagte ich und lächelte unverbindlich.
Kaum war er entschwunden, zückte ich mein Notizbuch. Das blieb nicht unbemerkt. Die Kellner tuschelten.
Ich weiß, ich weiß, nicht jeder wäre so undankbar wie ich, wenn er nacheinander ein Vier-Sterne-Restaurant nach dem anderen besuchen und dort, ohne auf das Geld achten zu müssen, die Speisekarte rauf und runter essen dürfte. Aber es war mein Beruf, und was man auf Anweisung und unter Zeitdruck macht, ist irgendwann kein reines Vergnügen mehr, auch, wenn es das ursprünglich einmal war.
Und ganz ehrlich, wer ist schon wirklich ein Fan von Fusion Cooking? Mahi Mahi Walhalla, ich bitte Sie! Wenn Gott gewollt hätte, dass die norwegische und die polynesische Küche sich treffen, dann hätte er Norwegen und Polynesien nicht durch diverse Kontinente und Meere voneinander getrennt.
Als Vorspeise hatte es Knäckebrot mit Kokosmilchbutter und Bananenschiffchen an Dill-Senf-Soße gegeben. Das Hauptgericht hatte sich als eine in Salzlake eingelegte Taro-Wurzel in Stockfischgelee entpuppt. Und ich wollte gar nicht wissen, womit mich Levebre zum Dessert zu überraschen gedachte.
Bitte, beschimpfen Sie mich ruhig als Gourmetnationalistin, aber wenn ich in Frankreich bin, will ich französisch essen!
Da lobte ich mir doch Charles St. Jacques aus dem »Portaufin«. Mein erster Vier-Sterne-Koch auf meiner kulinarischen Rundreise durch Frankreich. Er kochte noch nach den güldenen Regeln von Brillat-Savarin. Bei ihm gab es echte, traditionelle Tafelfreuden. Sein exzellent geführtes Haus im Loire-Tal war ein Genuss für alle Sinne. Und seine Spezialität war ein schlichtes Omelette an Trüffelscheiben, gefüllt mit Würfeln von gebratenem Kapaun. Ein Gedicht, das einem auf der Zunge zerging! Dagegen war dieses Fusionszeugs hier die reinste Feinschmeckerfolter.
Ja, verurteilen Sie mich ruhig, aber ich bin nun einmal eine konservative Esserin. Sie denken doch jetzt bestimmt, ich sei noch eine von diesen Möchtegerns, die nach Abschluss eines Volkshochschulkurses mit dem Titel »Kochen wie Gott in Frankreich« glaubt, als Restaurantkritikerin arbeiten zu können, irgendeine dilettierende Amateuse, die von keiner Großküche auch nur zum Pilzeputzen angestellt werden würde, eine Besserwisserin, die mit manikürten Fingernägeln über hart arbeitende Menschen, die vom Salatputzen schwarze Schlieren unter den Nägeln haben, abfälliges Genörgel in ihr bonbonrosa MacBook Air hackt. Das denken Sie jetzt doch, oder?
Die Kellner von Levebre dachten es auf jeden Fall. Ihre ohnehin kühlen Blicke kühlten noch um zweistellige Celsiusgrade ab, wenn sie mich anschauten. Levebres vierter Stern wackelte seit einiger Zeit, eine neuerliche Überprüfung war überfällig. Und weil ich angesichts der Fusionsfolter etwas säuerlich guckte, hielten sie mich für die Guillotinistin, die ihnen mit einem sauberen Schnitt den vierten Stern und somit das exorbitante Trinkgeld zu rauben gedachte.
Bei Antoine Chamois war es ähnlich gewesen. Er galt ja lange als der neue Bocuse, als junger Vertreter der mittlerweile nicht mehr ganz jungen Nouvelle Cuisine. Sein Gemüsepüree war der Himmel auf Erden. Ungelogen. Das Essen war definitiv alle Sterne wert, die man vergeben konnte. Nur der Service und das Ambiente ließen zu wünschen übrig. Sein Restaurant »Pure« lag nur drei Querstraßen vom »Le Ciel« entfernt, dem Gourmettempel von Patrice LeGrand, einem Vertreter der Molekularküche, der nach einem abgebrochenen Physikstudium bei Ferran Adrià in Barcelona Koch gelernt, sich dann aber im Streit schlagzeilenträchtig von ihm getrennt hatte. Danach hatte Patrice LeGrand unter Beweis gestellt, dass jeder Kochtrend, egal woher er stammte, in Frankreich noch einen Tick besser gemacht werden konnte. Wer ihn jemals am Flammenwerfer bei der Zubereitung von Crème brûlée direkt am Tisch erlebt hatte, vergaß das nie wieder. Die verkokelten Augenbrauen galten in den besseren Kreisen als Adelsschlag für wahre Gourmets.
Noch am selben Abend, als ich mir in Charles St. Jacques’ »Portaufin« auf die gute alte Art den Bauch vollgeschlagen hatte, wurde St. Jacques übrigens von seinem Lebensgefährten Giorgio tot in der Küche aufgefunden. Pikanterweise hatte man ihn nach Art seiner Spezialität ermordet: Statt Kapaunwürfel an Trüffelscheiben gab es nun St. Jacques, gewürfelt und scheibliert.
Keiner dachte sich damals etwas dabei. Kein einziger der Ex-Lover des guten Charles war nämlich gut auf den Spitzenkoch zu sprechen und die Tat roch zehn Meilen gegen den Wind nach einer leidenschaftlichen Beziehungstat. Liebe, die in Hass umgeschlagen war.
Doch dann hatte ich in Paris bei Antoine Chamois gegessen, dem Gemüsepüreegott. Dessen Todeszeit ließ sich später nicht mehr ganz genau bestimmen, weil er nämlich püriert worden war – in einem umgebauten Betonmischer. Da Chamois ein völlig unspektakuläres Privatleben geführt hatte und er vermutlich in seinem Leben nie jemandem auf den Zeh getreten war (und wenn, hätte der das kaum gespürt, Chamois war klein und leicht wie ein Floh), spekulierten die Medien prompt, dass es jemand auf die Spitzenköche Frankreichs abgesehen hätte.
Das große Zittern ging los.
Am meisten zitterten natürlich die, die es eigentlich nicht nötig gehabt hätten, weil sie nur einen oder zwei Sterne besaßen.
Aber als ich dann bei Patrice LeGrand die Molekularküche probieren wollte, fiel mir doch der schrankwandförmige Herr im dunklen Anzug mit dem Knopf im Ohr auf, der vor dem Durchgang zur Küche Wache schob. Das zusätzliche Prickeln der Gefahr sorgte für eine verhuschte Atmosphäre. Und immer, wenn der Meisterkoch mit seinem Flammenwerfer an einen der Tische trat, um seiner Crème brûlée den letzten, heißen Schliff zu verleihen, verstummten sämtliche Gespräche im »Le Ciel« und aller Augen wanderten zu dem Mann, dem man womöglich zum letzten Mal bei der Arbeit zusehen konnte. Was für ein Kick!
Als mich am nächsten Morgen der Radiowecker aus süßem Schlummer riss, überraschte es mich nur wenig, dass man Patrice LeGrand in die ewigen Kochgründe geschickt hatte. Und gar kein bisschen überraschte es mich, dass dies mit Hilfe eines Flammenwerfers geschehen war.
Nun zitterte auch ich ein wenig. Würde der letzte der großen französischen Vier-Sterne-Köche aus Angst um sein Leben dem Restaurantbetrieb den Rücken kehren, noch bevor ich Gelegenheit hatte, seine gewagte polynesisch-norwegische Fusionsküche zu testen? Im Grunde sollte er sich sicher fühlen: Seine toten Kollegen hatten sich alle durch eine besondere Spezialität ausgezeichnet – und diese Spezialität war dann auch zu ihrem Weg ins Jenseits geworden: gewürfelt, püriert und flambiert. Levebre dagegen hatte keine Spezialität. Nie gehabt. Er glaubte aus der Tiefe seines Herzens an immer neue Spontanrezepte. Und an die achte Muse, die Muse der Kochkunst, die bei ihm allerdings ein Mann war, denn natürlich konnten nur Männer geniale Spitzenköche werden.
»Madame, der Maître kommt nun zu Ihnen«, wisperte eine ätherische Elfe, die in der Rangordnung der Kellner irgendwo ganz unten dümpelte, mit Ehrfurcht in der Stimme.
Na gut, endlich Dessert. Wiewohl ich skeptisch war. Wahrscheinlich Sorbet aus gebeiztem Lachs an Yamswurzel. Oder blanchierte Heringspralinen an Maniokschaum.
Ich sah auf die Uhr.
Nicht auszuschließen, dass Levebre draußen in der Küche gerade einen rituellen polynesischen Dankbarkeitstanz aufführte, um Gott Thor gnädig zu stimmen.
»Hallo, schöne Frau«, sülzte plötzlich ein sehr haariger, sehr gedrungener Mittvierziger im weißen Kittel neben mir. »Mein Nachtisch heute, ganz speziell für Sie, ein Papaya-Stockfisch-Mango-Spieß.« Er stellte mir den Teller höchstselbst vor die Nase. Das hatte er bei den anderen Gästen nicht getan. Die anderen Gäste trugen unter dem aufgeknöpften Chanel-Jäckchen ja auch keine Spitzencorsage, die die Körbchengröße Doppel-D besonders deutlich unterstrich.
»Mit diesen meinen Händen gezaubert«, gurrte der Meister und hob seine haarigen Hände. »Sie werden es lieben. Es gab noch nie zuvor von einer Frau Beschwerden.«
»Ja klar«, dachte ich, »weil Sie es sonst immer nur mit aufblasbaren Frauen zu tun haben.«
Mit der Anmache hatte ich gerechnet. Levebre war als Frauenheld berüchtigt.
Ach ja, danke, dass es Spieß gab. Das machte es mir einfach. Er würde also aufgespießt werden.
Ich bin nämlich keine Restaurantkritikerin.
Ich bin Auftragsmörderin.
Jetzt könnte man denken, mein Auftraggeber wäre ein anderer Sternekoch, der sich der Konkurrenz entledigen wollte.
Falsch. Ganz kalt.
Es waren auch nicht die diversen Sterne, Kochlöffel und Kochmützen verteilenden Printmedien, die endlich mal für frischen Wind sorgen wollten – von wegen gebt dem Nachwuchs eine Chance. Nein. Auch kalt.
Und es war auch kein Gourmetkritiker, der auf Anraten seines Arztes auf Diät gehen musste und durch Serienmord an den Spitzenköchen versuchte, jedwede Versuchung zu eliminieren. Das wäre ja meine Lieblingsvariante gewesen.
Nein, viel prosaischer. In aller Welt galt Frankreich als das Schlaraffenland schlechthin, was das Kochen angeht. Nicht umsonst hieß es »Essen wie Gott in Frankreich« und nicht »Essen wie Gott in Albanien«. Die französische Küche war das Maß aller Dinge. Das ärgerte manch ein anderes Land, vielleicht sogar ein angrenzendes Nachbarland, in dem auch fein gegessen wurde. Und zwar ein ganz bestimmtes Nachbarland. Ich nenne keine Namen, aber die dortige Vereinigung der Spitzenköche war mit einem Angebot an mich herangetreten, zu dem ich einfach nicht nein sagen konnte.
»Nur zu, kosten Sie!«, forderte mich Levebre auf.
Mit spitzen Fingern nahm ich den Spieß und zuzelte eine Mango herunter. Sie schmeckte nach salziger Fischmarinade. Ich lächelte trotzdem.
Levebre nickte stolz und küsste sich die aneinandergelegten Daumen- und Zeigefingerspitzen. »Magnifique, nicht wahr!«, konstatierte er selbstbewusst.
Ich hätte ihm die Salzmango gern vor die Füße gespuckt. Er hatte etwas ungeheuer Schmieriges. Bestimmt war er Bigamist oder Trigamist oder noch schlimmer. Und seine Mutter hatte er mumifiziert an einen Schaukelstuhl auf dem Dachboden gefesselt. Bei ihm würde mir das Töten leicht fallen. Ich würde ihn auf meinen Stockschirm spießen.
Es war meine ureigenste Idee gewesen, jeden der Köche im Stil ihrer Spezialität zu töten. Man hat als Profi ja gewisse Ansprüche und will seine ganz eigene Handschrift hinterlassen. Und ihm würde ich nicht einmal auflauern müssen, er würde mir in seinem Hormonrausch freiwillig in den Schirm springen.
»Wollen Sie mir zum Kaffee nachher noch Gesellschaft leisten?«, hauchte ich lasziv und beugte mich so vor, dass er mein Dekolleté in voller Schönheit genießen konnte.
Das verschlug ihm kurzzeitig den Atem.
Ich lächelte siegesgewiss.
Bis…
»Da ist Sie! Madame, keine Bewegung. Sie sind verhaftet!«
Mist.
Eine Kommissarin im Bibliothekarinnenlook schob den Chefkoch beiseite und trat an meinen Tisch. »Das Spiel ist aus!«
Wie theatralisch. Aber es hatte einen gewissen Hollywoodstil, und dem zollte ich mit einem Nicken meines Kopfes Respekt. »Noch nicht ganz«, sagte ich und katapultierte mit einer oft geübten Kickboxbewegung den kleinen, runden Tisch nach vorne. Mangos, Gläser und Gabeln flogen durch die Luft. Der Tisch traf die beiden flics, die die Kommissarin begleiteten, unvermutet und heftig und vornehmlich am Solarplexus. Sie gerieten ins Taumeln.
Ich sprang auf und schleuderte meine Birkin-Bag schwungvoll der Kommissarin, die gerade ihre Waffe zückte, an die Schläfe. Sie ging in die Knie.
Ich wirbelte herum, zerschlug den Stuhl, auf dem ich eben noch gesessen hatte, griff mir zwei Stuhlbeine und verpasste damit erst den flics warme Ohren und gleich darauf der Kommissarin eine dicke Beule am Hinterkopf. Alle drei lagen daraufhin bewusstlos am Boden.
Die Gäste, die Kellner, Levebre – alle verharrten verdutzt in völliger Reglosigkeit. Aber das würde nicht lange so bleiben. Ich musste schnell handeln.
Daran erkennt man den Profi: Kurzfristig umdisponieren. Es ging um eine Viertelmillion. Pro Koch, versteht sich. Ich überlegte kurz, ob ich Levebre mit einem Stuhlbein aufspießen sollte, aber dann entschied ich mich doch gegen mein Gesamtkunstwerk und für die Dienstwaffe der bewusstlosen Kommissarin. »Plopp«, machte die Walther PPK, und die Welt war um einen Fusionskoch ärmer.
Beim Sprint zur Hintertür warf ich noch zwei Scheine Trinkgeld in den leeren Mai Tai-Wikingerhelm.
Heute Abend
Endlich wieder zu Hause in Straßbourg. Ich habe mir meine übliche Belohnung verdient. Nach Hardcoreshopping in Perücke und Trenchcoat – bis man vom Tütentragen kein Blut mehr in den Fingern hat und nur noch quer zur Tür hereinkommt – ein gutes Essen. Und zwar endlich wieder so, wie es mir gefällt.
Bei Jean-Francois. Mit einlagigen Papierservietten. Und einer Papiertischdecke, auf die man tropfen und krümeln darf. Ja, muss!
Mit dem Hauswein, den sein Vetter dritten Grades als begnadeter Hobbywinzer produziert. Der absolut deliziös ist, obwohl man meint, die schwieligen Füße zu schmecken, mit denen der Vetter die Trauben zertreten hat.
Mit Blick auf das Münster. Wenn auch nur an einem einzigen Tisch und auch nur, wenn man sich ganz weit zurücklehnt und den Hals in den Nacken legt.
Mit Jean-Francois, dem Wirt in Netzhemd und angeschmuddelter Schürze über der Trainingshose, der in diesem Moment hinter der Theke steht und ein nichtbauchiges Rotweinglas mit einem Küchentuch trockenreibt, das aussieht, als hätte er zuvor damit seinen Wagen poliert.
Und mit dem Gericht, das Frankreich zu dem gemacht hat, was es ist. Zu der grande nation! Vergesst Foie gras und Trüffelpasteten, Bouillabaisse und Weinbergschnecken, Quiche und Austern, Cassoulet oder Soufflé.
Frankreichs Küche mag für andere Dinge berühmt sein, aber Frankreichs Mägen werden Tag für Tag durch eines beglückt und gestärkt: Sandwich au Jambon!