Niklaus Schmid
Wohnungstausch
»Halbe Mio! Du hast eine Woche Zeit.«
Nur diese Frist und die Summe, nicht mal besonders drohend die Stimme. Aber Christian Tammer lief ein kalter Schauer über den Rücken. Halbe Mio, das war seine Ausdrucksweise. Die kannten ihn, das waren keine Trittbrettfahrer.
Die Lage wurde ernst.
Angefangen hatte es mit einem Einbruch in sein Büro. Tammers Augen huschten über die Wand, auf der trotz eines neuen Anstrichs immer noch die Sprühschrift zu erkennen war:
Drecksäcke wie du machen schon wieder Gewinne. Mit unserem Geld.
Es folgten Drohbriefe per Internet. Der letzte schloss mit der Aufforderung: »Wir wollen unser Geld zurück. Auf ein Konto, das wir dir in den nächsten Tagen am Telefon nennen.«
Zum wiederholten Male kontrollierte er die Absender der E-Mails, fand aber keinen Hinweis. Sie konnten vom anderen Ende der Welt oder aus dem Nachbarhaus kommen. Ebenso der Anruf eben: Halbe Mio! Du hast eine Woche Zeit.
Tammer klappte den Rechner zu. Sorgfältig verschloss er die Bürotür mit dem neuen Sicherheitsschloss. Auf der Treppe zur Tiefgarage überkam ihn, wie schon in den Tagen zuvor, ein ungutes Gefühl, das sich auf dem kurzen Weg vom Bürogebäude zu seiner Wohnung noch steigerte. Immer wieder blickte er in den Rückspiegel. Der Minibus hinter ihm, die ganze Zeit schon. Der Typ mit der Sporttasche an der Ampel, der grinste ihm frech zu.
Die Großstadt sei ein Dschungel, hatte Tammer mal in einem Wirtschaftsmagazin gelesen. Darüber konnte er nur lachen. Jeder gegen jeden wie im Urwald, das wäre ja sogar noch zu ertragen. Alle gegen einen, gegen ihn, so sah es verdammt noch mal doch aus! Und wer konnte ihm helfen? Niemand! Die Polizei würde sehr schnell auf sein Schneeballsystem stoßen, und dann – nicht auszudenken.
Sein Handy meldete sich. Tammer blickte auf die Anzeige. Unterdrückte Rufnummer. Er nahm trotzdem ab.
»Versuch nicht zu fliehen. Wir kriegen dich.« Dieselbe Stimme wie vorhin, ruhig, aber wirkungsvoll. Um ein Haar hätte Tammer beim Abbiegen den Radfahrer übersehen.
Fliehen? Wohin denn? Im Dschungel gab es wenigstens Verstecke, in den Städten nicht. Jeder Gang auf die Straße barg Gefahren. In den Aufzügen der Hochhäuser konnten sie lauern, in den Stadtparks, in jedem Hauseingang. Viele waren es, mehr als hundert, die er um ihr Geld gebracht hatte, eine Menge Geld. Ein paar Kleinsparer, zugegeben, waren auch darunter, aber bei der Mehrzahl der Geprellten handelte es sich doch um Großverdiener, die ihr Schwarzgeld an der Steuer vorbeischleusen wollten. Halbseidene Restaurantbesitzer, Bordellbetreiber, fehlinformierte Fußballprofis. Unter all den großen und kleinen Gierigen gab es wohl auch echte Gangster, die ihm nur deshalb das Geld gegeben hatten, damit es vom großen Finanzjongleur Christian Tammer gewaschen wurde.
Und bei diesem Waschvorgang war die eine oder andere Summe eben abhanden gekommen. War weg, verbrannt, wie es in Finanzkreisen hieß. So etwas kam vor, das war nun mal das Risiko, wenn man traumhafte Renditen erwartete. Und sie eine Zeit lang ja auch einsackte. Alle hatten gut verdient, Tammer selbstredend auch.
Doch irgendwann hatte das System gestockt.
»Geben Sie mir ein, zwei Monate«, hatte er seine Klienten damals gebeten. Die meisten hatten zugestimmt, per Brief, Fax oder E-Mail. Mit frischem Geld konnte er die Löcher notdürftig stopfen. Doch das ging nur so lange gut, bis dann mit der Pleite von Lehman Brothers die große Krise begann und der Geldfluss ganz versiegte. Wieder bat Tammer seine Klienten um Aufschub, doch jetzt glaubten sie ihm nicht mehr. Sie vermuteten, dass er das Geld inzwischen beiseite geschafft habe. Der Ton wurde rauer. Die Medien berichteten von Selbstjustiz. Vier Geschädigte hatten ihren Anlageberater entführt, in einen Keller gesperrt und mit Schlägen gezwungen, ein Fax zu schreiben, in dem der Entführte seine Schweizer Bank aufforderte, einen hohen Betrag an die Erpresser zu überweisen.
Die »Rentner-Gang«, hieß es wenig später, wurde von der Polizei festgenommen.
Unter Kollegen sprach man von einem Einzelfall. Tammer hatte aufgeatmet. Bis zu dem Anruf heute. Halbe Mio! Du hast eine Woche Zeit.
Als er per Fernbedienung das Garagentor öffnete, erschien seine Frau in der Haustür. Zum eleganten Kleid trug sie eine weiße Schürze. Reine Dekoration, wie Tammer wusste, denn in der Küche war Angela die absolute Null, ihre Stärke lag mehr im Schlafzimmerbereich.
Sie gab ihm einen Kuss. »Hat mein Hase Ärger gehabt?«
»Nein, alles bestens, Engelchen. Ein bisschen abgespannt.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Weißt du was: Wir sollten uns einen Urlaub gönnen. Eine Woche oder zwei oder mehr. Oder sogar viel mehr. Die richtige Erholung, so sagt man ja, beginnt erst nach einer gewissen Zeit.« Tammer knipste sein Verkäuferlächeln an. »Was hältst du davon?«
Engelchen hielt sehr viel davon. Doch nach einer Weile fragte sie: »Ein längerer Urlaub, toll, ja, aber was ist mit dem Haus, mit den Katzen, mit unserem schönen Garten?«
»Da hab ich schon eine Idee. Lass das mal den Papi machen.«
Was den Altersunterschied betraf, so konnte Tammer wirklich Engelchens Papi sein. Und dass das Internet nicht nur seine unberechenbaren Seiten hatte, das wusste er auch.
Während Engelchen eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle schob, gab er ein paar Suchbegriffe bei Google ein. Er drückte die Eingabetaste und kurz darauf, als ihm die Küchenfee mitteilte, dass der Käse auf der Pizza zu schmelzen anfange, da hatte er auch schon die ersten Ergebnisse auf dem Bildschirm.
»Billiger und einfacher geht es nicht«, sagte Tammer nach dem Essen zu seinem Engelchen. Er führte den Mauszeiger über den Bildschirm. Die Webseite hieß private-holiday-service.com .Während sie ihm über die Schulter schaute, füllte er das Anmeldeformular aus. Erste Zeile: Wohnungstausch auf Gegenseitigkeit und zeitgleich. Klick. Es kamen noch ein Dutzend anderer Punkte, doch schnell waren auch hier die Häkchen gesetzt. Kurz darauf erhielt er eine Mitgliedsnummer und konnte in der Datenbank stöbern, die nach dem Motto »Ich wohne bei Ihnen, Sie wohnen bei mir« die Angebote einiger Tausend Tauschpartner enthielt.
»Schau mal, das sind alles Leute, die Wohnungen oder Häuser untereinander tauschen wollen. Du kannst wählen, Norden oder Süden?«
Angela rümpfte die Nase. »Wenn überhaupt, dann schon Süden.«
»Finca oder Almhütte?«
»Muss das sein?« Angela kaute unentschlossen an ihrer Unterlippe. »Du weißt, ich langweile mich auf dem Land.«
»Es ist besser so, jedenfalls für eine Weile. Also, wie wär’s mit einem Strandhaus in Südfrankreich? Da ist es um diese Jahreszeit besonders ruhig.« Tammers Stimme bekam den Ton eines gewieften Immobilienmaklers. »Fischerhäuser, knisterndes Kaminfeuer, gesunde Meeresluft – nun, Engelchen?«
»Müssen wir wirklich weg?«
»Ja. Ist nur für eine Übergangszeit. Du weißt doch, auf Regen folgt Sonne, nach Pleiten werden wieder Mios gemacht.«
Engelchens Augen wurden noch eine Spur gleichgültiger. Tammer seufzte und begann, die Adressen der Tauschwilligen in Südfrankreich zu notieren. Dann griff er zum Telefon, um Erkundigungen einzuholen. Wichtigster Punkt war, wer von den Hausbesitzern zum sofortigen Tausch bereit wäre. Denn Tammer hatte es ja eilig.
Monsieur Pitello gehörte offenbar zu jenen Menschen, die entschlossen und stets reisefertig waren. Und er hatte ein Haus am Meer.
Tammer wünschte genauere Angaben. Er kramte sein Schulfranzösisch aus: »Où est exactement votre maison?«
»In Callelongue. Nicht weit von Marseille, in einer Bucht der Calanques«, kam es auf Deutsch zurück.
»Am Strand, aber bedeutet das nicht viel Trubel?«
»Non, non, zwar nahe am Meer, aber ganz abgelegen, Monsieur. Nur Möwen und Fischer.«
Es war genau das, was Tammer suchte.
Die beiden folgenden Tage nutzte er dazu, die Antiquitäten und was er sonst noch an Werten besaß, zu verkaufen. Immer wieder kam ihm die letzte SMS in den Sinn: Dir bleiben fünf Tage. Versuch nicht zu fliehen. Wir kriegen dich! Auch in der Karibik! Überall!
Karibik? Das Bargeld würde nicht mal reichen, um dort die nächsten Wochen zu überstehen. Klar, irgendwann würde es besser werden. Ein paar Eisen hatte er immer noch im Feuer. Seit Tagen wartete er auf den Anruf eines Großkunden. Wichtig war, die Zeit bis dahin zu überbrücken. Er musste aus der Schusslinie kommen. Es galt zu überleben.
Während er das Bargeld zählte, summte sein Handy. Eine neue SMS:
Noch drei Tage! Wir kriegen dich …
Vielleicht ja, dachte Tammer, vielleicht aber auch nicht.
Das Ehepaar Pitello sah anders aus, als Christian Tammer sich die Besitzer eines südfranzösischen Strandhauses vorstellte. Mit seinem Cordanzug sah Carlos Pitello aus wie ein Dorfschullehrer, trotz der Rolex an seinem Handgelenk. Seine Frau Simone hatte langes, blondes Haar, trug eine modische Brille und war viel jünger als ihr Mann. Auch sie sprach Deutsch, ausgezeichnet sogar, mit nur einem kleinen Akzent. »Ich stamme aus dem Elsass. Carlos’ Vorfahren kamen aus Italien und Spanien, wie die so vieler Leute aus Marseille. Unser Haus in Callelongue ist für die Ferien. Wir werden es erst wieder im nächsten Sommer benutzen.«
»Aber warum … ?«
»Wegen der Sprache, wir wollen unser Deutsch auffrischen«, übernahm Carlos Pitello. »Wir möchten das Ruhrgebiet besuchen. Europäische Kulturhauptstadt, wunderbar, ein riesiges Programm. Und Sie, warum Frankreich?«
»Hm, das gute Essen, das Meer. Ja, und natürlich auch, um unser verschüttetes Schulfranzösisch zu verbessern.« Tammer klang überzeugend. Man lachte viel, machte Komplimente und kam dann zum Geschäftlichen.
»Am Telefon sprachen Sie von einem Monat«, sagte Pitello nach einem Rundgang durch Tammers weitläufigen Bungalow.
»Einen Monat oder zwei, kommt ganz darauf an, wie es uns bei Ihnen im Süden gefallen wird.«
»Schauen Sie selbst.« Pitello zog eine CD aus seiner Aktentasche.
Tammer schaltete den Computer ein, gemeinsam betrachteten sie die Fotos.
Die Aufnahmen zeigten ein allein stehendes Haus in karger Landschaft.
»Eine der typischen cabanons, eine ehemalige Fischerhütte, die wir modernisiert haben. Die Natursteinmauer, die Sie hier sehen, schützt das Haus vor dem Wind, dem Mistral«, erklärte Simone Pitello.
Tammer tat erschrocken. »Aha! Das ist also der Grund, warum Sie von der Küste weg wollen. Ihnen selbst ist es dort um diese Jahreszeit zu rau.«
»Ach, nein«, Carlos Pitello lachte, »hin und wieder brauchen wir die Ablenkung einer Großstadt, aber es sollte eben nicht Marseille sein, sondern, aus besagten Gründen, eine deutsche Großstadt: Die Theater bei Ihnen, die Konzerte mit klassischer Musik, und hin und wieder ein Einkaufsbummel, denn gewisse Dinge sind bei Ihnen billiger als bei uns. Deshalb kam uns Ihr Angebot auch gerade recht, und … ach, Ihr portable.«
»Entschuldigen Sie bitte.« Tammer machte einen Schritt zur Seite und musterte sein Handy:
Noch 48 Stunden!
Aus verschiedenen Sonderzeichen hatte der Absender einen Galgen gebastelt. Tammer ließ sich den Schreck nicht anmerken, lächelnd wandte er sich dem Besuch zu: »Tja, sehen Sie, so ist das, wenn man überall erreichbar sein muss. Deshalb suchen wir, im Gegensatz zu Ihnen, Ruhe und Abgeschiedenheit.« Und mit einem vieldeutigen Blick auf Angela: »Für eine Weile wollen wir mal wieder viel, viel Zeit nur für uns alleine haben.«
»Ja dann.« Pitello nickte vielsagend.
Tammer hatte noch die Frage auf der Zunge, welcher Art von Geschäften sein Tauschpartner nachging, unterdrückte sie aber, um nicht selbst gefragt zu werden.
Die Formalitäten waren schnell erledigt. Tammer zog den Korken aus einer Flasche mit Rheinwein und füllte die Gläser. Man trank auf den Wohnungstausch, besprach noch einmal dessen Vorteile und verabredete, per E-Mail in Kontakt zu bleiben.
»Und, ach«, warf Tammer zum Schluss noch ein, »falls mal jemand nach unserer neuen Adresse fragt, dann sagen Sie doch einfach, die sei Ihnen nicht bekannt. Denn, wie gesagt, wir wollen unsere Ruhe haben.« Augenzwinkernd drehte er an seinem frisch polierten Ehering.
Als sich sein Handy das nächste Mal meldete, befanden sich Christian Tammer und seine Frau Angela schon in Südfrankreich auf der Autobahn zwischen Lyon und Marseille.
Noch 24 Stunden!
Nach Südfrankreich wegen des guten Essens, hatte Tammer vor den Pitellos gelogen. In Wirklichkeit sah er Marseille nicht als die Heimat der berühmten Bouillabaisse, sondern verband den Namen von Frankreichs zweitgrößter Stadt mit Schlagzeilen wie »Knotenpunkt des internationalen Verbrechens … Hochburg rechtsradikaler Politiker … sozialer Brennpunkt.« Nur schnell weiter. Von den südlichen Bezirken der Stadt bis zum Zielort Callelongue waren es nur wenige Kilometer.
Angela wollte sich den kleinen Hafen ansehen. Also hielten sie kurz an und nutzten die Gelegenheit, um Lebensmittel einzukaufen. Die letzte Wegstrecke bis zum Ferienhaus folgte Tammer einer Skizze, die Pitello für ihn angefertigt hatte. Sie fuhren entlang der Steilküste der Calangues, sahen rechter Hand das Meer, türkisfarben, klar bis auf den Grund, und links die Kalkfelsen, auf denen die Strahlen der Herbstsonne lagen.
»Wildromantische Gegend«, sagte Tammer nach einem Rundblick über die fjordartige Bucht mit den vereinzelten Häusern im spärlich bewachsenen Gelände. »Na, Engelchen, was sagst du dazu?«
Engelchen zog eine Schnute.
Das Haus aus Natursteinen, mit kleinen Fenstern, einer massiven Tür und einem Vordach, sah nicht ganz so idyllisch aus, wie es die Fotos auf der CD versprochen hatten. Doch für Tammer erfüllte es den Zweck. Es lag sehr abgelegen und war schwer zugänglich. Nicht einmal die Funksignale fürs Handy kamen durch. Die Einrichtung war eher spartanisch als gemütlich. Ein Schlafzimmer mit zwei Betten. Im Wohnraum gab es einen Tisch mit vier Stühlen, an den Wänden hingen Kalenderdrucke und eine Kuckucksuhr. Vor dem offenen Kamin standen zwei Korbsessel und auf dem Boden ein Fernsehapparat.
»Guck dir das an! Keine Parabolantenne fürs Satellitenfernsehen, kein Telefonanschluss, nicht mal eine Mikrowelle«, schimpfte Angela. Sie war, als sie den Wagen verließ, mit den Absätzen in den Steinen hängen geblieben. Einmal in Schwung, machte sie ihre Wünsche deutlich: »Christian, ich möchte mit Pumps über gepflasterte Wege gehen und nicht mit Wanderschuhen und Windjacke durch Geröll stampfen. Und was sollte vor den Pitellos diese Arie mit der Ruhe? Ich brauche keine Ruhe, ich nicht. Was ich brauche, ist ein Frisör in der Nähe, sind Leute, mit denen ich mich über Mode unterhalten kann, zivilisierte Nachbarn, keine Höhlenmenschen!« Sie wies auf die Nachbarhäuser in der Ferne.
»Engelchen, hör mal …«
»Hör du mal zu! Fünf Jahre war Engelchen deine Sekretärin.« Sie machte eine rüde Körperbewegung. »Seit zwei Jahren sind wir verheiratet«, sie lachte bitter auf, »und du markierst vor den Pitellos den verliebten Esel.«
»Engelchen!« Tammer strich ihr besänftigend über die Wange. »Das war der plausibelste Grund, um den beiden Froschfressern klarzumachen, warum es uns zu dieser Jahreszeit an ihren bescheuerten Küstenstrich zieht. Du weißt doch, warum wir hier sind.«
»Du meinst, hier sind wir sicher?«, fragte Angela halbwegs versöhnt.
»Ganz sicher, Engelchen, und bald ist Gras über die Geschichte gewachsen. Dann geht es zurück in die Stadt, in unseren Bungalow, zurück in die Zivilisation mit ihren Bars und Boutiquen, Wohlfühlbädern und tollen Frisören.«
Und zu den kabellosen Internetanschlüssen, fügte er in Gedanken hinzu.
Während er so sprach, ging die Sonne unter. Für ein paar Minuten hing sie wie ein Spiegelei über dem Horizont, dann tauchte sie ins Meer.
Tammer blickte auf die Wanduhr, aus der in diesem Moment der Kuckuck hüpfte und die volle Stunde verkündete. In Tammers Heimatstadt, rund tausend Kilometer entfernt, war jetzt die Frist abgelaufen.
Am nächsten Morgen machte er einen Spaziergang nach Callelongue, setzte sich in ein Internetcafé und rief mit seinem Netbook die Post ab. Keine Nachricht von seinem Großkunden, dafür eine neue Drohung. Seine Verfolger hatten ihm eine allerletzte Frist gesetzt, was Tammer nun aber kalt ließ. Er schrieb den Pitellos eine E-Mail, dass er gut angekommen und mit ihrem Haus sehr zufrieden sei. Umgehend kam die Antwort: Alles sei bestens, man füttere die Katzen und würde sich auch um die Blumen kümmern. Au revoir, ciao und tschüs, Simone und Carlos.
Nach einem weiteren Café Crème, kaufte er in dem Kramladen nebenan außer Grundnahrungsmitteln noch Olivenöl, Zwiebeln, rote Paprikaschoten und Sardellenfilets. Vielleicht konnte er Angela doch ermuntern, auf dem mit Propangas betriebenen Herd eine Pizza zu backen. Die Verkäuferin empfahl ihm zu dieser »Pissaladière«, wie sie es nannte, einen Roséwein aus der Provence. »Wunderbar, Monsieur!« Sie verdrehte die Augen. Tammer nahm gleich zwei Flaschen, das würde die Stimmung in der Hütte heben.
Engelchen saß vor dem Fernseher, in dem eine Musiksendung lief. »Warst lange weg.«
»Ich hab unterwegs Leute getroffen. Zwei Männer mit Tauchausrüstung. Stell dir vor, was die in einem Netz hatten: Jede Menge Seeigel! Seeigelfleisch gehöre in die Rouille, diese sämige Soße, die man zur Fischsuppe reicht, haben sie gesagt.«
»Und was ist das?« Sie deutete auf Tammers Einkauf.
»Zutaten für eine Pizza nach Landesart, Pissaladière.«
»Wie sich das schon anhört. Kannst du alleine essen!«
Tammer schnappte sich eine der beiden Roséflaschen, setzte sich unter das Vordach und schaute in die Ferne. Die Bucht war heute kaum sichtbar, das Meer draußen bleigrau. Bald würde es regnen.
Es war am Ende der ersten Woche ihres Aufenthalts. Nach zwei Regentagen schien wieder die Sonne. Die Situation in dem Ferienhaus entspannte sich. Angela hatte pinkfarbene Wanderstiefel entdeckt, in denen sie erste Gehversuche hinunter zum Strand machte. Tammers Verdauung hatte sich eingependelt und nach Monaten der Lustlosigkeit hatte er wieder angefangen, mit seiner Frau zu schlafen. Er genoss die Ruhe und die gute Luft und der Spaziergang ins Dorf war zu einem Ritual geworden.
Wenn er das Internetcafé betrat, wurde er mit einem »Bonjour, Monsieur!« vom Wirt begrüßt, der ihm anschließend ohne Aufforderung den Milchkaffee und ein Croissant brachte. So war es auch heute. Tammers Laune besserte sich noch, als er die Post abrief. Sein Großkunde hatte angebissen, endlich. Die Aussicht auf neue Mios war gestiegen, vielleicht würde er sogar schon sehr bald seine Altkunden besänftigen können. Nachdem er den Pitellos, von denen diesmal keine E-Mail im Postfach lag, ein paar Zeilen geschrieben hatte, las Tammer wie üblich die Börsennachrichten und anschließend die Online-Ausgabe seines Lokalblatts.
Das Wetter war schlecht und die Politik nicht gut auf die Finanzberater zu sprechen. Das war nicht wirklich neu. Tammer grinste, doch dann stieß er auf eine Meldung, die ihn erstarren ließ:
»… wurde das Ehepaar P. in dem Bungalow von Unbekannten überfallen. Die Maskierten stülpten dem Mann einen Sack über den Kopf und schlugen brutal zu. Er ist schwer verletzt und noch nicht vernehmungsfähig. Die Frau steht unter Schock. Von einer heißen Spur kann bisher keine Rede sein. Erschwert werden die Suche nach den Tätern sowie die Aufhellung des Tatmotivs durch den Umstand, dass es sich bei den Opfern nicht um die ständigen Bewohner des Hauses handelt. Die Polizei will nicht ausschließen, dass es sich um eine Verwechslung handelte.«
Es folgte eine Beschreibung der Opfer, deren Identität Tammer schon erraten hatte, sowie die Aussage eines Augenzeugen aus der Nachbarschaft, der zwei Männer beobachtet hatte:
»Sie stiegen aus einem Minibus, klingelten an der Tür der Tammers, schoben die junge Frau zur Seite und betraten das Haus. ›Na, na‹, dachte ich, ›komischer Besuch. Und dann so früh.‹ Als die Männer weg waren, ging ich rüber und dann sah ich, was passiert war …«
Tammer kopierte den Artikel auf die Festplatte seines Netbooks und machte sich auf den Rückweg. Wie sollte er sich verhalten? Welche Auswirkungen hatte der Anschlag? Als Finanzberater war er es gewohnt, auch schlechte Nachrichten positiv zu bewerten. Doch so ganz hatte er sein Gesicht nicht unter Kontrolle.
»Was ist los, Hase?«, wollte Angela wissen.
Hase hatte eine gute und eine schlechte Nachricht.
»Erst die schlechte«, sagte Angela.
»Tja, die Erpresser haben ihre Drohung wahr gemacht. Mussten sie wohl, um glaubhaft zu bleiben.« Tammer trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Deckel des Netbooks. »Hier steht’s, kannst du gleich in Ruhe lesen. Sie haben es selbst gemacht oder, wahrscheinlicher, Schläger in unser Haus geschickt, Typen, die drauflos gehauen haben, ohne sich zu vergewissern, wen sie überhaupt vor sich haben. Tut mir ja leid, dass es die harmlosen Pitellos erwischt hat, aber besser unsere Tauschpartner, als wenn sie uns … «
»Und was machen wir jetzt?«
»Nichts! Abwarten, Engelchen. Da unsere Verfolger ihre Rachegelüste gestillt haben und zudem die Polizei jetzt aktiv ist, können wir bald wieder zurück. Denn, und jetzt kommt die gute Nachricht, bald fließen wieder die Mios. Als Erstes gründen wir eine Firma unter deinem Namen. Anschließend werde ich in einer seriösen Zeitung eine Anzeige aufgeben. Überschrift: ›Kapitalanleger gesucht‹. Geschäftsführer der neuen Firma bin natürlich ich.«
»Ja, und ich?«
»Du spielst wieder, um das Bild vom soliden Geschäftsmann abzurunden, die charmante junge Ehefrau.«
Angela verzog ihren Mund, der für die Ehefrau eines soliden Geschäftsmannes eine Idee zu grell geschminkt war.
Am Nachmittag, es war Samstag, konnte Tammer das beobachten, was Pitello ihm geschildert hatte: Er sah Männer und Frauen mit kleinen Booten aufs Meer fahren, während andere ihre Angelruten in den Felsen verkeilten, um vom Ufer aus Jagd auf Kraken und Fische zu machen, die sie später auf einen provisorischen Grill werfen würden. »Dann werden Sie in der Ferne kleine Feuer wie Glühwürmchen leuchten sehen und der Geruch nach gegrilltem Fisch und Knoblauch wird sich mit dem Duft von Thymian, Salbei und Rosmarin mischen und bis zu Ihnen hinaufziehen. Das wird Ihnen Appetit machen, Herr Tammer. Gehen Sie ruhig hinunter, ich denke, man wird Sie einladen.«
Es war genauso, wie Pitello es vorausgesagt hatte; und plötzlich verspürte Tammer ein Glückgefühl, wie er es sonst nur bei besonders gelungenen Geschäftsabschlüssen empfunden hatte. Jetzt zu den Familien hinuntergehen? Nein, das wollte er nun doch nicht. Aber etwas anderes kam ihm in den Sinn. Er schaute seiner Frau in die Augen, wie schon lange nicht mehr. »Engelchen, mir wäre jetzt danach, vor dem Kamin.«
»Ach, Hase, denk doch mal an die armen Pitellos«, antwortete sie, entzog sich aber nicht seinen Händen.
Tammer strich ihr gerade zärtlich über die Hüfte, als es an der Haustür klopfte und eine Stimme rief: »Hé, Monsieur! C’est moi, Robert, votre voisin!«
»Engelchen, weißt du, was das Schöne an diesem eigentlich doch eher miesen Küstenstrich ist?«, fragte Tammer und gab sich selbst die Antwort. »Wenn hier jemand klopft, kann man sich sicher sein, dass es höchstens ein Fischer ist, der seine Nachbarn zum Grillen einladen oder ihnen die frisch gefangenen Rotbrassen bringen will.«
Er öffnete die Tür.
Die beiden Männer trugen Wollmützen und Windjacken, wie sie bei den Fischern üblich waren – und in den Händen große Revolver.
»Carlos Pitello?«, fragte der eine, aber es klang nicht wie eine Frage.
»Ja, aber ich bin nicht … ah! Non, non, je ne suis pas Monsieur Pitello, non, non, s’il vous plaît …!«, stammelte Christian Tammer.
Angela kam herangestürzt.
Tammer schrie: »Nicht sie, bitte, bitte nicht sie!«
Er nahm wahr, dass die beiden Männer fast gleichzeitig schossen. Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Unterleib. Er krümmte sich, ging auf die Knie. Seine Stirn berührte einen Fisch, den die Männer auf die Schwelle gelegt hatten. Warum einen Fisch? Als Zeichen für Verrat? Es war doch die Mafia, die immer irgendwelche Zeichen hinterließ…
Eine Sekunde lang machte er sich noch Vorwürfe, dass er seinen Wohnungstauschpartner nicht gefragt hatte, mit welcher Art von Geschäften der eigentlich sein Geld verdiente.
Doch dann war auch das nicht mehr wichtig.