Ingrid Schmitz
Weißt du noch?

Ich schloss die Tür auf und rief »Hallo Paps!« in den Flur. Er sollte sich nicht erschrecken, wenn ich plötzlich im Wohnzimmer auftauchte. Wie jeden Montagmorgen versperrte der Korb mit den leeren Flaschen den Hauseingang. Ich schob ihn beiseite. »Paps? Paaaps!«

Da hörte ich eine weibliche Stimme. Hatte er etwa Besuch? Von einer Frau? Undenkbar. Je näher ich kam, desto lauter erzählte die Redakteurin vom Fernsehsender etwas über das Alter und die Pflegeheime. Bisher ein Tabuthema für ihn, und jetzt schaute er sich die Reportage freiwillig an? Hatte er seine Meinung geändert? Im Wohnzimmer roch es nach ungelüfteten Fernsehnächten. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Da sah ich ihn schlafend im Sessel sitzen. Na so was, noch vor zehn Minuten hatte er mich am Telefon zusammengestaucht und gefordert, ich solle ihm sofort die Fotoalben zurückbringen. Ich beugte mich zu ihm. Es war ein gewohnter Anblick. Paps mit der Fernsehzeitung auf dem Schoß, der Brille auf der Nase, den Mund halb geöffnet und die weißen Haare wirr vom Kopf abstehend. Wie immer sah sein Gesicht fahl aus. Er sollte sich mehr an der frischen Luft bewegen, damit sein Körper nicht so schwach wurde. Nur um sein Gehirn musste ich mir keine Sorgen machen. Zumindest sein Langzeitgedächtnis war für einen 82-Jährigen phänomenal.

Ich rüttelte an seinem Oberarm, wollte ihn wachbekommen. Es gelang mir nicht. So dringend konnte es also nicht gewesen sein, was er zu besprechen hatte, sonst hätte er mich schon an der Tür begrüßt. Skeptisch sah ich zu ihm.

»Komm schon, die Nummer zieht nicht mehr bei mir«, sagte ich halblaut, mit ein wenig Ironie in der Stimme, obwohl ich sauer auf ihn war. Zu oft hatte er sich tot gestellt, nur, um mich zu ärgern, mir zu zeigen, wie das Gefühl wohl ist, wenn er nicht mehr da wäre.

»Paps? Papa?« Er rührte sich nicht. Ich fühlte seine kalte Stirn, die kühlen Wangen, schaute auf die leicht bläulichen Lippen, die an sich nichts Neues waren und dennoch … Langsam stiegen Zweifel in mir auf und Tränen, durch die ich alles verschwommen sah. Vor diesem Moment hatte ich mich am meisten gefürchtet. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust, umschlang sie mit beiden Armen. Er ließ es zu. Ein sicheres Zeichen dafür, dass … Ich zwang mich zur Ruhe, da erst spürte ich durch seine Weste die laue Wärme, die von seinem Oberkörper ausging. Ich hörte sein Herz, leise, ganz leise pochen. Sein Brustkorb hob und senkte sich dabei, langsam, dann immer heftiger. Paps schlug die Augen auf und drückte mich abrupt von sich weg.

»Da bist du ja endlich. Gib mir meinen Stock!« Er sprach heiser, hustete sich seine dunkle und für sein Alter erstaunlich kräftige Stimme zurück.

Ich versuchte ruhig durchzuatmen, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Der Schreck saß mir gewaltig in den Gliedern. Flüchtig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und bückte mich nach seinem Gehstock. Ich ärgerte mich am meisten über mich selbst. Schon wieder war ich auf ihn hereingefallen. Wie hatte ich nur glauben können, dass er sich jemals änderte? Auch das Kommandieren würde er nie sein lassen, noch nicht einmal auf dem Totenbett.

»Hast du die Fotos dabei?« Er rückte seine Brille zurecht.

»Welche Fotos?« Ich ließ ihn zappeln. Gestern hatte ich die Alben in einem Versteck in seinem Schrank gefunden und heimlich mitgehen lassen. Heute Morgen hatte er es bemerkt.

»Na, die aus Frankreich – habe ich doch gesagt.« Er raufte sich die Haare, was seiner wirren Frisur nichts anhaben konnte.

»Sag bloß …«

»Ganz ruhig. Moment.« Ich verstand nicht, was an den Fotos unseres Frankreichurlaubs von 79 – ich war damals zehn Jahre alt – so wichtig sein sollte. Warum hatte er sie versteckt? Die meisten Bilder gaben mir Rätsel auf. Wieso hatte er zum Beispiel einen baufälligen Schuppen fotografiert? Was hatte es mit dem Katzenteller in Nahaufnahme auf sich? Warum befand sich dieser versiegelte Umschlag im Album? Ich hatte mich nicht getraut, ihn zu öffnen. Lächerlich. Als wenn ich eine Tracht Prügel befürchtete, so wie ich sie damals oft bekommen hatte, weil ich ungehorsam war. Ich ging in den Flur, wo mein Beutel mit den Alben stand.

»Mach das Fenster zu, wenn du zurückkommst«, rief er mir hinterher.

»Vater, du sitzt nicht im Rollstuhl, das kannst du alleine. Du musst dich auch mal bewegen.«

»Wer hat es denn geöffnet?« Er wedelte mit dem Stock, ächzte und rappelte sich mit seinen lahmen Knochen auf, aber nur, um mir nachzugehen. »Hast du auch beide Frankreich-Alben mitgebracht? Beeil dich, ich muss dir was zeigen.«

Ich ging an ihm vorbei. Paps riss das aus grünem Lederimitat an sich und setzte sich auf die Couch. Dann klopfte er auf den freien Platz neben sich.

»Komm, schau dir das an.« Seine knorrigen Finger blätterten in den vergilbten Kartonseiten hin und her und zerrissen dabei einige Zwischenblätter aus Pergamin. Die trüben Augen tränten. Er nahm die Brille ab, hob das Album hoch und stieß beim Betrachten der Bilder fast mit der spitzen Nase darauf. Dann hielt er inne.

»Hier. Hier, schau. Burgund, Sommer 79. Weißt du noch? Hier.« Er zog eine Vergrößerung in Schwarzweiß aus dem Album und hielt sie triumphierend hoch. Ich sah plötzlich Schadenfreude in seinem Gesicht, sah, wie er sich erneut über den gelungenen Überfall freute, nach Jahren unangemeldet bei seinem Freund aufgetaucht zu sein. Diese Schrecksekunde war deutlich auf dem Foto zu sehen. Paps tippte auf den Mann. »Leclerc.« Er sprach den Namen so hart und verächtlich aus, als handele es sich um den gefährlichsten Kriminellen aller Zeiten, dabei war er nicht nur sein langjähriger Freund, sondern auch ehemaliger Arbeitskollege aus der Senffabrik. Paps setzte die Brille auf – wieder ab und wieder auf.

»Erinnerst du dich?«, fragte er noch einmal.

Ich sah auf das Bild und schwieg. Richtig. Paps hatte sofort nach unserer Ankunft mit der Kamera draufgehalten. Kaum waren wir aus dem Wagen gestiegen und Madame und Monsieur Leclerc aus dem Haus gerannt gekommen, hatte er sie fotografiert. Ein gelungener Schnappschuss, wenn auch etwas verschwommen. Als sie die Kamera sahen, waren beide ruckartig stehengeblieben, so, als hätte jemand die Zeit angehalten. Monsieur stand in Abwehrhaltung da, mit weit aufgerissenen Augen und Mund, während Madame sich gerade die Hand vor ihre schmalen Lippen halten wollte. Erst das Drücken auf den Auslöser brach den Bann. Ein hektisches Treiben setzte ein.

Je länger ich auf das Foto sah, desto deutlicher kam die Erinnerung. Ich spürte noch einmal, wie unwohl ich mich als Kind gefühlt hatte, unter den für mich wildfremden und fremdländisch sprechenden Menschen.

Ich nahm Paps das Foto ab und legte es wieder sorgsam in die Fotoecken. Die Aufnahme darunter war auch nicht viel besser. Sie zeigte keinen Schnappschuss, sondern Madame, Monsieur, Mutter und mich, von Vater penibel inszeniert. Wir sollten uns in den Arm nehmen und in einer Reihe aufstellen. Ein unangenehmer Moment, wie unsere Gesichter zeigten. Schon damals war mir aufgefallen, wie ärmlich Madame und Monsieur gekleidet waren. Sie steckte in einem schmutzigen, gestreiften Kittel mit so gar nicht passenden Rüschen und er in einer abgewetzten und ausgebeulten Feincordhose und einem dunkelblauen Achselhemd, das den dicken Bauch betonte. Mutter sah dagegen in ihrem C&A-Chic wie eine Thronanwärterin aus und auch ich war in meinen weiten karierten Shorts und dem hellen, langärmeligen Wollpulli – den ich sonntags immer anziehen musste, auch im Hochsommer – reichlich overdressed. Wie furchtbar. Und dann meine Haare. Mutter schnitt meine dunklen Haare immer selbst. Die Frisur wirkte wie eine Mütze. So stand ich mit den Erwachsenen vor dem heruntergekommenen Haus und wollte nur noch heim. Ich glaube, Mutter auch, denn sie hatte sich nach dem Fotografieren wieder in unseren cremefarbenen Opel gesetzt, was die nächste Aufnahme im Album bewies.

Es war mein allererster Urlaub im Ausland, in … war es Lyon oder Dijon? Ich rupfte das Bild aus den Ecken, drehte es um und las – richtig, Dijon. Unter dem Ortsnamen stand ein halber Roman. Früher hatte es mich geärgert, wenn Vater überall auf den Rückseiten Bemerkungen schrieb und ich es nicht durfte. Heute war ich froh darüber, die Fotos mit diesen Notizen zu haben – auch, wenn sie in Französisch verfasst waren. Eine Sprache, die Paps aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft und der Montagearbeit in den 70ern in der Senffabrik perfekt beherrschte. Ich überflog den Text und musste feststellen, dass sich mein Schulfranzösisch nur wenig verbessert hatte. So gaben mir die Kommentare selbst heute noch Rätsel auf. Er sollte sie mir, am besten gleich, übersetzen.

Paps tippte mir auf die Schulter. »Ist da jemand? Ich habe dich was gefragt. Erinnerst du dich?« Er setzte die Brille wieder ab. So nervös hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.

»Ja, ich erinnere mich – dass du was gefragt hast. Was war es nochmal?«

»Meine Güte, wer ist denn hier 82? Ob du dich erinnerst – an den Besuch in Dijon?«

Warum japste und zappelte er so? Er wirkte wie ein Fisch, dem das Atmen an Land unmöglich war. »Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen«, antwortete ich. »Ich weiß noch genau, wie ich an den bunten, schmierigen Flatterbändern in der Eingangstüre hängengeblieben war und mich vor den dicken Brummern in der Küche geekelt hatte. Bestimmt waren sie vom undefinierbaren Essen auf dem Herd so fett geworden, dem Eintopf ›Allerlei‹ aus sandigem Gemüse. Wir hätten nicht zur Essenszeit ankommen sollen.«

»Die Soup au pistou, meinst du. Außerdem ist in Frankreich immer Essenszeit, wenn Besuch kommt«, korrigierte Paps mich.

Ich nickte. »Es war so furchtbar. Kaum saßen wir, kam Madame Leclerc mit dem Suppentopf an. Anstatt Non war mir ein Oui herausgerutscht und mein Teller bis obenhin gefüllt worden. Mit buchstäblich knirschenden Zähnen habe ich mich meinem Schicksal ergeben.«

Paps lachte fettig. Genau so, wie er gelacht hatte, als er den Moment des Probierens mit der Kamera festgehalten hatte. Ich, mit einem entsetzten Gesichtsausdruck unter der Beatles-Frisur, und, als wenn die Aufnahme nicht hässlich genug gewesen wäre, hatte sich auch noch diese struppige Katze ins Bild gedrängt. Sie saß am Tischbein und sah zu mir hoch. Sie war die hässlichste Katze der Welt, das arme Tier. Aber was an dem Mittag mit ihr geschah, hatte selbst sie nicht verdient.

Paps schob das Album näher zu mir und blätterte schnell weiter. Wir betrachteten das erste Farbfoto der Reihe Zu Besuch bei den Leclercs.

»Und hier. Weißt du noch? Die große Kasserolle mit dem Hähnchen à la Toulouse.« Seine Aussprache wurde immer feuchter.

»Ja, ich weiß«, seufzte ich, immer noch in Gedanken bei der Katze, und schüttelte mich. »Wie viele Stunden haben wir am Tisch gesessen? Hättest mich vorher auch mal warnen können, dass die Franzosen mehrere Gänge zu sich nehmen, sogar mit unangekündigtem Besuch. Heute frage ich mich, wieso jemand, der so erbärmlich gekleidet war und in solch einem heruntergekommenen Haus lebte, sich so viel zu essen leisten konnte.«

Ich nahm das Foto aus dem Album, drehte es um und las: Madeira-Hähnchen nach Toulouser Art, in der Kasserolle gegart. Für die Soße: Zwiebeln, Karotten, Lauch, Rosmarin, Thymian, Madeira und … und … und … Ich schluckte.

»Wieso kocht eine Hausfrau in der Bourgogne ein Gericht aus Toulouse, und dann auch noch mit Madeira?«, fragte ich ihn, aber woher sollte er das wissen?

Paps kniff die Augen zusammen und zog einen Mundwinkel verächtlich hoch. »Sie war schon immer experimentierfreudig.« Er betrachtete das Bild mit der Kasserolle genauer, so, als würde er jede einzelne Zutat unter die Lupe nehmen und noch einmal schmecken wollen.

Ich hingegen erinnerte mich ungerne an den Hauptgang. Auch er war die reinste Katastrophe. Nicht allein wegen des Gerichts, auch sonst. Nachdem Madame Leclerc den Suppentopf vom Tisch genommen hatte, ließ sie die benutzten Teller stehen, warf Messer und Gabel dazu und knallte den Topf mit dem Hähnchenfleisch, das in einer rötlichen Soße schwamm, auf den Tisch. Wie hatte ich mich vor dem Fleisch in der Soße entsetzt. Sie sah aus wie … obwohl … Wie sich die Zeiten änderten, jetzt lief mir beim Anblick des Fotos förmlich das Wasser im Mund zusammen. Jetzt hätte ich Coque à la Toulouse gerne serviert bekommen.

Ich drehte das Foto wieder um, weil mir etwas anderes aufgefallen war. Unter dem Rezept befand sich ein kleines Kreuz. Im Kommentar darunter stand etwas von »… le chat Filou«.

»Das war ein Schreck mit der Katze…«, sagte ich, »und dann der Streit zwischen den Leclercs und dir. Worüber hattet ihr euch eigentlich gestritten? War es wegen der Katze?« Ich hatte nie danach gefragt und er nie darüber gesprochen. Seltsam, dass wir erst im Alter anfingen, solche Dinge aufzuarbeiten.

Paps stotterte: »Ich … ich soll sie vergiftet haben.« Er wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab.

Ich beäugte ihn skeptisch. Wenn ich ihm alles zutraute, aber das nicht. Nicht vor den Leclercs, vor Mutter, vor mir und überhaupt – nie im Leben. Trotzdem stellte ich ihm die Frage und duckte mich weg, damit ich mir in meinem hohen Alter keine Ohrfeige einfing: »Und? Hast du?«

»Du würdest es für möglich halten?« Sekundenschweigen. Dann räusperte er sich: »Ja, habe ich!«

Geschockt suchte ich erst einmal selbst nach einer Erklärung, versuchte, mich genauer an die Szene zu erinnern: Während wir aßen, schrie Mutter plötzlich auf und zeigte auf die tote Katze neben dem Futternapf. Madame Leclerc schrie Paps an und fuchtelte wild mit den Armen. Er schrie zurück. Monsieur Leclerc mischte sich ein. Mutter schrie Paps an, er solle übersetzen. Er schrie zurück, sie solle sich da raushalten. Madame stürmte auf Paps los. Monsieur zog sie von ihm weg. Ich hatte mich auf meinem Stuhl ganz klein gemacht, verschwand halb unter dem Tisch und starb fast vor Angst. Nie dürfte ich behaupten, dass mein allererster Urlaub in Frankreich schön war.

Sich gut an etwas erinnern zu können, ist nicht immer von Vorteil. Ich musste mich erst beruhigen und betrachtete Paps, den Katzenmörder, der mir plötzlich so fremd vorkam. So alt und in sich zusammengesackt saß er da. Erst jetzt traute ich mich, weiter zu bohren: »Um Himmelswillen, warum hast du es getan und wann und wie?« Die Fragen waren nicht unberechtigt. Wie sollte er das wohl an einem vollbesetzten Tisch gemacht haben? Bevor es zum Eklat gekommen war, hatten wir alle ganz friedlich dagesessen. Er saß dem Hausherrn gegenüber, also am anderen Kopfende des Tisches. Paps hatte oft auf seine Sprungdeckeluhr gesehen, aber das war das einzig Auffällige, was mir spontan einfiel. Und Mutter? Mutter musste das laute Lamentieren, mangels Sprachkenntnissen, wohl dem französischen Temperament zugeschrieben haben und hatte sich nur auf das Essen konzentriert. Damals hatte ich gestaunt, wie man so etwas mit Genuss essen konnte. Also, wann und wie um alles in der Welt – hatte er die Katze vergiften können?

Paps reckte sich unter Ächzen und startete lieber den Versuch, das »Warum« zu erklären: »mit den Leclercs hatte ich noch eine Rechnung offen. Sie glaubten nicht, dass ich meine Drohung mit der Katze wahrmachen würde. Selbst schuld. Haben sich geirrt, die Schweinehunde.«

»War das der Grund, warum wir nach Dijon gefahren sind?«, fragte ich. »War das der einzige Grund? Du wolltest ihre Katze killen – aus Rache? Aber …«

»Zunächst einmal – ja. Doch das wäre zu wenig gewesen. Wer nimmt schon den beschwerlichen Weg auf sich, nur um eine Katze zu töten?«

»Zunächst einmal? Zu wenig gewesen?« Meine schrille Stimme klang selbst mir unangenehm im Ohr.

Paps sah mich mit dem Anflug eines Gewissensbisses an.

»Sie war die treibende Kraft. Sie hätte es nicht tun dürfen.«

Unwahrscheinlich, dass er immer noch von der Katze sprach. Ich musste ihn einfach reden lassen, wenn ich den genauen Grund erfahren wollte.

»Da ist noch was«, sagte er und wischte sich über die feuchte Stirn. »Bevor ich sterbe, muss ich es endlich loswerden.«

»Hör auf mit deinem Sterben!« Ich … stockte. So hatte er mich noch nie angesehen. Ich strich über meinen Arm. Mit der Gänsehaut hätte man bequem Kartoffeln reiben können. Schon war Paps nicht mehr in der Lage, seine Büßermiene durchzuhalten. Sie verwandelte sich in ein gemeingefährliches Grinsen. Jetzt entrüstete er sich sogar: »Sie hat mich erpresst, das Luder. Man erpresst keinen Erpresser.« Er schlug das Album zu. »Ich will nicht mehr.«

Ich fiel vom Glauben ab. Mein Vater, ein Erpresser? Ein Tyrann, ein Kinderschläger, das ja – aber ein Erpresser? »Nix da. Du flüchtest nicht mehr. Raus mit der Sprache!« So hatte ich noch nie gewagt mit ihm zu reden. Es war an der Zeit.

»Du hast mich falsch verstanden. Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr schweigen. Habe gedacht, es sei alles perfekt. Ums Verrecken nicht.« Er hob den krummen Zeigefinger und zielte damit auf mich. »Das Gewissen – weißt du – das schlechte Gewissen verhindert den perfekten Mord.« Er zog an der goldenen Kette und holte die Taschenuhr aus der Weste hervor, überlegte es sich wohl anders und steckte sie unbesehen wieder zurück. »Ich wollte mein Geheimnis mit ins Grab nehmen, den Brief und die Fotos verbrennen – aber es dauert mir zu lange. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss darüber reden und dafür büßen.«

Während ich steif und starr vor Entsetzen dasaß, riss Paps den eingeklebten Umschlag aus dem Album.

»Nun denn«, sagte er und kontrollierte das Siegel auf Unversehrtheit, nachdem er kurz zu mir herübergesehen hatte. Erst jetzt öffnete er ihn umständlich und sehr langsam, so, als überlege er, ob es richtig sei, es zu tun. Mit spitzen Fingern zog er ein vergrößertes Farbfoto hervor, ließ das vergilbte Blatt Papier, das dabei hervor blitzte, im Kuvert stecken. Ich reckte meinen Hals und sah auf dem Bild erneut einen Teller mit Hähnchengericht. Es sah so aus, wie das, was wir eben betrachtet hatten. Oder nicht? Paps ließ mir keine Zeit die Bilder zu vergleichen.

»Es war der perfekte Mord«, wiederholte er sich. »Der perfekte Mord.« Er stierte vor sich hin und schob das Foto wie eine Tarotkarte zu mir, auf der der Tod zu sehen war, und tippte auf eine bestimmte Stelle. Mitten im Fleisch-, Kräuter- und Gemüsewusel war eine einzige, gesprenkelte Bohne zu sehen.

»Das? Meinst du das hier, oder was? Sieht aus wie eine rot gesprenkelte, weiße Bohne.« Ich wurde nicht schlau aus ihm.

Er lachte laut. »Genau! Könnte man meinen. Aber es ist die Bohne einer speziellen Hülsenfruchtpflanze, deren Giftigkeit ich durch – nennen wir es ruhig Zufall – auf Hinweisschildern im botanischen Garten entdeckt hatte. Wenn man auf die Pflanze achtet, findet man sie fast überall. Sie ist unverwüstlich.«

Ich konzentrierte mich auf das Foto, konnte es immer noch nicht glauben. Aus welchem Film erzählte er hier? Da erkannte ich, wessen Teller es war, neben dem die schmale Hand mit der Gabel ruhte. Es war die braungebrannte Hand von Madame Leclerc, ich sagte es ihm.

Paps nickte. »Sie hat es nicht anders verdient.«

»Aber wie …?«

»Sie war dabei, sämtliche Teller zu füllen, als ich kurz auf meine Taschenuhr sah. Niemand schöpfte Verdacht, hatte ich doch den ganzen Tag auf meine Uhr gesehen. Auf meine gute, alte Uhr, die mir zeitlebens gute Dienste geleistet hat und in deren Gehäuse so viel Platz ist – für allerlei. Dann sagte ich Madame, sie möge sich setzen, damit ich ein Foto von dem köstlichen Essen machen kann. Ich brauchte das Foto – für mich. Ich musste mir damit immer wieder beweisen, dass ich es geschafft hatte, mich unbemerkt zu rächen. Wir wünschten uns alle Bon appétit, und ich verwickelte sie in ein Gespräch, während sie fleißig auf der nussig schmeckenden Bohne herumkaute.«

Was ich jetzt sah, konnte ich nicht glauben. Zum allerersten Male sah ich ihn weinen. Nicht laut und schluchzend, nein, ich sah, wie sich aus seinem Auge eine dicke Träne quetschte, die schwerfällig wie Quecksilber die Wange hinunter kullerte und auf das Foto tropfte.

»Der Senf …« Er rieb sich die Augen. Sein Gesicht verfärbte sich für einen Moment puterrot, um in den nächsten Sekunden wieder zu verblassen.

Phantasierte er? Senf? Was sollte das jetzt?

»Ich wäre vielleicht Millionär geworden und hätte dir in deiner Kindheit etwas anderes als Prügel bieten können. Wäre dir ein guter – zumindest ein reicher Vater gewesen. Du hättest eine anständige Frisur bekommen und einen neuen Wollpullover.« Er schluckte schwer. »Aber sie, sie hat alles zerstört. Das Luder hat nicht nur meine langjährige Freundschaft zu Leclerc zerstört, sondern mich auch um mein Geld gebracht.«

»Aber wie?«

»Leclerc und ich hatten vor, den Maître von ›Moulin Moutarde‹ zu entführen. Wir wollten an die geheime Zutat des weltberühmten Senfes kommen. Du musst wissen, wir sprechen von den siebziger Jahren. Da gab es noch keine computergesteuerten Mengenbeigaben, da wurde noch von Hand abgewogen, gemischt und geforscht und handschriftlich notiert. Da kam der Firmeninhaber höchstpersönlich und mischte in einer Art Zeremonie und aus dem Kopf eine geheimnisvolle Zutat bei, die er einstreute, bevor abgefüllt wurde. Andere Senffabriken, auch die Deutschen, hätten viel für die geheime Würzmischung bezahlt. Leclerc und ich passten also den Geheimnisträger nachts ab und brachten ihn zum Schuppen, ganz in der Nähe der Leclercs.« Paps röchelte beim Husten. »Irgendwo muss das Foto vom Schuppen noch sein.« Er holte tief Luft und schlug das Album wieder auf.

Ich fürchtete um Paps Leben, so sehr wühlte es ihn auf, und ich fühlte kurz, ob mein Handy in der Hosentasche steckte, damit ich schnell den Notruf wählen konnte, falls er sich ans Herz griff oder zusammenklappte. Mir brannten Hunderte von Fragen auf den Lippen. Sie sollten unausgesprochen bleiben.

»Der Maître verriet uns das Geheimrezept nicht, da es keines gab. Nein, es gab wirklich keine Geheimzutat. Alle Welt glaubte es immer nur. Er jammerte und flehte und versicherte es uns hoch und heilig, er habe stets nur das angemischt, was ohnehin schon angemischt worden sei. Was blieb uns anderes übrig, wir mussten ihn wieder freilassen und waren froh, dass niemand herausbekam, wer ihn entführt hatte. Vor ihm hatten wir nichts zu befürchten, da wir Strumpfmasken und Overalls trugen. Unser Scheitern war schmerzlich. Noch nicht einmal das Wissen darum, dass es keine Geheimzutat gab, konnten wir in bare Münze umsetzen, da es uns niemand geglaubt hätte.«

Nun holte Paps das Blatt Papier aus dem Umschlag und hielt es mir hin. Es flatterte in seiner Hand. Ich versuchte, seine Schrift zu lesen, den Text zu übersetzen, und zuckte mit den Schultern.

»Wer es auch nicht glaubte, war das Luder. Sie versuchte mich mit diesem Brief zu erpressen. Er stammt dummerweise von mir. Ich hatte ihn leichtsinnigerweise vor der Entführung geschrieben.«

Ich sah erneut darauf. Währenddessen übersetzte er bruchstückhaft, ohne hinzuschauen.

»Liebste Celine, komm mit mir nach Deutschland. Ich liebe dich über alles. Wir bauen uns in Italien ein neues Leben auf. Du wirst es bei mir besser haben, als bei deinem Mann, diesem Idioten. Wir teilen uns das Geld, wenn ich das Geheimrezept verkauft habe. In Liebe, Dein Stephan

Mit Entsetzen hörte ich zu, so, wie ich ihm früher immer zugehört hatte, wenn er seine selbsterfundenen Gruselmärchen erzählte. Ich wünschte, es wäre solch ein Moment gewesen. Mir wurde flau im Magen. Mein Vater, ein Katzenmörder, Erpresser, Fremdgeher und Kinderverlasser. Was konnte da noch kommen?

Er beachtete mich nicht, berichtete weiter: »Sie hat meine Liebe nicht erwidert. Dabei wollte ich sie da rausholen, aus der Baracke. Stattdessen erpresste sie mich mit meinem eigenen Brief. Sie wollte ihn deiner Mutter zeigen und damit auch Leclerc auf mich hetzen. Aber …«

Ich verlor meinen letzten Respekt vor Vater und schrie ihn an: »Du bist also schuld, dass Mutter vor Gram gestorben ist. Kein Wunder, dass sie in den letzten Jahren so rapide abgenommen hatte. Sie wurde innerlich von ihrem Kummer aufgefressen.«

»Aber deine Mutter … Nein, nicht vor Kummer. Es war die letzte Möglichkeit, sie bei mir zu halten. Sie sollte mich nicht verlassen. Ich wollte euch nicht verlieren.«

Paps griff zu seiner Taschenuhr, öffnete den Sprungdeckel, nahm die darunter befindlichen zwei gesprenkelten Bohnen in den Mund, von derselben Sorte, wie sie auch auf dem Foto zu sehen waren, und zerkaute sie in meinem Beisein. Dabei lächelte er selig. »Dieser köstliche Nussgeschmack, dieses volle, tödliche Aroma. Es war perfekt. Man muss zwei nehmen, wenn es schnell gehen soll. Eine, wenn es für die Katze ist, oder du die nötige Zeit für deine Abreise brauchst.« Er stand mit wackligen Beinen auf und hangelte sich ächzend zum Fernsehsessel, in den er sich fallen ließ. Die Brille rutschte dabei auf seine Nasenspitze.

»Kannst die Alben wieder mitnehmen. Ich brauche sie nicht mehr.« Dann schloss er die Augen, öffnete den Mund und atmete nicht mehr. Es sah aus, als ob er schliefe.