Klaus Stickelbroeck
Französische Versuchung
Er hob das Glas behutsam gegen das fahle Licht der Glühbirne, ließ die Flüssigkeit kreisen. Aufmerksam beobachtete er die goldgelben Schlieren in der klaren Flüssigkeit. Nur ein paar Straßenzüge entfernt wurde der Mirabellenschnaps gebrannt und abgefüllt. Er kniff die Augen zusammen, aber so sehr er im Schnaps auch suchte, eine Lösung bot ihm die hochprozentige Flüssigkeit nicht.
»Wir haben ein Problem.«
»Frankie könnte es lösen«, sagte die Frau ihm gegenüber mit leiser Stimme.
Er hielt kurz inne, die Flüssigkeit schwappte bis an den dünnen Rand.
»Das wird nicht einfach.«
»Lass das meine Sorge sein«, sagte sie.
Er fragte sich, wie das kaum wahrzunehmende Lächeln in ihrem Gesicht gemeint war.
Die Telefonnummer im Display war ihm vollkommen unbekannt. Festnetz. Eigenartige Vorwahl. Frankie seufzte. Nur wenige kannten seine Geheimnummer, deshalb ging er ran.
»Hallo?«
»Hallo. Ich bin es.«
Er richtete sich im Stuhl auf. Die Stimme … Das konnte nicht sein. Nur wenige Meter vor seinem Fenster rauschte eine S-Bahn Richtung Hauptbahnhof vorbei, der Boden in seinem billigen Appartement zitterte.
»Pierre«, fügte der Anrufer nach einer kurzen Pause hinzu.
Er war es tatsächlich. Verdammt, wie lange war das her?
»Hallo Pierre!«
»Ich habe ein Problem. Du musst mir helfen!«
»Ich überfalle keine Tankstellen mehr.«
»Ich weiß. Ich plane keinen Raubüberfall.«
Frankie schniefte. Die flinken Finger seiner linken Hand friemelten eine Zigarette aus der Schachtel.
»Wann?«
»Am besten sofort.«
»Frühestens morgen. Soll ich … was mitbringen?«
Der Mann am anderen Ende lachte ratternd und nannte ihm eine Adresse, die zur eigenartigen Vorwahl passte, eine Adresse in Frankreich.
»Links neben dem Haus ist ein Parkplatz, Schotter. Fahr bis zum Ende durch! 21 Uhr.«
»Gut«, sagte Frankie, aber da hatte der Mann, mit dem er vor unendlich vielen Jahren eine kleine, muffige Gefängniszelle geteilt hatte, bereits aufgelegt.
Nachdenklich schob er die Kippe zwischen seine Lippen, steckte sie an und nahm einen tiefen Zug. Den ersten grauen Rauchkringel jagte er mit Karacho unter die Decke seines kleinen Zimmers.
Pierre. Pierre Fibarot.
Er rechnete kurz nach. Drei Jahre waren es her, fast auf den Tag genau. Hamburg-Fuhlsbüttel, Santa Fu.
Seitdem hatte sich viel getan.
Er sah auf die Uhr. Halb neun. Pierre war nicht der Typ, der seine Abende in trauter Zweisamkeit zu Hause auf der Couch bei seiner Frau oder seiner Freundin verbrachte. Frankie nahm einen weiteren Zug und gab seinem alten Knastkumpel eine halbe Stunde. Dann wählte er die Nummer, die sein Telefon vorhin automatisch abgespeichert hatte.
»Hallo?«
»Hallo Anne-Yvette.«
»Hallo Frankie!«
»Bist du allein?«
»Natürlich.«
»Dein Mann hat mich angerufen.«
»Ich weiß.«
»Er hat ein Problem und braucht meine Hilfe. Wir treffen uns morgen Abend. Neun Uhr.«
»Ich hab das Telefongespräch mitgehört. Ich habe ihm vorgeschlagen, dich anzurufen und zu fragen, ob du helfen kannst.«
»Kann ich das?«
»Sicher.«
Er nahm einen tiefen Zug auf Lunge. »Ich werde zu dir kommen.«
»Das habe ich gehofft.«
»Ich brauche deine Adresse.«
Sie diktierte ihm eine Anschrift in den Hörer. »Wenn ihr euch getroffen habt, wird er bis zum frühen Morgen wegbleiben und nicht nach Hause kommen. Komm nach eurem Treffen hier vorbei, damit ich dir Glück wünschen kann. Ich mach uns eine Kleinigkeit zu essen.«
»Gut«, sagte Frankie, zerquetschte die Kippe im Ascher, und diesmal war er es, der auflegte.
Anne-Yvette …
Im verfluchten Knast hatte Pierre sehr oft von seiner süßen, französischen Freundin mit den dunklen Haaren und dem Engelsgesicht erzählt, mit der er nach Hamburg gekommen war, um das große Geld zu machen. Was ja nicht geklappt hatte. Diese Anne-Yvette hatte er sich ansehen müssen, als er – vier Monate vor seinem Zellenkumpel – endlich aus dem Knast entlassen wurde. Pierre hatte mit Adjektiven nicht gegeizt. Und nicht übertrieben.
Frankie grinste. Sie hatten sich nicht nur die Zelle geteilt …
Am Abend, bevor Pierre entlassen wurde, haute er ab, zurück nach Düsseldorf. Die Affäre war heiß, aber ihm nie wirklich geheuer gewesen. Mit seinem … Eigentum war Pierre pingelig. Deshalb hatte er sich in den vergangenen Jahren und Monaten nicht mehr bei Pierre oder Anne-Yvette gemeldet.
Hm. Er klopfte eine neue Zigarette aus der Packung. Pierre hatte am Telefon gelacht. Frankie wertete das als ein gutes Zeichen.
Wambrechies hieß die Stadt in der Nähe von Lille, und Frankie hatte im Internet ergoogelt, dass der für seine historische Schnapsbrennerei berühmte Ort im Norden Frankreichs die Partnerstadt von Kempen, einer kleinen Gemeinde am Niederrhein, war. Grinsend passierte er bei Neuville-en-Ferrain die belgisch-französische Grenze. Das war sein erster Einsatz in Frankreich. Seine Mundwinkel senkten sich. Okay, er war nicht hier, um die French Open zu gewinnen …
Wenige Kilometer später überquerte er einen Fluss, erreichte die alte historische Innenstadt des Örtchens, entdeckte auf der linken Seite das beeindruckende Château de Robersart und kam nach insgesamt gut 300 Kilometern Autofahrt in der Rue Ambroise an.
Hausnummer 20.
Eine Gaststätte. Links der unbefestigte Parkplatz, den mehrere grüne Hecken als Sicht- und Windschutz in der Fläche teilten. Pierre stand am Ende des Platzes neben einem verbeulten, dunkelgrünen Renault und winkte ihm, neben seinem Wagen zu parken und auszusteigen.
»Hallo.«
»Hallo, Pierre.«
Pierres große, behaarte Hand verschlang Frankies kleinere und drückte sie mit starkem, festem Griff. Frankies Knastkumpan trug seine dunklen, an den Schläfen und den Koteletten grau melierten Haare lang nach hinten gekämmt. Zur Jeans trug er eine speckige, hellbraune Lederweste und Cowboystiefel im gleichen Farbton mit eisenbeschlagenen Spitzen. Seine dunkelbraunen Augen funkelten. Offen.
Frankie entspannte sich. Er spürte keine Feindseligkeit. Was die Emotionen anderer Leute anging, war Frankie sehr sensibel. Eine Gabe, die ihm schon mehrmals den Hals gerettet hatte.
Pierre winkte ihn auf die Beifahrerseite seines Renaults. »Steig ein!«
Frankie ließ sich in den beigefarbenen Sitz des Wagens fallen. Pierre lenkte den Renault vom Parkplatz.
»Ich habe Schwierigkeiten. Im Grunde finanzieller Art. Aber die Sache artet aus. Mein Geschäftspartner nimmt die Sache persönlich und hat gewisse Vorbereitungen getroffen. Ich muss reagieren. Ich muss schneller sein als er. Ich habe mich erkundigt. Du hast einen guten Ruf.«
Frankie schniefte. Einen Ruf? In seiner Branche war ein Ruf immer schlecht. Egal, ob gut oder mies.
»Ich werde unsere Zusammenarbeit nicht an die große Glocke hängen, das kann ich dir versprechen, mein Freund«, schien Pierre seine Gedanken zu erraten und bog nach links in einen schmalen Waldweg ab, dessen Betonpflaster sich nach wenigen Metern im Gras verlor.
»Was muss ich wissen?«, fragte Frankie.
»Der Typ ist gefährlich. Er wird bewaffnet sein. Normalerweise umkreisen ihn zwei hässliche Schmeißfliegen, aber mittwochs abends ist er alleine unterwegs und trifft sich heimlich mit einer Freundin in einem Hotel bei Bondues.«
Frankie pulte eine Kippe ans Tageslicht und öffnete das Seitenfenster. Okay. Eine Person, männlich, bewaffnet. Pierre rupfte den mehrfach gefalteten, abgegriffenen Teil einer Tageszeitung hinter der fleckigen Sonnenblende hervor und reichte ihn rüber. Der sichtbare Teil zeigte einen Mann von ungefähr 50 Jahren in einem dunklen Anzug.
»Gaston Batteux wird das Hotel gegen ein Uhr durch einen Nebenausgang verlassen. Den werde ich dir gleich zeigen. Du wartest auf ihn, legst ihn um und kehrst zurück nach Deutschland. Wenn die Luft rein ist, bringe ich dir die Kohle. Persönlich. Bar.«
»Bar ist gut. Auf wie viel Kohle darf ich mich freuen?«
»Du wirst aus dem Grinsen nicht rauskommen!«
Frankie nahm einen tiefen Zug und jagte den Qualm durch den Fensterspalt nach draußen. »Umlegen. Womit?«
Pierre stoppte den Wagen und würgte den Motor ab. Sie stiegen aus. Pierre führte ihn an den Kofferraum, öffnete ihn und den silberfarbenen Koffer, der sich unter einem Haufen schmutziger Sportwäsche versteckte. Dem Alukasten entnahm er einen Revolver.
»Eine 29er Smith & Wesson. Kurzer Lauf, 44er Magnum.«
Er reichte sie Frankie, der sie in seiner Hand drehte, musterte, über Kimme und Korn zielte, die Waffe öffnete und in die Trommel linste.
»Sechs Schuss«, erläuterte Pierre unnötigerweise.
Frankie klappte den Revolver zusammen. Einsatzklar. »Liegt gut in der Hand.«
Der Zeigefinger seiner linken Hand glitt vorsichtig über die vierstellige Nummer am Knauf des Schießeisens. »Die Waffe ist neuwertig?«
»Ich habe eine gute Quelle.«
Frankie nickte und verzog keine Miene. Innerlich schmunzelte er. Anne-Yvette … Der Bruder des dunkelhaarigen Engelchens galt in gewissen Kreisen als ein Mann mit erstklassigen Geschäftsbeziehungen. Sicher hatte der seinem Schwesterchen die Knarre aus sicherster Quelle besorgt. »Seriennummer 6500. Registriert?«
Pierre verdrehte die Augen, entnahm dem Alukoffer einen Schalldämpfer, reichte ihn Frankie und deutete stattdessen auf ein Verkehrszeichen etwa 50 Meter vor ihnen. Frankie schraubte das Teil an den Lauf, legte an und drückte ab. »Plopp.« Und ein Klack, als die Kugel das Schild mit einem metallenen Hieb durchschlug.
»Das Teil ist okay. Du bist immer noch mit Anne-Yvette zusammen?«
»Natürlich. Wir sind füreinander bestimmt. Wie Bonnie und Clyde. Fast wie ein Ehepaar«, grinste Pierre. »Ich liebe sie. Und ihren Bruder. Der kann solche kleinen Freunde relativ problemlos besorgen.«
Frankie nickte, hob die Waffe, schwenkte sie und zielte zwischen Pierres dunkelbraune Augen. Der Schalldämpfer würde den Knall schlucken. Frankie kniff ein Auge zusammen.
Pierre verzog sein Gesicht. »Lass das! Das kann ich nicht leiden!«
Frankie ließ die Knarre sinken und schraubte den Schalldämpfer vom Lauf.
»Nach dem Job wirfst du den Revolver in die Deule, das ist der Fluss, über den du gekommen bist. Da haben die Fische was zu gucken und die Bullen finden ihn nicht. Ich zeig dir jetzt das Hotel und lass dich allein. Ich verschaff mir in meiner Stammkneipe ein wasserdichtes Alibi.«
Frankie schob die Waffe samt Schalldämpfer in die linke Innentasche seines schwarzen Lederblousons.
Sie stand am Fenster, hinter der Gardine, und erwartete ihn. Sah, wie er sein Fahrzeug verließ, sich durchs Haar strich, seine Lederjacke zurechtruckelte, das eiserne Gartentürchen schwungvoll öffnete und den mit weißem Kies ausgelegten Weg zur Haustür schritt.
Frankie sah gut aus. Noch besser als damals, vor drei Jahren. Oh, wie hatte sie ihn genossen. Mitte dreißig musste er jetzt sein. Er wirkte noch sportlicher. Reifer, härter. Auf eine raue Art anziehend.
Er klingelte.
Bevor sie die Haustür öffnete, kontrollierte sie im Spiegel ihr Gesicht, strich eine lange, dunkle Strähne hinters Ohr und den schwarzen Rock über ihren Hüften gerade. Sie lächelte. Oh ja, auch er würde zufrieden sein. Sie öffnete die Tür.
»Hallo, Frankie!«
»Anne-Yvette.«
»Komm rein«, nickte sie ihn in den Flur und schloss die Tür.
»Über drei Jahre. Du siehst gut aus!«
Sie lachte, umarmte ihn, wie … Er erwiderte ihre Geste mit hartem, festen Griff, den sie seufzend genoss. Sie war so froh, dass er hier war. Ihre Hände glitten zärtlich über seine breite Brust, seinen Rücken herunter bis in den Bund seiner Jeanshose. Ihre Fingerspitzen glitten hinein und strichen von einer Seite zur anderen über seine warme, glatte Haut.
Sie löste sich. »Komm mit!«
Anne-Yvette führte Frankie in die Küche. Es duftete verführerisch und sie stellte zufrieden fest, dass ihr Gast … Appetit hatte. Wenn sie die Gänsehaut eben auf Frankies Rücken richtig gedeutet hatte, dann beschränkte sich sein Appetit nicht nur auf die raffinierte französische Köstlichkeit, die sie vorbereitet hatte.
Frankie hängte die Lederjacke über seine Stuhllehne, setzte sich und grinste. »Zuerst wird gegessen?«
»Wie damals in Hamburg«, lachte seine Gastgeberin frech.
»Und danach?«
»Wie damals in Hamburg.«
Frankie grinste und deutete auf die Jacke. »Vorher habe ich noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«
Sie nickte. »Gesalzene Hähnchenschenkel, von beiden Seiten in Öl angebraten, mit einer selbst gemachten, sündig-süßen Mirabellenkonfitüre bestrichen.«
Frankie hatte die erste Keule bereits ergriffen und herzhaft ins klebrige Fleisch gebissen. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr zusammenbleibt.«
»Wir sind zusammen aufgewachsen.«
»Ich bin auch mit meiner Mutter aufgewachsen und irgendwann ausgezogen.«
Anne-Yvette lachte. »Pierre ist nicht meine Mutter.«
Frankie nickte. Er hatte das verräterische Flackern in ihrem Blick genau gesehen. Wie gesagt, er konnte sehr sensibel sein. Es gab definitiv einen anderen Mann in ihrem Leben. Kein Wunder! Sie sah toll aus. Scharf, heiß, die pure Versuchung. Er biss ins Fleisch.
Und dachte an Pierre. Das musste ein mutiger Mann sein …
Aber für Anne-Yvette konnte man schon mal etwas riskieren. Nicht nur wegen ihrer Kochkünste. Verdammt, Anne-Yvette hatte sich prima gemacht, sah klasse aus. Für einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er der neue Mann an ihrer Seite wäre.
Vor drei Jahren, in Hamburg … Das war ein anderer Frankie gewesen. Das war ein Frankie, der sich ängstlich aus dem Staub gemacht hatte, als Pierres Zeit im Knast um war. Zu gefährlich. Diesen Frankie hätte Pierre mit seiner großen linken Hand problemlos aus dem Leben gewürgt. Aber heute, heute hätte Pierre es mit einem anderen Kaliber zu tun, saß Anne-Yvette ein anderer Mann am Tisch gegenüber. Vielleicht einer, der nach seinem Job wiederkommen und nicht wieder gehen würde …
Sie musterte ihn. Dachte sie dasselbe?
Er leckte sich die Finger. »Das war großartig.«
Sie trug eine weiße Bluse, unter der sich ein dunkelblauer Spitzen-BH im gleichen, dunklen Blau ihrer Augen weich und spitz abzeichnete. Frech. Dreist! Dieses scharfe Accessoire hatte Anne-Yvette nur für ihn angelegt, da war sich Frankie sicher.
»Hat es dir geschmeckt?«
»Großartig. Dein Bruder hat die Waffe besorgt?«
»Hat Pierre das erzählt?«, verfinsterte sich ihr Blick. »Er erzählt zu viel.«
Keine Servietten. Frankie spreizte seine klebrig-triefenden Finger.
»Du möchtest deine Hände waschen? Das Bad ist am Ende des Flurs.«
Frankie stand auf, wusch sich die Finger. Er sah sich um und grinste. Hatte Anne-Yvette ihn ins Bad geschickt, damit er sich zur geräumigen Dusche im Bad für später ein paar unzüchtige Gedanken machen konnte? Als sinnlichen Teil eines fantastischen, erotischen Nachtischs. Er schüttelte lachend den Kopf.
Als er in die Küche zurückkehrte, hatte Anne-Yvette den Tisch bereits abgeräumt und lehnte mit dem Rücken lasziv an der Anrichte. Er schob ein Knie zwischen ihre Beine und stützte sich mit beiden Handflächen an den Hängeschränken ab. Unter dem Stoff des Hemdes spannten sich seine Muskeln. Ihre Nasenspitzen berührten sich. Er spürte ihren Atem.
»Ich bin ein Anderer. Als damals.«
»Ich weiß. Pierre wird vor fünf Uhr nicht nach Hause kommen.«
»Ich erledige den Job und komme wieder.«
Ihre Brust berührte seinen Oberkörper. »Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich auf den Nachtisch freue.«
»Ich beeile mich.«
»Gut. Aber sei vorsichtig!«
Frankie pflückte die Lederjacke vom Stuhl und nickte. »Auf jeden Fall.«
Zum Hintereingang, durch den Gaston Batteux jeden Moment das Hotel verlassen würde, führte ein mit grauen Gehwegplatten gepflasterter Weg, der durch eine einzelne Bogenlampe nur spärlich ausgeleuchtet wurde. Das trübe Licht würde ihn ein Stück des Weges begleiten, um sich dann auf einem unbefestigten Parkplatz zu verlieren, auf dem nur ein einziges Fahrzeug stand. Vermutlich Gastons teurer Citroen.
Optimale Bedingungen, hatte Frankie zufrieden festgestellt, sich hinter einen Mauervorsprung gedrückt und gewartet.
Er zupfte sich an der Nase. Verdammt, das war alles andere als professionell, aber immer wieder zerrten ihn seine Gedanken drei Jahre zurück nach Hamburg, zu Anne-Yvette. Dann wieder in ein kleines Häuschen in der Rue d’Ypres, nur ein paar Kilometer entfernt. So nah! Verdammt, der Engel mit den dunklen Haaren hatte ihn voll erwischt. Er schniefte. Sein nächstes Problem hatte einen Namen.
Pierre Fibarot.
So, wie er seinen ehemaligen Zimmergenossen einschätzte, würde dieser Anne-Yvette niemals freiwillig aufgeben. Er würde um sie kämpfen. Mit aller Macht, mit allen Mitteln. Klare Sache!
»Eins nach dem anderen«, murmelte Frankie.
In diesem Moment öffnete sich die weiß gerahmte Tür mit dem eisengemaserten Verbundglaseinsatz. Frankie spannte sich an. Mist, der Mann, der nun als Schatten im Hintereingang sichtbar wurde, hatte im Flur kein Licht gemacht und sich im sündigen Dunkel leise durch den Flur nach draußen geschlichen.
Frankie zog den Revolver aus der Innentasche seines Lederblousons und kniff die Augen zusammen. Im matten Lichtschein der Funzel über ihnen erkannte er den Mann im schwarzen Leinenjackett. Frankie hielt die Luft an. Kein Zweifel! Die schwarzen Locken, der Oberlippenbart: Gaston Batteux.
Relaxed, entspannt und … so gut wie tot!
Frankie warf einen letzten, prüfenden Blick nach links und rechts. Keine Menschenseele zu sehen, sie waren alleine. Jetzt nichts unnötig in die Länge ziehen! Frankie richtete sich auf. Mit einem großen Schritt betrat er das Pflaster und stellte sich seinem Opfer in den Weg. Die Revolvermündung samt Schalldämpfer richtete er auf dessen Stirn.
Der Franzose hielt erschreckt inne. »Was?«
Frankie sah keine Veranlassung, auf ein »Was« in irgendeiner Form einzugehen. Sein Zeigefinger krümmte sich, der Schlagbolzen seiner Waffe schnellte nach vorne und hämmerte auf die Patrone in der runden Trommel. Der Schalldämpfer verschluckte das metallene Klicken.
Klicken?
Frankie stutzte. Klicken? Wieso klickte dieses verfluchte Teil?
Fieberhaft ließ er den Schlagbolzen zwei, drei weitere Male nach vorne schnellen. Die Trommel drehte sich, aber kein Schuss löste sich, kein Knall, verdammt, nichts. Nichts verließ den kurzen, silberfarbenen Lauf, um in der Stirn gegenüber ein rundes, tödliches Loch zu machen.
Stattdessen erkannte Frankie entsetzt, wie sein Gegenüber in den schwarzen Sakko griff und blitzschnell eine Waffe ins schale Licht der Bogenlampe zerrte.
Sein Blick fiel ein letztes Mal fassungslos auf die Waffe in seiner rechten Hand. Und auf die eingestanzte Seriennummer im Eisen. 6501. Und in diesem, seinem allerletzten Moment, begriff Frankie: Die öligen Hähnchenschenkel, der blaue BH, keine Serviette, das Bad …
Dann war es seine Stirn, in die sich eine Kugel mit lautem Scheppern den Weg in seinen Kopf bahnte, um dort alles kaputt zu machen, was man zum Leben braucht.
Michel Jacques, Kommissar des Morddezernats in Lille und zuständig für Kapitaldelikte in Wambrechies, legte zögernd eine Hand auf den Griff der Haustür. Noch einmal drehte er sich um und blickte der hübschen Frau mit den dunklen Haaren in die blauen Augen.
»Es tut mir leid«, fügte er mit tiefer Stimme ein wenig ungelenk seiner Verabschiedung hinzu.
Sie nickte und hielt seinen Blick. Was immer er in ihren Augen suchte, er fand es nicht. Sie drehte sich langsam weg. Jacques hob kaum merklich seine Augenbrauen. Was …? Was hatte er erwartet? Was hatte er nicht gefunden? Was, verflucht noch mal, was stimmte hier nicht?
Langsam drückte er die Klinke, öffnete die Tür.
»Endlich!«, schien sein uniformierter Kollege des hiesigen Departements stumm zu stöhnen und schlüpfte eilig nach draußen, »endlich«. Michel Jacques folgte ihm, langsam, zögerlich. Er war ein erfahrener Ermittler, erfolgreich, mit viel Gespür für …
Er schüttelte den Kopf. Mit einem entschlossenen Ruck zog er die Tür zu und ließ die junge Frau in ihrem Haus alleine zurück. Nachdenklich vergrub er eine Hand im eleganten Trenchcoat, strich mit der anderen über seine sportlich-kurzen Haare und versuchte, seinem Kollegen, der unsicher vor ihm her trippelte, nicht in die ausgetretenen Hacken seiner dunklen Uniformschuhe zu treten.
Über seine Schulter warf er einen Blick zurück. Stand sie am Fenster? Hinter den Gardinen? Blickte sie ihnen hinterher?
Der Gendarm öffnete das eiserne Gartentor, hielt es dem Kommissar auf und seufzte. »Ich verstehe dich nicht, Kollege. Warum hast du die arme Frau so unter Druck gesetzt?«
»Unter Druck gesetzt? Ich habe ihr Fragen gestellt.«
»Nun ja. Sie hat ein Alibi. Sie hat von halb zwölf bis halb drei mit einem Freund telefoniert. Dem Freund ging es schlecht, seine Frau ist vor zwei Monaten nach langer Krankheit gestorben. Er rief sie an, sie stand ihm bei. Wir haben das überprüft. Bei dem Freund und bei der Telefongesellschaft. Das ist doch in Ordnung.«
»Das ist ein Alibi«, bewertete Jacques genau dieses Telefonat anders.
»Wieso sollte sie ein Alibi brauchen?«, fragte der Kollege verwirrt.
Jacques öffnete die Tür seines Dienstwagens. »Genau. Wieso braucht sie ein Alibi? Und wieso hat sie eines?«
Der uniformierte Kollege blickte ihn übers Wagendach fragend an. »Wir haben über zwanzig Zeugen, die gesehen haben, wie Gaston Batteux mit seinen beiden Spießgesellen in Fibarots Stammkneipe gestürmt ist und ihm persönlich ein ganzes Dutzend Kugeln in den Körper gejagt hat. Wütend und mit Schaum vor dem Mund. Ich mache mir vielmehr Sorgen, ob es richtig war, die Frau ohne psychologische Betreuung in ihrer Wohnung alleine zurückzulassen.«
Jacques schnaufte höhnisch und ließ sich ins Auto fallen. »Du weißt, wer ihr Bruder ist? Der größte Halunke im ganzen Departement Nord! Die Kleine ist süß, hat es aber mit Sicherheit faustdick hinter den hübschen Ohren. Ich habe eher den Eindruck, dass Pierre Fibarot, der kleine, glitschige Vorstadtgauner, nicht so ganz ihre Kragenweite gewesen ist. Wahrscheinlich hat sie längst ein heißeres Eisen im Feuer und ist froh, dass ihr jemand den schmierigen Sandkastenfreund von der Seite gepustet hat.«
Der Gendarm an seiner Seite runzelte verärgert die Stirn und startete fuchsig den Wagen. Unangemessen! Ein Streifenwagen rauschte heran und bremste mit quietschenden Reifen neben ihrem Fahrzeug. Jacques fuhr die Seitenscheibe herunter.
Ein uniformierter Kollege rief ihm zu: »Kommissar, es gibt einen zweiten Toten in Bondues. Ein Deutscher, auf einem Parkplatz. Man hat ihm direkt in die Stirn geschossen.«
Michel Jacques runzelte die Stirn. »Zwei Erschossene? In einer Nacht?«
Ganz vorsichtig schob sie die Gardine einen kleinen Spalt weit zur Seite. Der uniformierte Polizist hatte den beiden Beamten aus seinem Wagen irgendetwas zugerufen. Hastig trat sie zurück, als der Kommissar beim Losfahren noch einmal einen misstrauischen Blick in ihre Richtung warf. Der Kommissar … Sie fischte seine Visitenkarte vom Wohnzimmertisch.
»Michel Jacques«
Die Art, wie er sie gemustert hatte. Die Art und Weise, wie er seine Fragen stellte. Sein Blick. Zur Not würde sie jemanden finden müssen, der sich um ihn kümmern würde.
Das Handy summte. Sie ging ran. »Hallo?«
»Ich bin es.«
»Du schon wieder«, lächelte sie leise und strich ihre Haare nach hinten.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.
Sie liebte seine tiefe, ruhige Stimme. Oh ja, ihr hatte auch Frankies muskulöser Körper gefallen. Sehr angenehm hatte er sich angefühlt, als sie ihn am Abend nach einer zweiten Waffe abgetastet, ihm unter die Schultern und hinten in den Hosenbund gefasst hatte. Diesen Körper hätte sie sich gerne noch einmal gegönnt, aber der Mann, Frankie, hatte sie damals in Hamburg einfach sitzenlassen. Ohne ein Wort des Abschieds. Abgelegt, wie ein billiges Kleidungsstück. Jetzt würde man ihn ähnlich tot finden wie Pierre. Oder schon gefunden haben. Noch besser.
Sie servierte Frankie die vor Öl und glitschiger Mirabellenkonfitüre triefenden Hähnchenschenkel und … vergaß, Servietten bereitzulegen. Als er sich im Bad die Hände wusch, tauschte sie die Waffe in seiner Lederjacke gegen eine aus, deren Trommel mit manipulierten Patronen gefüllt war. Oh ja, sie hatte genau gesehen, wie ihn ihr blauer BH ablenkte, ihn unvorsichtig werden ließ. Sie hatte ihm noch ein paar unanständige Gedanken mit auf den Weg gegeben und …
»Armer Frankie!«
»Tot?«
»Er legt auf Gaston Batteux an, die Waffe versagt. Batteux erschießt ihn auf der Stelle und weiß sofort, wer hinter dem Attentat steckt und wo er Pierre finden kann. In seiner Rage fährt er dorthin und erschießt ihn. Die Polizei ist schon hinter ihm her.«
»Genau, wie du es geplant hast. Fantastisch!«, lobte er.
Sie lächelte. »Ein gutes Menü will perfekt geplant sein. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich auf den Nachtisch freue. Kommst du?«