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»Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«

Vor Vanuzzi teilte sich die Gruppe der Umstehenden. Er kniete sich neben den Körper. Djefel lag mit zerschmettertem Kopf auf dem Pflaster des Bürgersteigs. Vanuzzi betastete vorsichtig das Genick, zog einen Taschenspiegel aus seiner Jacke und hielt ihn vor den Mund des Algeriers. Er beschlug nicht.

»Tot, nä?!«

»Was’n eigentlich passiert?«

»Vom Dach gesprungen. Hab’s gesehn.«

Vanuzzi tat, als würde er weitere Untersuchungen anstellen. Dabei tastete er Djefel oberflächlich und rasch ab, um einen Hinweis zu erhalten, wo dieser wohnte. Er musste sich beeilen, bevor die Polizei hier war und nach Vanuzzis Papieren fragte. Außerdem war da der Hausbewohner, den er über den Haufen gerannt hatte. Der konnte ihn wahrscheinlich identifizieren und wusste, dass er dem Algerier hinterhergejagt war.

Vanuzzi fand ein Portemonnaie und einen Schlüssel. Durch einen Taschenspielertrick brachte er beides an sich. Dann rief jemand: »Krankenwagen is auffem Weg!«

Vanuzzi stand auf und sagte: »Für den kommt jede Hilfe zu spät.«

Zwei Frauen wandten die Gesichter erschrocken ab, um sie im nächsten Moment neugierig wieder zur Leiche hinzudrehen.

Vanuzzi musste Land gewinnen, doch dafür brauchte er Ödön. Als er sich umblickte, sah er, wie sich der junge Mann an der Hauswand festhielt. Er war leichenblass, schnappte nach Luft. Vanuzzi kannte das Phänomen, im Krieg hatten sie es »Weißwand« genannt: Du kannst einen Menschen im Nahkampf umbringen, auch wenn du das vorher noch nie getan hast. Einige Momente lang bist du ganz klar, fokussiert, stehst über den Dingen. Aber sobald das Adrenalin abgeflaut ist, kotzt du dir die Seele aus dem Leib, hast keine Kontrolle mehr über deine Hände, die zuvor präzise getötet hatten. Ödön hatte zwar schon Leichen gesehen, aber er hatte selbst nie getötet – oder jemanden in den Tod getrieben.

Als Vanuzzi sich anschickte, zu Ödön zu gehen, hielten ihn zwei der Schaulustigen auf.

»Wohin, Doktor?«

»Dem jungen Mann da geht’s nicht gut.«

»Sie müssen mit den Schupos reden.«

»Erst mal kümmere ich mich um den Jungen.«

Sie ließen ihn los, folgten ihm aber mit den Augen. Ödön zitterte, sagte, dass ihm schwarz vor Augen geworden sei, es gehe aber schon wieder. Im nächsten Moment übergab er sich an die Hauswand. Vanuzzi reichte ihm ein Taschentuch.

»Schau mich an. Schau – mich – an! – Gut so. Und jetzt blick nach oben, das stabilisiert den Kreislauf.«

Ödön tat, wie ihm geheißen. Vanuzzi kam näher, er konnte den sauren Atem des jungen Mannes riechen. Er sprach besänftigend in Englisch auf ihn ein, sagte, dass die Übelkeit gleich vorübergehen werde. Dann müsse er ihm helfen, unbemerkt von hier zu verschwinden. Für Ödön bestehe keine Gefahr, er könne nicht mit Djefel in Verbindung gebracht werden, Vanuzzi aber schon. Er schob dem jungen Mann seine Auto- und Wohnungsschlüssel in die Jackentasche, unbemerkt von ihren Beobachtern.

»Wenn die Bullen nichts von dir wollen, gehst du zum Auto zurück. Sollte ich bis dreiundzwanzig Uhr nicht da sein, fährst du. Mach’s dir in meiner Wohnung bequem. – Hast du verstanden?«

Ödön nickte.

»Sehr gut. Ödön: Feuer für einen Raub!«

Der junge Mann blähte die Nüstern beim Einatmen. Vanuzzi führte ihn in Richtung der beiden Männer, die sie noch immer belauerten. Als Vanuzzi ihn losließ, kippte Ödön direkt in deren Arme.

»Ach du Scheiße, wat …?«

Einen Augenblick hatte Ödön die volle Aufmerksamkeit der immer größer gewordenen Menschenmenge. Lang genug, dass Vanuzzi geräuschlos auf die Straße und hinter ein Auto schlüpfen konnte. Von hier setzte er seinen Weg unbehelligt fort.

Sie hatten die alten chinesischen Strategeme, die Vanuzzi in seiner Zeit für den US-Nachrichtendienst kennengelernt hatte, oft durchgesprochen und geprobt. Sie stammten angeblich von einem General aus dem fünften Jahrhundert und gehörten zum Effizientesten, was Vanuzzi in strategischer Kriegsführung kennengelernt hatte. Nun schien ihr Studium Früchte zu tragen. Feuer für einen Raub. Vanuzzi hoffte nur, dass Ödöns Schwächeanfall Teil des Strategems war und er nicht wirklich bewusstlos geworden war. Der junge Mann hatte eine Historie von Absencen, auch wenn schon Jahre seit dem letzten Anfall vergangen waren.

Vanuzzi hatte eine Hauptstraße erreicht und trat unter grelles Lampenlicht. Er durchsuchte Djefels Portemonnaie genauer, fand einen Arbeiterausweis der Fabrik mitsamt einer Adresse. Als in schneller Folge Krankenwagen und Polizei an ihm vorüberbrausten, wandte er sein Gesicht rasch vom Licht ab.

Was ihm fehlte, war ein Kölner Stadtplan. Dieses verteufelte deutsche Straßensystem! Namen, die sich keiner merken konnte, Wege, die Kurven beschrieben, und schnurgerade verlaufende Alleen, die nach einer Kreuzung anders hießen … für ein Taxi hatte er zu wenig Geld, Djefels Portemonnaie war auch fast leer. Er fragte zwei Passanten, die ihm aber nicht weiterhelfen konnten oder wollten. Erst ein dritter hatte eine Idee und schickte ihn in die richtige Richtung – ein Fußmarsch von mehr als zwanzig Minuten. Vanuzzi setzte seinen Weg fort, warf den Geldbeutel in einen Abfalleimer. Zuweilen blickte er sich um. Er hatte das vage Gefühl, verfolgt zu werden, und das schon seit einiger Zeit. Er hielt vor Schaufenstern, um Fußgänger vorbeistreifen zu lassen, tat, als ob er sich die Schuhe bände, seine Augen erfassten dabei gründlich die Umgebung – doch der Eindruck, dass ihm jemand auf den Fersen war, bestätigte sich nicht.

Schließlich hatte Vanuzzi das Haus erreicht. Nur zwei der zehn Klingeln waren mit Namen versehen: Müller E. und Müller O. Na prima! Djefels Schlüssel passte, doch die Haustür gab bereits nach, bevor er ihn im Schloss gedreht hatte. Offenbar ließ sie sich gar nicht mehr verschließen, und die Bewohner hatten sich damit abgefunden. Vanuzzi stand im dunklen Treppenhaus, drückte auf den Lichtschalter. Nichts geschah. Er knipste seine Taschenlampe an. Nichts geschah. Er schlug sie ein paarmal gegen den Oberschenkel. Das schien den Wackelkontakt beseitigt zu haben, sie leuchtete wieder hinlänglich hell.

Welche war nun Djefels Wohnung? Er konnte den Schlüssel nicht gut an jeder Tür ausprobieren – viel zu auffällig!

Er ging los. Bei jeder senkrecht stehenden Treppenstufe reflektierte das Licht seiner Taschenlampe und blendete ihn, während er langsam die Stiegen erklomm. Als er oben angekommen war, schlussfolgerte er, dass es nur zwei Wohnungen gab, die keinerlei Merkmale auf seine Bewohner lieferten, wie beispielsweise Geräusche von innen, Licht, Schuhe oder Schmuck an der Tür. Vanuzzi stieg wieder einen Treppenabsatz hinab und probierte den Schlüssel an der ersten dieser beiden Wohnungen, als innen ein Hund anschlug. Er knipste die Lampe aus, fuhr herum und zog sich ins Dunkel zurück. Die Tür flog auf, das Bellen wurde lauter, und ein schnaufender, fetter Mittfünfziger in weißem Unterhemd trat heraus.

»Du besoffene Sau! Willste wieder inne falsche Wohnung? Ich schlach dir den Schädel ein, wenn dat nich aufhört, Kowalski!«

Die Tür knallte zu. Vanuzzi wartete einen Moment, dann schlich er die Treppe hinab und probierte es an der anderen Wohnungstür. Der Schlüssel passte, doch dann hielt er plötzlich inne: Was, wenn Djefel nicht allein lebte?

Frau und Kinder hatte er in Algerien keine. Dass er sich in Deutschland jemanden angelacht hatte … möglich, aber unter seinen Lebensbedingungen unwahrscheinlich. Doch Ben Kemali – vielleicht teilten sie sich die Wohnung?

Vanuzzi wollte nach seiner Pistole greifen und stellte fest, dass er sie nicht dabeihatte. Porca Madonna! Er hatte sie Ödön gegeben, bevor er Djefel nachgestiegen war und dann glatt vergessen. Er atmete tief durch, hielt die Taschenlampe so, dass er damit zuschlagen konnte. Dann stupste er die mittlerweile offene Tür an, die einen leisen Knarrton von sich gab, und spähte hinein.

Drinnen war es still. Es war viel heller als im Treppenhaus, durch gardinenlose Fenster fiel der Schein von Straßenlaternen in die Räume. Vanuzzi durchkämmte sie nacheinander, bis er sicher sein konnte, dass niemand da war.

Es war eine ausgekühlte, heruntergekommene Bude mit Kammer und Küche, kleiner als seine eigene. Ein Waschbecken, Tisch und Stuhl, Matratze auf dem Boden; ein Teppich, zusammengerollt in der Ecke, wahrscheinlich für Djefels Gebete. Vier Bücher, drei auf Arabisch, ein französisches; Kochutensilien, Vorräte für wenige Tage. Nicht mehr als ein Notbehelf für jemanden, der nicht viel brauchte. Der den Tod einem französischen Geheimdienstverhör vorzog.

Als sich Vanuzzi in der Kammer setzte, die Djefels Wohn- und Schlafzimmer zu sein schien, kippelte der Stuhl und ächzte unter seinem Gewicht.

Wie hatten damals die Mobster, mit denen er als Jugendlicher zu tun gehabt hatte, ihre Sachen versteckt? Lose Bretter im Dielenboden – hier gab’s nur den Estrich. Hinter der Tapete – hier gab’s nur nackten Putz an den Wänden. Toilette – zu riskant, Vanuzzi hatte im Treppenhaus Etagenklos gesehen, die sich mehrere Mietparteien teilten. Er stand auf, tastete die morsche Fensterbank auf einen Hohlraum ab. Nichts. Dann ging er in die Küche und schüttete sämtliche Vorräte ins Waschbecken. In einem Behälter, der Couscous enthielt, wurde er fündig. Es war ein Zettel mit einer Einladung für eine Tombola in einer Kölner Kneipe, übermorgen. Jemand hatte mit wie gemalt wirkenden lateinischen Buchstaben Straßenname und -nummer auf die Rückseite geschrieben. Darunter zwei arabische Buchstaben. Vanuzzi sprach zwar kein Arabisch, aber durch den Kontakt mit palästinensischen Händlern in Tel Aviv hatte er zumindest das Alphabet in Grundzügen gelernt und wusste, dass die beiden Buchstaben B und K waren.

Ben Kemali.

Wie aufmerksam, dachte er. Dann hörte er das Geräusch.

Ein Knarren, das sofort verstummte. Vanuzzi hielt den Atem an. Wieder das Knarren. Stille. Ihm fiel ein, dass er die Wohnungstür nicht zugemacht hatte. Sie hatte in den Angeln gerieben, als er selbst in den Flur getreten war. Er hielt sich noch immer in der Küche auf, sah sich nach einem Fisch- oder Brotmesser um, aber da waren nur stumpfe Tafelmesser.

War das die Polizei?

Da er Djefels Portemonnaie gestohlen hatte, konnten sie die Identität nicht so rasch geklärt haben. Außerdem hätte die längst Licht gemacht.

Ben Kemali?

Wozu dann ein Treffen in einer Kneipe vereinbaren?!

Ein anderer Mitbewohner? Aber hätte der nicht auch längst das Licht angeschaltet?

Es musste jemand sein, der entweder selbst einbrach oder wusste, dass Vanuzzi in der Wohnung war. Wenn er doch nur seine Pistole hätte …!

Er hörte vorsichtige Schritte im Flur.

Lieber nichts riskieren, vielleicht wäre der andere bewaffnet … Vanuzzi stand leise auf, ging auf den Fußballen Richtung Küchentür und hielt die Taschenlampe schlagbereit. Dann griff er mit der linken Hand ins vorstehende Ende des Türrahmens, schwang sich mit Wucht in den Flur und begann zur Wohnungstür zu rennen. Fünfundneunzig Kilogramm in Schwung zu bringen dauert einen Moment, doch sind sie einmal in Bewegung, räumen sie alle Hindernisse aus dem Weg. Er kollidierte auf Höhe von Djefels Wohnzimmer, aber es war zu dunkel zu erkennen, um wen es sich dabei handelte. Vanuzzis Körpermasse sorgte dafür, dass der andere Leib abprallte und aus dem Flur in den offenen Raum stürzte. Er rannte, durch die Wohnungstür ins Treppenhaus, die Stiegen hinab, hinaus auf die Straße, weiter bis zur nächsten Quere, zur Hauptstraße. Dort schnappte er nach Luft – er musste dringend an seiner Kondition arbeiten, Springseil und Dauerlauf, auch wenn es die Trainingseinheiten waren, die er am Boxen hasste. Vanuzzi sah, dass ihm niemand gefolgt war, und ging schnellen Schrittes zurück zum Wagen. Wenn er sich beeilte, konnte er es bis dreiundzwanzig Uhr schaffen.

An seinem Taunus angekommen, sah er, dass Ödön im Auto schlief. Die Scheiben waren beschlagen. Als Vanuzzi den Motor anließ, stotterte der, kam erst beim dritten Versuch. Ödön wachte auf und gähnte mit offenem Mund. Immerhin schien es ihm wieder gut zu gehen.

Obwohl Vanuzzi todmüde war, hielt er bis sechs Uhr durch, stand bereits eine Viertelstunde früher vor dem Telegrafenamt und wartete, bis der Beamte aufschloss. Vanuzzi folgte den Anweisungen zur Kontaktaufnahme, die ihm Sélestat bei ihrem letzten Treffen gegeben hatte. Es war ein bewährtes Prinzip in Nachrichtendienstkreisen, wenn beide Seiten ihren Aufenthaltsort oder die Telefonnummer nicht preisgeben durften: Sie tauschten eine festgelegte Zahl von Codenamen aus, die nur ihnen vertraut waren und die in regelmäßigem Rhythmus wechselten. Durch den Codenamen, den Vanuzzi benutzte, wüsste Sélestat, dass das Telegramm echt war. Dann war verabredet, dass der Adressat eine darin angegebene Telefonnummer am selben Tag um fünfzehn Uhr anrief. Sollten sie einander nicht erreichen, folgten weitere Anrufe jeweils zur vollen Stunde. Um zu erkennen, ob auch wirklich der Richtige am Telefon war, hielten wieder die Wildgänse her, die hier und dort und überall waren.

Vanuzzi musste in den sauren Apfel beißen und Sélestat das Debakel erklären, bevor der es von einem anderen erfuhr und die Situation erst so richtig außer Kontrolle zu geraten drohte. Er hoffte nur, dass die Kontaktaufnahme auch wirklich funktionierte. Wenn nicht, würde er wertvolle Zeit verlieren. Sobald Ben Kemali von Djefels Tod erführe, würde er abtauchen, und dann wäre alles für die Katz gewesen …!

Nachdem er das Telegramm an die französische Adresse abgesetzt hatte, fuhr er, völlig übernächtigt, zurück in die Wohnung, in der Ödön bereits lautstark Kaffee kochte. Vanuzzi stellte den Wecker, schluckte eine Schlaftablette, zog sich das Kissen über die Ohren und fiel aufs Bett.

Mit dem Klappern leerer Kohlenschütten im Treppenhaus schlief er ein.