»Es tut sich was.«
Der Anruf von Eitan weckte ihn aus dem Halbschlaf. Im Hintergrund waren Stimmen und das Klappern von Besteck zu hören. Obwohl er nicht tief geschlafen hatte, brauchte Rosenberg doch einen Moment, um sich zu orientieren.
»Was tut sich?«
»Er ist in einem Restaurant. Mit zwei Leuten.«
»Ist Florstedt dabei?«
»Nein.«
»Allmächtiger! Sie kennen doch das Prozedere, können Sie das nicht allein … Moment: zwei Leute, sprechen sie Französisch?«
»Vermutlich. Deshalb sollten Sie vorbeikommen. Ich kann kein Französisch.«
Eitan gab ihm die Adresse durch, Rosenberg klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, studierte auf dem Weg zum Wagen den Stadtplan und fuhr los.
Eitan hatte den Tisch geschickt gewählt. Die drei Männer, die zu Mittag aßen, waren in Hörweite, doch von einer Wand aus Pflanzen von Eitan und ihm abgetrennt. Die Gefahr, dass sie erkannt würden, war gering, gleichzeitig vermochten die beiden Agenten hin und wieder einen Blick auf Kaiser und seine Franzosen zu erhaschen.
»Und?«, fragte Eitan flüsternd.
»Ich erkenne sie wieder, sind dieselben wie beim letzten Mal.«
»Was sagen sie?«
Rosenberg zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie behauptet, dass ich Französisch kann.«
Eitan sah ihn entsetzt an. »Und jetzt?«
Die drei waren bereits beim Dessert, es würde nicht mehr lange dauern. Rosenberg gab Eitan den Autoschlüssel.
»Wir brauchen Bilder von ihnen. Holen Sie den Wagen. Stellen Sie ihn so ab, dass Sie fotografieren können, wenn die das Restaurant verlassen. Keine Schnappschüsse, scharfe Bilder!«
Er blickte Eitan hinterher, hörte, wie Kaiser am Nebentisch nach dem Ober verlangte, um zu zahlen. Sah, wie der für seinen Geschmack allzu schnell mit der Rechnung kam. Rosenberg hatte den Kleinlaster in einiger Entfernung abstellen müssen, es war weit und breit kein Parkplatz zu finden gewesen. Er begann, stark zu schwitzen, als die Stimmen neben ihm verstummten. Der Wagen war noch immer nicht zu sehen.
Ein Geldstück vom Boden aufheben und fragen, ob es jemandem der drei Herren gehöre. Dreißig Sekunden gewonnen, aber das Gesicht gezeigt. Auch wenn Rosenberg ein unscheinbares Äußeres hatte, war die Gefahr zu groß, dass Kaiser ihn irgendwann während der Beschattung wiedererkennen würde.
Das Scharren von Stuhlbeinen nebenan.
Einen Blumentopf umkippen, der ihnen vor die Füße fiele, großes Hallo – zwei Minuten gewonnen, aber Rosenberg stünde im Mittelpunkt des Interesses sämtlicher Gäste.
Vielleicht trennten sie sich ja nicht gleich an der Tür – obwohl sie das beim letzten Treffen getan hatten. Vielleicht gingen sie einen kurzen Weg miteinander. Vielleicht.
Er sah die drei Männer Richtung Ausgang schlendern.
Rosenberg legte einen Schein auf den Tisch, wechselte einen kurzen Blick mit dem Ober und strebte nun selbst der Tür zu.
Kaiser hatte sich wie zu erwarten von den Franzosen getrennt und schritt tüchtig aus. Wahrscheinlich war er auf dem Weg nach Hause.
Dann sah Rosenberg ihren Kleinlaster auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Er überquerte eilig die Fahrbahn und riss die Wagentür auf. Er rief nach hinten, Richtung Ladefläche, wo er Eitan vermutete: »Haben Sie sie?«
»Gut und scharf.«
Rosenberg schickte Eitan zu einem Fotostudio, er solle darauf drängen, die Bilder rasch zu erhalten, egal, was es koste. Bis Eitan endlich den Wagen verlassen hatte, hatte Rosenberg die beiden Franzosen aus dem Blick verloren. Er startete den Motor, folgte straßab, hielt an der ersten Querung, obwohl ein weiß uniformierter Polizist, der hier den Verkehr regelte, ihm mit der Trillerpfeife ärgerliche Zeichen gab, weiterzufahren. Rosenberg blickte nach rechts und links – dann sah er sie, offenbar auf dem Weg zu einem Taxistand. Endlich räumte er die Kreuzung, fuhr langsam, bis die Franzosen eingestiegen waren und folgte dem Taxi. Rosenberg hielt den Mindestabstand, den er von Verfolgungen aus seiner Kripozeit kannte.
Bonn lag wie eine Schlafende mit dem Rücken zum Fluss, es gab im Grunde nur Nord oder Süd, am Rhein konnte er sich problemlos orientieren. Doch entweder fuhr der Wagen vor ihm Schleich- oder Umwege oder hatte vor, seinen Verfolger abzuhängen, denn schon nach kurzer Fahrt fand Rosenberg keine markante Stelle mehr, wusste nicht, in welcher Richtung sie unterwegs waren. Nebel und Nieselwetter taten ein Übriges.
Er begann sich zu fragen, ob sie überhaupt noch in Bonn waren. Dann sah er Ortsschilder mit ihm unbekannten Namen. Das war also geklärt.
Nach mehr als einer halben Stunde hielt das Taxi vor ihm unvermittelt irgendwo auf dem Land. Rosenberg fuhr vorbei, dann ließ er den Wagen ausrollen, ohne die Bremse zu betätigen. Im rechten Außenspiegel sah er, wie die beiden Franzosen ausstiegen. Das Taxi zog nicht weiter. Was bedeutete, dass sie nicht lange hier bleiben würden.
Rosenberg blickte sich um, ob die Franzosen ihn bemerkt hätten. Keine Reaktion, sie setzten ihren Weg fort. Die Straße, auf der sie sich befanden, war zwar nicht gerade belebt, aber von Zeit zu Zeit kamen doch Wagen vorüber, vornehmlich Transporter wie seiner. Vielleicht hatte er Glück und fiel nicht weiter auf.
Die Franzosen hielten auf eine Böschung zu, die sie langsam erklommen. Er bereitete sich darauf vor, den Wagen zu verlassen, vermutete, dass sie auf die andere Seite der Böschung wollten, doch sie blieben auf der Kuppe stehen. Rosenberg kurbelte die Seitenscheibe herunter. Er hörte lautes Rauschen, das zu- und wieder abnahm. Dazwischen eine Sirene. Dopplereffekt.
Natürlich, die Autobahn von Bonn nach Köln, jenseits der Böschung.
Rosenberg stieg auf den Beifahrersitz, stellte sein Fernglas auf die zwei Männer ein. Die Sicht war durch den Nieselregen getrübt, außerdem hatte er mit den üblichen Problemen zu kämpfen, die Brillenträger mit Fernstechern eben so haben. Irgendwie musste es gehen.
Die Männer rauchten. Eine Zigarette. Noch eine. Und noch eine. Dann bemerkte Rosenberg im Augenwinkel die Lichter eines Autos auf sich zukommen. Er tauchte ab. Der Wagen blieb ungefähr fünfzig Meter vor dem Transporter stehen, das Licht wurde abgeblendet. Rosenberg sah eine Gestalt aussteigen, der Größe nach männlich, die nach rechts auf die Böschung zuging und dann vom Gesträuch verdeckt wurde, das zwischen Rosenberg und dem Feldrain wuchs.
Wenige Sekunden später tauchte der Mann wieder auf und erklomm die Kuppe. Rosenberg sah ihn nur von hinten, dann drehte sich der Mann ein paarmal ins Profil, war jedoch kaum zu erkennen. Die Begrüßung schien nicht freundlich, man gab einander nicht die Hände, die Franzosen machten ärgerliche Gesten. Der Größere der beiden stieß den Neuankömmling vor die Brust, der strauchelte, bekam aber den Arm seines Angreifers zu fassen und zwang ihn vor sich auf die Knie. Er holte mit dem anderen Arm aus. Der zweite Franzose ging dazwischen, sie ließen voneinander ab. Man wechselte einige Worte, dann stapften die Franzosen die Böschung wieder hinab. Der dritte Mann zündete sich eine Zigarette an.
Rosenberg fixierte die Franzosen im Außenspiegel, sah, wie sie ins Taxi stiegen. Dessen Lichter blendeten auf. Rosenberg duckte sich, um bei ihrem Vorüberfahren nicht entdeckt zu werden, doch der Wagen wendete und fuhr zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Das Treffen hatte keine fünf Minuten gedauert.
Rosenberg schaute mit dem Fernglas zum dritten Mann hinauf, der noch immer im Sprühregen auf der Böschung stand und rauchte. Er fokussierte ihn.
Herrgott!
Er sah irritiert weg, dann wieder zurück.
Ziemlich lädiert zwar … aber ja, er war es, ganz zweifellos.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten …?
Mit dem Fernglas behielt er den dritten Mann im Blick, bis der seinen Wagen erreicht hatte, dann tauchte Rosenberg abermals ab, um vom aufscheinenden Fahrtlicht nicht erfasst zu werden. Das Auto wendete mit heulendem Motor. Rosenberg hastete auf den Fahrersitz, startete den Diesel und fuhr so abrupt an, dass er beinahe mit einem vorüberdonnernden Sportwagen kollidiert wäre. Der Flitzer jagte hupend an ihm vorüber und setzte sich ans Heck des vor ihm fahrenden Autos, das Rosenberg nicht aus den Augen verlieren durfte. Zum Glück kamen sie rasch auf eine größere Straße, der Gegenverkehr hatte zugenommen, man konnte nicht überholen. Wirklich kritisch wurde es erst, als der Mann, der sich mit den Franzosen getroffen hatte, auf Höhe von Köln auf die Autobahn fuhr. Unter normalen Umständen hätte Rosenberg mit seiner lahmen Krücke keine Chance gehabt, dranzubleiben, doch sein Mann fuhr gleichbleibend gemächlich, und wenn er einmal Gas gab und überholte, schaffte es Rosenberg rasch, den Vorsprung wieder aufzuholen.
Sie fuhren nach Norden. Es begann zu dämmern.
Was, wenn der Kerl sehr weit nach Norden fuhr? Wie weit würde Rosenberg ihm folgen – bis Bremen, bis Hamburg? Warum folgte er ihm überhaupt? Intuition? Immerhin standen die Chancen nicht ganz schlecht, dass dieser Mann endlich ein wenig Licht ins Dunkel der Operation bringen könnte.
Die Autobahn wurde zu einer Schnellstraße, die Schnellstraße zu einer Land-, zu einer Geschäfts-, einer Durchgangs-, einer Wohngebietsstraße. Mittlerweile war es dunkel geworden.
Dann sah Rosenberg Bremslichter vor sich aufscheinen, das Auto hielt, parkte ein. Er tuckerte vorbei, blieb in kurzer Distanz stehen. Im linken Außenspiegel sah er den Mann auf ein Haus zugehen und darin verschwinden. Er versuchte sich zu merken, welcher Eingang es war, die Gebäude sahen alle gleich aus. Im dritten Stock ging ein Licht an. Dann ein zweites. Er prägte sich die Position der Lichter relativ zum Hauseingang ein.
Rosenberg setzte den Kleinlaster zurück, parkte. Auf einmal gingen die Lichter wieder aus und der dritte Mann tauchte auf der Hausschwelle auf. Er strebte die Straße hinab und war binnen weniger Sekunden vom Dunkel verschluckt.
Gut. Wenn es auf geradem Weg nicht ging, dann eben anders.
Rosenberg suchte sich im Führerhaus zusammen, was er an Werkzeug brauchte, stieg aus und überquerte die Straße.
Ihn fröstelte. Die Abendluft roch nach Kohlenrauch und Schwefel.