Wie Djefel entstammte Ben Kemali einer wohlsituierten Familie aus Algier. Sein Vater war Rechtsanwalt, wollte, dass der Sohn in seine Fußstapfen träte. Während seines Jura-Studiums begann er sich zu fragen, wie es sein konnte, dass Franzosen und Algerier im Land nicht die gleichen Rechte hatten; warum eine französische Stimme im Parlament achtmal so viel Gewicht hatte wie eine algerische, obwohl sie alle französische Staatsbürger waren; und warum die Franzosen Industrieimperien aufbauen konnten mit billigen algerischen Arbeitskräften, während gleichzeitig die muslimische Bevölkerung am Hungertuch nagte. Ben Kemali kam in Berührung mit einem politischen Arbeitskreis, der sich radikalisierte, als französische Soldaten nach dem niedergeschlagenen algerischen Aufstand von 1945 mit Ringen aus den abgeschnittenen Fingergliedern der Aufständischen posierten. Ben Kemali begann sich ebenfalls zu radikalisieren, las Schriften des antikolonialistischen Philosophen Frantz Fanon und geriet in den Strudel charismatischer Befreiungskämpfer, die ihn zum FLN brachten. Er traf auf Männer, die sich dafür aussprachen, den Terror, den die Algerier jeden Tag im eigenen Land am eigenen Leib erlebten, ins französische Mutterland selbst zu tragen. Sie wollten, dass dort ein Klima von Unsicherheit und Angst entstehe, welches früher oder später dazu führen müsse, dass Frankreich Algerien in die Unabhängigkeit entlassen würde. Ben Kemali sah sich selbst als »Hundertfünfzigprozentigen«, der gern eine Maschinenpistole in die Hand genommen und gegen die Franzosen gekämpft hätte, auch in den Straßen von Paris oder Marseille. Doch da seine Führung bessere Verwendungszwecke für einen Akademiker wie ihn hatte, wurde er mit seinem juristischen Fachwissen und seinem unbedingten Einsatz für die Sache zum perfekten Parteikader. Er wurde mehrmals von der Polizei verhaftet und gefoltert, kletterte umso rascher in der Hierarchie und übernahm schließlich die OPA, die Organisation politico-administrative, die für Kriegspropaganda und Verwaltung innerhalb des FLN zuständig war. Er holte Djefel in seinen Stab, der ihm in Parteiversammlungen aufgefallen war, und machte ihn zu seinem Vertrauten.
Dann kam der Mai 1957 und mit ihm das Massaker von Mélouza. Eine ALN-Einheit war ausgezogen, ein Dorf zu bestrafen, das im Verdacht stand, das MNA zu unterstützen, eine trotzkistische Gruppierung, die mit dem FLN traditionell verfeindet war. Die ALN trieb die Dorfbewohner vor der Moschee zusammen, dann erschlug man sie, Kinder, Frauen, Männer, Alte und Junge, mit Äxten und Spitzhacken. Man stach ihnen die Augen aus, schlug die Hände ab und ließ sie an Ort und Stelle liegen, wo sie von einer französischen Armeeeinheit zwei Tage später gefunden wurden.
Im FLN fluchte man über die sinnlose Grausamkeit der Armeeleute, dann entschied man sich dafür, das Beste daraus zu machen und das Massaker den Franzosen in die Schuhe zu schieben.
An dieser Stelle unterbrach Ödön Ben Kemalis Erzählung und fragte: »Aber wie konntet ihr das belegen?«
»Belegen? Wozu belegen, junger Freund …? Es genügt, wenn man es wieder und wieder behauptet. Und dafür war ich zuständig. Ich habe nie getötet – zumindest nicht mit Waffen …«
Nach Mélouza versuchte Ben Kemali die Stimme, die sich in ihm regte, zu betäuben. Vergeblich. Wir sind nicht besser als die anderen, sprach diese Stimme, wir löschen ein ganzes Dorf aus, wenn es darum geht, eine rivalisierende Organisation auszuschalten. Das war keine nationale Einheit gegen einen Besatzer, das war brutaler Terror!
Schon einen Monat später sollte sich dieser Terror gegen die eigenen Parteikader wenden. Nach der verlorenen »Schlacht von Algier«, als der Konflikt zwischen FLN und französischer Armee eskaliert war, brach innerhalb der Führungsspitze des FLN ein blutiger Machtkampf los. Man suchte Schuldige für diesen Fehlschlag und begann, sich gegenseitig umzubringen. Längst war es kein Krieg mehr von Algeriern gegen Franzosen, sondern von Algeriern gegen Algerier, von FLN-Kadern gegen FLN-Kader. Ben Kemali und Djefel sorgten auch jetzt dafür, dass der jeweilige starke Mann an der Parteispitze die Morde auf französische Polizeieinheiten abwälzen konnte, doch irgendwann in diesen Tagen verstanden sie, dass es ihnen selbst früher oder später an den Kragen gehen würde, weil sie zu viel über die Machenschaften der Mächtigen wussten. Beide hatten begonnen, Alkohol in großen Mengen zu trinken, um ihre Arbeit zu ertragen. Sie berieten sich, dass es so nicht weitergehen konnte – und planten die Flucht. Alles war bereits bis ins Kleinste geregelt, als Ben Kemali die Nachricht ereilte, dass sich Algerien unabhängig erklärt habe und er Mitglied des Schattenkabinetts werden solle. Mitsamt den anderen Regierungsmitgliedern verfrachtete man ihn nach Tunis, wo man ihnen Asyl gewährte. Ben Kemalis Familie blieb in Algerien zurück, er setzte alles daran, sie nach Tunesien zu holen, doch sollte ihm dies erst 1959 gelingen.
Der Fluchtplan war dadurch obsolet geworden. Zumal die Boussouf-Boys, die FLN-Geheimpolizei, alle ranghohen Kader und deren Familien Tag und Nacht bewachte. Offiziell ging es darum, sie vor Mordanschlägen französischer Agenten oder Rechtsextremisten zu schützen, doch in Wahrheit wurden sie überwacht, um zu verhindern, dass sie auf dumme Gedanken kamen. Ben Kemali bot Djefel an, ohne ihn das Land zu verlassen. Er war familiär ungebunden, hatte allein eine bessere Chance. Doch der hielt seinem Chef die Treue.
So versuchten sie es noch einmal mit der Propagandaarbeit. Aber der parteiinterne Konflikt zwischen der FLN-Regierung in Tunis und der ALN-Guerilla zeichnete sich immer deutlicher ab. Die wahre Macht lag längst bei der kämpfenden Truppe, die sich als soldatische Elite verstand. Ben Kemalis propagandistische Arbeit hatte dafür gesorgt, dass die Krieger den Status von Mudschaheddin erhielten. Starben sie, wurden sie als islamische Märtyrer verehrt. Sie rauchten nicht, tranken keinen Alkohol, beteten vorschriftsgemäß und hielten den Ramadan ein. Die meisten von ihnen kamen vom Land, konnten weder lesen noch schreiben. Die FLN-Regierung dagegen bestand aus akademisch gebildeten Kadern – kurz: verweichlichten, verwestlichten Sesselfurzern, die mit allen Mitteln in die Schranken gewiesen werden mussten. Die Propagandaabteilung hatte angefangen, ihr eigenes Grab zu schaufeln.
So vergingen die Monate. Ben Kemalis Familie durfte endlich nach Tunis nachkommen, und de Gaulle wollte das Volk darüber abstimmen lassen, ob Algerien in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Djefel und er fanden de Gaulles Vorschläge akzeptabel. Es war genug Blut vergossen worden, zumal der Kampf immer aussichtsloser wurde, weil es der französischen Armee gelungen war, Algerien von zwei Seiten abzuschnüren. Doch mit dieser Einschätzung waren Ben Kemali und Djefel allein. Die ALN-Kommandanten wollten den Krieg sogar »totalisieren«, wie sie es nannten. Man hatte bei de Gaulles letztem Besuch gesehen, wie sich Tausende Algerier ohne vorherige Mobilisation des FLN zusammengefunden hatten. Würde Algerien jetzt unabhängig, schwämmen dem FLN in den Wahlen die Felle davon, und die ALN-Führung würde die finanzielle Alimentierung ihrer Armee durch die arabischen Ölstaaten verlieren, von der vor allem die Kommandanten selbst und ihre Familien profitierten.
Ben Kemali und Djefel wussten, dass der Moment gekommen war, wollten sie nicht das Blut Tausender an den Händen haben. Im Dezember 1960 war ihnen die Flucht über Italien nach Deutschland gelungen. Nur Ben Kemalis Familie steckte noch immer in Italien fest.
Ödön sah von Ben Kemali zu Vanuzzi, dann wieder zum Algerier hin.
»Warum hast du uns das nicht von Anfang an gesagt?«
»Weil Danvanuzzi mich mit seinem Jazz zugedröhnt, meine Fragen nicht beantwortet und mir nicht zugehört hat! Ich wusste nicht, für wen ihr arbeitet … es war klar, dass es nicht der FLN ist, als ich von den toten Boussouf-Boys in Köln erfahren habe. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr mich dem französischen Geheimdienst ausliefert. Dort hätten mir zwar auch wieder Folter und Isolationshaft gedroht, aber ich hätte eine Chance gehabt zu überleben … ich hätte nur glaubhaft machen müssen, dass ich ein Überläufer bin und wertvolle Informationen habe … und meine Familie wäre frei gewesen. Aber wenn ihr mich an die OAS übergebt, wird der FLN mich und meine Familie töten.«
Vanuzzi überlegte. Log Ben Kemali oder log er nicht? Die Geschichte klang plausibel, aber … warum sollte er ihm glauben? Wenn die Rote Hand, eine SDECE-Einheit, vor Jahren Jagd gemacht hatte auf algerische Unabhängigkeitskämpfer und deren Unterstützer, konnte Sélestat heute auch FLN-Leute nach Frankreich entführen und dort vom SDECE verhören lassen. Und wenn Sélestat Résistancekämpfer war, gleichsam Seite an Seite mit Vanuzzi, als der noch amerikanischer GI gewesen war, gegen die Nazis gekämpft hatte, hatte er jetzt bestimmt nicht plötzlich die Seiten gewechselt. Oder doch …?
Rosenberg hatte Vanuzzi vor den Franzosen gewarnt. Sie hatten Kontakt mit Kaiser, einem ehemaligen SS-Mann, der wiederum mit einem Kriegsverbrecher befreundet war. Das war mindestens etwas befremdlich …
Nach langem Schweigen sagte Vanuzzi: »Trotzdem passt das für mich noch nicht zusammen. Warum sollte dich der FLN austauschen, wenn er dich ohnehin liquidieren will? Er könnte dich gleich hier umbringen und seine wertvollen Geiseln für andere aufsparen.«
»Weil man mich lebend braucht. Ich besitze etwas, das der FLN unbedingt haben muss …«
Sobald Ben Kemali und Djefel beschlossen hatten, dem FLN den Rücken zu kehren und aus Tunis zu fliehen, hatten sie aus den Geldern für die Propagandaarbeit Mittel für ein Tonbandgerät abgezweigt, das sie einem französischen Journalisten abkauften. Da die Maschine wesentlich größer und schwerer war, als er erwartet hatte, musste sich Ben Kemali etwas einfallen lassen. Nach einigen misslungenen Versuchen konnte er es schließlich am Boden einer Munitionskiste, innerhalb eines selbst gebauten doppelten Bodens, platzieren, sodass die Stimmen auf den Bändern gut zu verstehen waren und den aktuellen FLN-Führern zugeordnet werden konnten. Auf diese Weise hatten sie heimlich Aufnahmen von Lagebesprechungen gemacht, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Darauf war zu hören, wie der FLN eigene Kriegsgräuel zugab und zugleich Frankreich in die Schuhe schob. Wenn jemand diese Bänder an eine französische oder deutsche Tageszeitung schickte, wäre schnell Schluss mit der monetären, personellen und ideellen Unterstützung der europäischen Linken für den FLN.
Bevor sie aus Tunis abreisten, hatte Ben Kemali dafür gesorgt, dass dem FLN ein Ausschnitt aus einer der Aufzeichnungen zugespielt wurde. Ben Kemali und Djefel waren für den FLN nicht nur Volksverräter, sondern auch propagandistisch gefährlich und mussten ausgeschaltet werden – sobald man die Bänder hatte. Da man dies aber selbst nicht schaffte, ließ sich der FLN auf den Deal mit dem Todfeind ein: der rechtsextremen OAS.
Ben Kemali stand die Anstrengung des Gesprächs ins Gesicht geschrieben. Der Schweiß lief ihm über die Schläfen herab, er hatte zwei Mineralwasserflaschen ausgetrunken.
Nach kurzem Schweigen sagte Ödön: »Wenn du noch immer nicht überzeugt bist, Dan – die Bänder wären ein Beweis. Oder nicht?«
Vanuzzi zuckte mit den Schultern.
»Können wir sie anhören, Ben Kemali?«
»Die Gespräche sind in Arabisch, junger Freund, ihr würdet nichts verstehen.«
Ödön schien nachzudenken. Dann sagte er: »Aber Rosenberg.«
»Das stimmt. Wir müssten nach Köln, Danvanuzzi, sie liegen in einem Bankschließfach.«
Ödön war aufgesprungen, doch Vanuzzi hielt ihn am Arm fest.
»Whoa, whoa, hier fährt niemand irgendwohin! Eine bessere Gelegenheit, stiften zu gehen, kommt nicht mehr.«
»Kannst du ihm nicht einfach den Schlüssel geben, Ben Kemali?«
»Keine gute Idee. Danvanuzzi muss sich in ein Buch eintragen, wenn er in den Schließfachbereich will. Die Bankangestellten vergleichen die Unterschrift, sie merken sofort, dass sie nicht stimmt, und rufen die Polizei. Außerdem sind die Bänder meine Lebensversicherung, ich möchte sehen, was mit ihnen geschieht.«
»Dann fällt das flach«, sagte Vanuzzi. »Es muss anders gehen …«