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Sie lag in einiger Distanz zu den nächsten bewohnten Grundstücken. Die ehemalige Grube Albertus Magnus war heute eine Industriebrache, nur vereinzelt standen Häuserruinen, die seit Jahren auf den Abbruch warteten. Die Natur hatte begonnen, sich das Gelände zurückzuerobern. Die Gebäude waren überrankt mit Efeu und wildem Wein, um sie herum wuchsen Büsche und Sträucher. In den Hallen war der Beton aufgeplatzt und gab kleinen Bäumen und Grasflächen nach. Die Bahnschienen zur Abfuhr der Kohle waren verrostet und verbogen. In einigen Abschnitten fehlten sie gänzlich – wahrscheinlich hatten sich Langfinger daran gemacht, mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest und noch halbwegs brauchbar gewesen war.

Vanuzzi hatte sich das Haus ausgesucht, das den besten Erhaltungszustand versprach. Er war zu Zeiten, als er noch nicht den Kellerraum des Boxclubs übernommen hatte, öfter hier gewesen, um zu prüfen, ob sich ein Raum finden würde, damit er wenigstens kurzfristig seine Sachen unterstellen konnte. Das war nicht der Fall, und so hatte er keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.

Vanuzzi war mit Ödön und Ben Kemali während der Dämmerung angekommen. Das Aschgrau des westlichen Himmels ertrank allmählich in der dunklen See des Horizonts. Wegen der Lichtverhältnisse konnten sie sicher sein, von Passanten nicht entdeckt zu werden – auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sich überhaupt jemand um diese Uhr- und Jahreszeit hier herumtrieb. Gleichzeitig war es noch hell genug, um das Gebäude zu durchsuchen, falls die Franzosen geplant hatten, sie in einen Hinterhalt rennen zu lassen.

Vanuzzi hatte Ödön auf einer Empore zu seiner Rechten platziert, wo der junge Mann Deckung und zugleich einen guten Rückzugsweg haben würde. Er selbst und Ben Kemali blieben in der Gebäudemitte. Der Algerier saß, noch immer gefesselt, auf dem Boden, hinter einem langen, umgestürzten Tisch versteckt. Von hier aus konnte Vanuzzi den Eingang links vor ihm im Auge behalten, zugleich befand sich hinter ihnen ein Ausgang, der für Ortsunkundige nicht zu finden war. Auf dem Weg dorthin standen Schränke und lagen weitere umgestürzte Tische, die ihnen, falls sie sich schnell zurückziehen mussten, Deckung bieten würden.

Um überhaupt etwas sehen zu können, hatte Vanuzzi zwei alte Ölfässer auf halbem Weg zwischen sich und dem Eingang aufgestellt, sie mit zerschlagenen Regalbrettern befüllt und das Holz angezündet. Der Widerschein der Flammen warf groteske Schattenspiele an Wand und Decke.

Dann warteten sie.

Die einzige Zufahrtsstraße auf das Gelände schlängelte sich auf der Seite des Gebäudes entlang, die Ödön durch ein Fenster mit zerbrochener Scheibe gut einsehen konnte.

Lange Zeit geschah nichts. Vanuzzi spielte nervös an seiner Pistole herum. Schließlich hörte er die Stimme Ödöns: »Auto!«

Es dauerte weitere zwei Minuten, bis sie den näher kommenden Motor hören konnten. Irgendwann veränderte sich das Geräusch nicht mehr, er schien im Leerlauf zu tuckern, bis der Laut erstarb. Zwei Türen wurden zugeschlagen, dann fielen die fahlen Lichtscheine von Taschenlampen durch den Eingang herein. Sélestat und Faucon näherten sich langsam, Letzterer trug einen Handkoffer bei sich. Als die Franzosen bei den Ölfässern angekommen waren, rief Vanuzzi: »Bleibt stehen, dass ich euch sehen kann!«

Der Pudel und sein Rottweiler wechselten einen schnellen Blick. »Was soll das Theater, Vanuzzi? Trauen Sie uns nicht?«

»Zwanzig Meter sind eine gute Distanz für Geschäfte.«

»Ich sehe Sie, aber wo ist Ben Kemali?«

Vanuzzi nickte dem Algerier zu, der aufstand und sein Gesicht zeigte. Die Franzosen sprachen ein paar Worte miteinander, die Vanuzzi nicht verstand.

Anschließend sagte Sélestat: »Dann können wir wohl zur Übergabe kommen.«

Vanuzzi signalisierte Ben Kemali, sich wieder hinzusetzen. »Nicht so schnell! Es gibt da ein paar Dinge, die finde ich sonderbar, Sélestat … angefangen damit, dass Sie die ganze Zeit darauf gedrängt haben, die Übergabe auf französischem Boden stattfinden zu lassen. Und auf einmal lassen Sie sich darauf ein, dass es in der BRD passiert.«

»Wie sagen die Deutschen, Vanuzzi? Lieber den Spatz in der Hand …«

»Ach ja? Und der Spatz in der Hand bringt jetzt keine diplomatischen Verwicklungen mehr?«

Sélestat sah zu Faucon. Der begann, in seinem Mantel zu kramen.

»Warum zerbrechen Sie sich für uns den Kopf, Vanuzzi? Sie sollten lieber mal einen Blick in den Koffer hier werfen.«

»Aber Kopfzerbrechen ist eine meiner Schwächen, Sélestat, schon mein Vater selig hat sie mir nicht austreiben können. Mir ist da nämlich eine Geschichte zu Ohren gekommen, die ich Ihnen erzählen muss. – Es war einmal ein Häuflein SDECE-Leute, die aus ihrer Truppe geflogen waren, weil sie mit Nazis rumgefummelt haben. Sie beschlossen, ab sofort ihr eigenes Süppchen zu kochen und ranghohe FLN-Leute zu jagen. Sie konnten das aber nicht selbst tun, sonst wäre der SDECE auf sie aufmerksam geworden. Deshalb suchten sie sich einen Externen, einen vom MI6, der Erfahrung und Schulden hatte und so gut wie alles getan hätte, um an Geld zu kommen. Dem erzählten sie, dass die Übergabe der FLN-Leute in Frankreich stattfinden müsse. Sie wussten, dass er die Glaubhaftigkeit ihrer Legende überprüfen und sich an diesem Detail festbeißen würde. Würde die Sache schiefgehen, könnte man sie auf die Briten schieben und wäre fein raus. Doch wenn’s klappte, könnte man die Algerier gegen ein paar Nazifreunde austauschen. Und dann wäre es auch egal, wenn die Übergabe in der BRD stattfinden würde …«

Vanuzzi sah, wie Faucon eine Pistole zog und durchladen wollte, doch Sélestat hielt ihn mit einer Hand zurück. »Eine schöne Geschichte, Vanuzzi. Woher haben Sie die?«

»Hat mir ein Vögelchen gezwitschert.«

»Schlachten Sie das Vögelchen, gibt bestimmt ein leckeres Süppchen.«

Faucon lachte dümmlich.

»Dann hab ich lecker Süppchen, aber das Vögelchen zwitschert nicht mehr. Wär doch schade drum, da gibt’s noch so viel mehr Geschichten …«

»Monty hat offenbar übertrieben. Er sagte, Sie sind gut und skrupellos. Scheint beides nicht zu stimmen. – Ben Kemali ist ein Kriegsverbrecher, Vanuzzi. Haben Sie schon mal vom Massaker von Ouarsenis gehört? Das Pack hat vierhundert französische Soldaten abgeschlachtet. Und jetzt raten Sie, wer der Oberbefehlshaber der Algerier war?«

»Das Massaker von Ouarsenis. Auch davon hat das Vögelchen erzählt. – Ben Kemali hat am 23. Dezember 1960 Tunis verlassen, die Stempel in seinem Pass belegen es. Wann hat dieses Massaker stattgefunden, Sélestat?«

»Ist das hier ne gottverdammte Quizshow?«

»Antworten Sie!«

»Du kannst mich mal, Vanuzzi!«

»Ouarsenis war Mitte Januar 1961, da war Ben Kemali schon längst in Italien.«

»Na und? Dann halt nicht Ouarsenis. Irgendwo wird der Hurensohn schon mitgemischt haben. Die Algerier haben alle Dreck am Stecken.«

Vanuzzi nahm einen Blick Sélestats nach rechts oben auf. Hatte der Franzose Ödön entdeckt? Vanuzzi zog seine eigene Pistole aus dem Hosenbund und entsicherte sie, hielt sie aber hinter seinem Rücken verborgen.

»Vanuzzi: Was glaubst du, worum’s hier geht, eh? Längst nicht mehr um Frankreich und Algerien. Es geht um den Kampf Zivilisation gegen Barbarei. Es geht ums Überleben der weißen Rasse!«

»Wenn’s euch ums Überleben der weißen Rasse geht, warum legt ihr Ben Kemali dann nicht einfach um, statt ihn zu seinen Leuten zurückzubringen?«

»Warum sollen wir uns an so einem die Hände schmutzig machen?! Sollen die Mélons das selbst erledigen, wir bekommen zwei unserer fähigsten Kommandeure zurück.«

»Und was stellt ihr dann mit euren fähigen Kommandeuren an, Sélestat?«

»Algerien ist französisch und wird es bleiben! De Gaulle ist ein Diktator, ein Volksverräter. Die politische Elite in unserem Land ist schlimmer als die Gestapo. Sie ist korrupt, sie will uns an die Sowjets verkaufen!«

»Sagt jemand, der in der Résistance gekämpft hat.«

»Der Kampf ist der gleiche, damals gegen die Deutschen, heute gegen die Volksverräter. Sie hätscheln die Algerier auf unsere Kosten, aber wir, wir haben dieses Land wieder aufgebaut. Ich nenne das Selbstverteidigung, wir holen uns unser Land zurück!«

»Von welchem Land reden Sie, Sélestat? Frankreich? Algerien?«

»Ein letztes Mal: Algerien ist französisch und wird es bleiben! Was wird wohl passieren, wenn diese Bougnoules unabhängig werden, hm? Sie werden die französischen Männer erschlagen, die französischen Frauen vergewaltigen und französische Kinder versklaven. Millionen werden sterben. Aber wir können es verhindern! Die OAS sieht alles!«

»Danke, Sélestat. Jetzt weiß ich, was ich wissen muss. Zeit, dass wir verschwinden, Ben Kemali.«

»Aber natürlich, Vanuzzi, wir hätten es wissen müssen – mit Juden soll man keine Geschäfte machen!«

Vanuzzi nahm wieder den Blick nach rechts wahr – und duckte sich instinktiv zu Boden. Zwei Schüsse fielen beinahe gleichzeitig: einer von Faucon, der auf dem Tisch vor Vanuzzi abprallte, und ein zweiter von der rechten Seite, der Vanuzzi am Arm auf Höhe des Ellbogens traf. Es schmerzte nicht besonders, fühlte sich an, als hätte ihn ein Cross beim Boxkampf getroffen. Als sich Vanuzzi zu orientieren versuchte, wo genau sich Sélestats dritter Mann befand, krachte ein weiterer Schuss von der Empore. Ein Schmerzensschrei. Dann ein Geräusch, als ob eine Pistole zu Boden fiele. Im Augenwinkel sah Vanuzzi Ödön, der zwei weitere Schüsse abgab, und einen gekrümmten Schatten, der von der Empore entfloh. Vanuzzi drehte sich wieder nach vorn und sah Faucon auf sich zukommen, der den Koffer als Deckung vor die Brust hielt. Faucon ballerte Richtung Empore, dann wieder auf Vanuzzi.

Vanuzzi atmete rasch ein und wieder aus, streckte den Kopf über den Tisch und schoss zweimal hintereinander. Die erste Kugel traf Faucon in den Oberschenkel und ließ ihn mitsamt Koffer zu Boden gehen, die zweite blieb in der Stirn des OAS-Mannes stecken. Faucon gab ein lautes Zischen von sich, dann knallte er auf sein Gesicht. Vanuzzi war wieder abgetaucht, hörte zwei Schüsse von Ödöns Seite, dann mehrfaches lautes Klicken. Noch immer keine Reaktion von Sélestat, vielleicht hatte dessen Waffe Ladehemmung. Sekundenbruchteile später knallten Schüsse in Ödöns und Vanuzzis Richtung. Als Vanuzzi wieder den Kopf über den Tisch erhob, sah er, wie Sélestat den Geldkoffer an sich brachte und zum Eingang rannte. Dabei schoss er unentwegt weiter auf Vanuzzi, um seinen Rückzug zu sichern. Als die Kugeln des Franzosen ihn nicht mehr treffen konnten, jagte ihm Vanuzzi hinterher. Draußen war es noch hell genug, dass er sehen konnte, wie Sélestat auf einen dunklen Citroën DS zurannte. Der Fahrer war ausgestiegen und nahm Vanuzzi ins Visier. Der hechtete hinter einen Mauervorsprung zurück, die Kugel des Franzosen ging meterweit daneben. Vanuzzi schoss umgehend, traf zweimal das Dach des Wagens, verfehlte aber den Fahrer. Sélestat war in das Auto gesprungen, dessen Motor im nächsten Augenblick ansprang. Sekunden später sah Vanuzzi nur noch eine Staubwolke, die sich entlang der Zufahrtsstraße ausbreitete.

Er kehrte ins Gebäude zurück. Ödön und Ben Kemali hatten sich über die Leiche von Faucon gebeugt. Sie selbst waren unverletzt. Vanuzzi hatte einen Streifschuss abbekommen und blutete leicht. Er hatte Jod im Auto, das würde es tun.

»Der dritte Mann, Ödön?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Ich hab nichts mitbekommen, erst als er geschossen hat.«

Vanuzzi ging auf die rechte Hausseite zu. Er sah, dass es hier einen Mauerdurchbruch gab, der neu war und der es einem schlanken Mann erlaubte, ungesehen ins Gebäude und auf die Empore zu gelangen. »Schlampige Arbeit, Dan!«, fluchte er halblaut. Er konnte von Glück reden, dass der Kerl auf der Empore nicht über Ödön gestolpert war und kurzen Prozess gemacht hatte.

Vanuzzi sammelte die Patronenhülsen ein, die er auf die Schnelle finden konnte, und löschte das Feuer. Jetzt sah es so aus, als ob in der Halle ein paar Obdachlose Platte gemacht hätten. Dann kehrte Vanuzzi zu den anderen zurück und signalisierte, dass sie ihm helfen sollten, Faucons Leiche verschwinden zu lassen.

»Was …? Das ist ein Klotz von Mann!«, sagte Ben Kemali und erhob die Arme, die noch immer in Handschellen steckten.

»Kofferraum, dann in den Rhein-Herne-Kanal!«

»Dan …?«

»Wir können ihn nicht liegen lassen, bei einer Leiche schaltet sich die Kripo ein. Hier gibt’s jede Menge Spuren, die zu uns führen könnten. Außerdem hat man mich mit ihm gesehen, mehr als einmal.«

Beim Anheben des Körpers machte sich der Streifschuss bemerkbar – ein dumpfer Schmerz fuhr Vanuzzi in den rechten Ellbogen. Er biss die Zähne zusammen. Selbst zu dritt hatten sie Mühe, Faucon aus dem Haus und ins Auto zu tragen. Dort stellte sich heraus, dass er nicht in den Kofferraum passte. Sie fixierten ihn auf dem Rücksitz und zogen ihm einen Hut tief in die Stirn. Von Weitem sah es aus, als ob ein Besoffener seinen Rausch ausschliefe.