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Freitag, 16 . September, 18 :00  Uhr

B is 18 :00  Uhr an diesem Freitagabend war es Jessica gelungen, insgesamt vier Person zweifelsfrei zu identifizieren, die alle die Liste erhalten hatten, sie selbst und Frank Hopkins nicht mitgezählt. Bei Ethan Dart und Arthur Kruse war es relativ leicht gewesen, vielleicht weil ihre Namen die ungewöhnlichsten waren. Jessica hatte Kontakt mit mehreren Frauen namens Caroline Geddes gehabt, die alle über die Frage verdutzt waren, ob sie eine geheimnisvolle Liste mit der Post bekommen hätten, ehe sie bei einer Professorin der University of Michigan den Jackpot knackte. Wie bei Ethan und Arthur rief Jessica die nächstgelegene Außenstelle des FBI an und ließ Brief und Kuvert abholen. Sie hatte außerdem nach nur vier oder fünf Sackgassen einen Treffer bei einem Matthew Beaumont gelandet, obwohl dieser Name recht gewöhnlich war. Sobald sie seine Stimme am Telefon gehört hatte, hatte sie gewusst, dass dieser Matthew Beaumont, Vice President einer Finanzgesellschaft in Boston, der richtige war. Wie kam das? Sie hatte ihn in seinem Büro erreicht, als er gerade gehen wollte, und er hatte sich bereit erklärt, sich mit einem Agenten zu treffen. Sie stellte ihm die üblichen Fragen – er gab an, dass ihm keiner der übrigen Namen etwas gesagt hatte –, dann fragte sie ihn nach seinem Alter, zum Teil, weil er sich für einen Vice President sehr jung anhörte.

»Ich bin neununddreißig«, antwortete er.

»Ah, genau mein Alter«, rutschte es Jessica heraus.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, überlegte sie, wie alt Ethan Dart und Caroline Geddes wohl waren. Arthur Kruse hatte ihr erzählt, er sei fünfundvierzig. Ethan und Caroline hörten sich an, als wären sie ebenfalls Ende dreißig, Anfang vierzig. Aber was war mit Frank Hopkins? Er war zweiundsiebzig gewesen.

Sie blickte zum hundertsten Mal auf die Namen und versuchte, auf das mögliche Alter derer zu schließen, die sie bisher nicht hatte ausfindig machen können. Jay Coates konnte in jedem Alter sein, Mitte dreißig ebenso wie über siebzig. Jay war seit Längerem ein beliebter Name. Jack Radebaugh hörte sich nach einem etwas älteren Mann an, aber vielleicht dachte sie das auch nur, weil der berühmteste Jack Radebaugh ein siebzig Jahre alter Business-Guru war. Mit dem hatte sie jedoch bereits gesprochen, und er hatte den Brief nicht erhalten.

Die letzte Person, die sie nicht finden konnte, war Alison Horne, und das war ein weiterer Name, der zu jemandem in jedem Alter gehören konnte, und es war außerdem ein so weit verbreiteter Name, dass es sehr schwierig werden dürfte, die richtige Alison Horne zu finden.

Da sie mehr über Frank Hopkins in Erfahrung bringen wollte, beschloss sie, bei der Polizei von Kennewick anzurufen.

Nachdem sie sich als FBI -Agentin vorgestellt hatte, bat sie darum, den zuständigen Ermittler im Mordfall Frank Hopkins zu sprechen.

»Der Fall ist an die State Police gegangen, meine Liebe«, sagte die Frau am Empfang. »Aber Detective Hamilton ist noch da. Er war am Tatort, falls Ihnen das etwas nützt.«

»Das wäre großartig.«

Nach etwa dreißig Sekunden kam der Detective in die Leitung und stellte sich vor.

»Detective, hier spricht Agent Winslow vom FBI -Büro Albany. Haben Sie eine Minute Zeit?«

»Ihr Vorname ist nicht etwa Jessica, oder?«

»Doch. Sie haben die Liste gesehen.«

»Oh. Ehrlich gesagt, habe ich es halb im Scherz gesagt. War das tatsächlich Ihr Name auf der Liste?«

»Ja. Ich habe einen Brief erhalten, der identisch mit dem ist, der heute Morgen bei Frank Hopkins gefunden wurde. Das wird allerdings vorläufig noch unter Verschluss gehalten.«

»Was genau?«

»Die Existenz des Briefes und der Liste.«

»Ach so, ja. Das habe ich gehört«, sagte der Detective. »Was hat es mit der ganzen Sache denn nun auf sich? Kennen Sie die anderen Leute auf der Liste?«

»Keinen von ihnen. Wir haben einige der anderen ausfindig gemacht. Keine Verbindungen, zumindest keine, die wir sehen können.«

»Sehr merkwürdig, das Ganze«, sagte Detective Hamilton.

»Es ist noch merkwürdiger, wenn der eigene Name draufsteht.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Also – was können Sie mir über Frank Hopkins sagen?«

»Er hat sein ganzes Leben hier oben in Kennewick verbracht. Zweimal verheiratet, keine Kinder. Er hat ein familiengeführtes Hotel namens Windward Resort übernommen, das seine Eltern aufgebaut hatten.«

»Das befindet sich ebenfalls in Kennewick?«, fragte Jessica. Etwas an dem Namen war ihr ein klein wenig bekannt vorgekommen.

»Am Kennewick Beach, ja. Es war früher irgendwie ganz schick. Ein Ort, an dem Familien einen Monat am Stück verbracht haben. Vollpension, Shuffleboard, Martinis auf der Veranda. Aber inzwischen ist es ziemlich heruntergekommen. Ich glaube, Frank hat es nur weiterbetrieben, damit er eine Bar hatte, an der er trinken konnte, während er vorgab, ein Geschäft zu führen.«

»Er war Alkoholiker?«

»Vermutlich. Ein funktionierender Alkoholiker, wie die Hälfte der Leute, die ich kenne. Er hat aber nie Ärger gemacht. Die meisten Leute schienen ihn zu mögen.«

»Einschließlich Ihnen?«

»Sicher, einschließlich mir. Es kam vor, dass ich mir freitagabends einen Drink im Windward genehmigt habe, und Frank war immer freundlich.«

»Sie waren am Tatort?«

»Ja. Ich bin nicht allzu nahe herangegangen, aber es war klar, dass ein Verbrechen stattgefunden hat. Gut, vielleicht nicht klar, aber ich glaubte aus irgendeinem Grund nicht, dass es sich um einen natürlichen Tod handelte. Es sah aus, als hätte ihm jemand den Kopf ziemlich heftig in den Sand gedrückt.«

»Ich dachte, er lag in einem Gezeitentümpel.«

»Es war einer, als er starb, aber inzwischen hatte die Ebbe eingesetzt.«

»Verstehe. Und er hatte die Liste und das Kuvert bei sich?«

»Er hielt beides in der Hand, ziemlich zerknüllt. Auf dem Kuvert war keine Briefmarke.«

»Okay. Das wusste ich noch nicht.«

»Sie werden mehr herausfinden, wenn Sie mit der State Police sprechen. Die Ermittlung wird von einer Detective Mary Parkinson geleitet. Sie wird Ihnen gern helfen.«

»Ich werde sie anrufen.«

»Wie viele Leute auf der Liste haben Sie denn schon gefunden?«, fragte der Detective.

»Alle außer Jack Radebaugh, Alison Horne und Jay Coates.«

»Oh, wirklich? Das ging ja schnell. Weiß jemand etwas?«

»Wie gesagt, soviel ich weiß, sind wir lauter Fremde. Bis auf die Liste haben wir nichts gemeinsam.«

»Na, dann haben Sie doch etwas gemeinsam.«

»Ja, könnte man sagen«, sagte Jessica.

»Es gibt einen Jay Coates, der Schauspieler in Hollywood ist. Er hat eine Website.«

»Ach, Sie haben ebenfalls nachgeforscht?«

»Ein bisschen. Ich hatte ein wenig freie Zeit heute, deshalb dachte ich, ich google die Namen und schaue, was sich ergibt.«

»Ich habe Jay Coates, dem Schauspieler, eine Nachricht hinterlassen, aber noch nichts von ihm gehört«, sagte Jessica. »In Kalifornien ist es früher, wer weiß, vielleicht arbeitet er noch.«

»Sie glauben, er ist es?«

»Ja, aber ich weiß nicht, wieso. Zum Teil wegen seines Alters. Bisher scheinen alle, die ich identifiziert habe, Ende dreißig zu sein.«

»Außer Frank Hopkins.«

»Ja, außer Frank Hopkins.«

»Was ist mit Jack Radebaugh?«, sagte Detective Hamilton. »Noch kein Glück bei ihm?«

»Nein. Haben Sie den auch gegoogelt?«

»Ja. Es gibt nicht viele. Der große Name war eine Art berühmter Autor.«

»Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat den Brief nicht zugeschickt bekommen, und er kennt niemanden sonst auf der Liste.«

»Wie alt ist er?«

»Er ist siebzig.«

Nach einer kleinen Pause fügte Jessica an: »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was ich über Hopkins wissen sollte, rufen Sie mich dann an?«

»Natürlich. Lassen Sie mich Ihre Nummern notieren.«

Nachdem sie Büro- und Handynummern getauscht hatten, legten beide auf. Jessica blieb einen Moment ruhig sitzen und kramte in ihrer Erinnerung nach dem Windward Resort. Da hatte eindeutig etwas geklingelt. Ein sehr, sehr fernes Glöckchen.

Sie war mindestens zweimal in ihrem Leben an der südlichen Küste von Maine gewesen, aber ihres Wissens nie in Kennewick. Sie hatte mit Justin, ihrem früheren Freund, ein sehr verregnetes Memorial-Day-Wochenende in Camden verbracht. Das war etwa drei Jahre her. Zuvor war sie zu einem Familienurlaub dort gewesen, als sie dreizehn war – sie erinnerte sich daran, weil es der erste Sommerurlaub mit der Familie gewesen war, in dessen Verlauf sie sich gewünscht hatte, wieder zu Hause zu sein und mit ihren Freundinnen abzuhängen. Ihre Mutter hatte ein Haus in Kennebunkport gemietet, das sich als Enttäuschung herausstellte. Es lag in Strandnähe, aber der Strand war felsig und das Wasser selbst im August eiskalt. Sie erinnerte sich daran, dass sie die Küste hinauf- und hinuntergefahren waren und Läden und Eisdielen in anderen Kleinstädten besucht hatten. Und sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater in besonders fieser Stimmung gewesen war, solange sie dort waren. Sie wusste es nur deshalb noch, weil ihre Mutter eines Tages beim Abendessen explodiert war und gesagt hatte, sie sei es leid, mit zwei selbstsüchtigen Teenagern zusammenzuleben. Hatten Sie Kennewick auf dieser Reise besucht? Sie wusste es nicht mehr.

»Geh nach Hause.« Aaron stand in der Tür.

Jessica wandte sich benommen zu ihm um. »Mach ich. Ich will nur noch einen Anruf erledigen.«

»Okay. Dann komme ich mit dir. Ich bin dein Begleitschutz.«

»Machst du Witze?«

»Ich mache keine Witze, Wenn du mich nicht um dich haben willst, suche ich jemand anderen, aber solange ich nicht weiß, was los ist, gehe ich kein Risiko ein.«

»In Ordnung«, sagte Jessica. »Ich bin in fünf Minuten bei dir.«

Nachdem Aaron gegangen war, versuchte sie Jay Coates in Kalifornien noch einmal anzurufen. Er ging nicht ans Telefon, und sie überlegte, eine Nachricht zu hinterlassen, eine, die ein wenig dringlicher klang als die vorherige, aber dann entschied sie sich dagegen. Wahrscheinlich war er es ohnehin nicht, und wozu ihm unnötig Angst einjagen?