Samstag, 17 . September, 16 :04 Uhr
D etective Sam Hamilton hatte mit Detective Mary Parkinson von der State Police schon bei zwei früheren Gelegenheiten zusammengearbeitet: bei einem vereitelten Bankraub, der binnen Stunden aufgeklärt worden war, und bei einem Fall von Fahrerflucht, der ungelöst blieb. Er war ganz gut mit ihr zurechtgekommen, auch wenn sie nicht leicht zu deuten war, eine dieser schmallippigen, wettergegerbten Neuengländerinnen, die aussah, als wäre sie mit Falten im Gesicht zur Welt gekommen, und die nur sprach, wenn es unbedingt notwendig war. Dennoch, wenn sie dann tatsächlich sprach, war sie durchaus freundlich, und sie hatte nie irgendwelche Vorbehalte dagegen erkennen lassen, mit dem Detective einer Ortspolizei zusammenzuarbeiten.
Er hatte sie schon den ganzen Tag anrufen wollen, um zu sehen, ob sie ihn auf den neusten Stand im Mordfall Frank Hopkins bringen konnte, aber er hatte sich gezwungen zu warten, da er sie nicht so früh in einer laufenden Ermittlung stören wollte. Aber nachdem er den ganzen Tag von zu Hause im Internet nach möglichen Verbindungen zwischen den neun Namen geforscht und sehr wenig gefunden hatte, beschloss Sam, den Anruf zu machen.
»Detective Parkinson.«
»Mary, hier spricht Sam. Aus Kennewick.«
»Hallo, Sam. Sie müssen etwas für mich haben.«
»Schön wär’s. Ich habe nichts. Ich hatte gehofft, Sie könnten mich auf den neusten Stand bringen.«
»Über Frank Hopkins?«
»Ja.«
»Der Fall ist mir inzwischen selbst abgenommen worden. Gut, sie haben gesagt, ich könnte beratend mitwirken, aber die Sache ist soeben ans FBI gegangen, und das war’s dann wohl.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst. Ist erst vor einer Stunde passiert.«
»Wieso? Wissen Sie das?«
»Es hat einen weiteren Mord gegeben. In Massachusetts.«
»Wie meinen Sie das?«, sagte Sam.
»Ein Matthew Beaumont wurde heute Morgen in Dartford, Massachusetts getötet. Auf seiner morgendlichen Joggingrunde erschossen. Sie erinnern sich bestimmt, dass das einer der Namen auf der Liste war. Er hat den gleichen Brief wie Frank erhalten, also ist wohl eine Art Serienmörder am Werk, der grenzüberschreitend in verschiedenen Bundesstaaten tötet. Zumindest sieht es danach aus.«
»Wow«, sagte Sam. »Es überrascht mich nicht, aber gleichzeitig doch. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich war ebenfalls überrascht. Ich bin schon lange dabei, und wenn ein Mordfall kompliziert aussieht, stellt sich meistens heraus, dass er es nicht ist.«
»Ich habe genau dasselbe gedacht.«
»Na ja, es könnte sich immer noch als einfach herausstellen«, sagte Detective Parkinson. »Frank Hopkins wurde wahrscheinlich von einem hypernervösen Drogensüchtigen getötet. Die habt ihr noch da drüben in Kennewick, oder?«
»Drogensüchtige?«
»Ja.«
»Ein paar«, sagte Sam.
»Hören Sie, Sam, hier kommen ständig Leute, die schauen, ob ich noch immer telefoniere. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.«
»Es war mehr als genug, Mary. Vielen Dank.«
Nachdem das Gespräch beendet war, blieb Sam noch einige Minuten sitzen, blickte aus seinem Fenster im Obergeschoss und dachte nach. Auch wenn Mary gesagt hatte, dass immer noch ein verzweifelter Drogensüchtiger an Franks Tod schuld sein konnte, wusste Sam, dass der zweite Tote diese Theorie widerlegte. Frank war mit einer Liste in der Hand gestorben. Neun Namen. Und jetzt war eine weitere Person, die auf dieser Liste stand, ebenfalls getötet worden. Es gab kein Szenario, bei dem das reiner Zufall war.
Sam stand auf und ging an das eingebaute Bücherregal auf der anderen Seite seines Arbeitszimmers. Es enthielt neben anderen Büchern die gesamte Sammlung von Agatha-Christie-Romanen seiner Großmutter. Sie hatte sie in ihrem Testament nicht ausdrücklich Sam vermacht, aber die ganze Familie wusste, sie wollte, dass er ihre Bücher bekam, und vor allem die Christie-Sammlung, zu der einige wahrscheinlich sehr wertvolle Erstausgaben gehörten.
Als Kind hatte Sam die Sommer größtenteils im Haus seiner Großmutter in North Yorkshire verbracht. Patricia Barnard war die Mutter seiner Mutter, die einen Teil ihres Erwachsenenlebens in Jamaika verbracht hatte, wohin sie 1946 aus England gegangen war, um als Sekretärin für eine Exportfirma zu arbeiten. Sie verliebte sich in Robert Hamilton, den Besitzer eines beliebten Restaurants in Kingston und schwarzer Jamaikaner. Binnen eines Jahres war sie verheiratet und schwanger und brachte Rosemary, Sams Mutter, zur Welt. Sam hatte seine Mutter wiederholt danach gefragt, wie es gewesen war, in den Vierzigern und Fünfzigern eine gemischtrassige Ehe zu führen, und sie hatte immer gesagt, das Schlimmste seien die schlechten Manieren anderer Leute gewesen – »nur ein komischer Blick hier und da, wenn wir zusammen im Bus fuhren«.
Bob Hamilton, ihr Mann, war gestorben, als ihre einzige Tochter gerade achtzehn war, und Patricia war nach England zurückgegangen und hatte sich in einem Cottage der Familie in den Yorkshire Dales niedergelassen. Und in genau diesem Steinhäuschen hatte Sam die besten Monate seiner Kindheit verbracht; er durfte durch das ländliche England streifen und, was noch wichtiger war, er hatte Zugang zur Büchersammlung seiner Großmutter. Mit zehn Jahren hatte er Agatha Christies Ruhe unsanft gelesen und sich in das Buch verliebt. Danach kam er von dem Genre nicht mehr los. Er wurde wahrhaft anglophil und war besessen von Cadbury-Schokolade, dem Fußballclub Arsenal und selbst von den albernen englischen Sitcoms, die er sich mit seiner Großmutter in deren Ungetüm von Fernsehapparat im Wohnzimmer anschaute. Aber es waren die Bücher, die ihm vor allem in Erinnerung blieben. Er liebte Agatha Christie, Dick Francis und Ruth Rendell, allesamt Favoriten seiner Großmutter, und diese Bücher eröffneten ihm eine Sicht auf die Welt, die sehr viel anders war als die seines Heranwachsens in Houma, wo seine Eltern ständig wütend waren und sich schließlich in seinem letzten Highschooljahr scheiden ließen.
Sams Freunde und Kollegen waren größtenteils überrascht gewesen, als er sich für die Stelle in Kennewick, Maine bewarb, und sie hatten gewitzelt, er werde die Zahl der in Neuengland lebenden Jamaikaner verdoppeln. Aber Jean Landry, die Polizeichefin, hatte in ihrer kurzen Ansprache bei Sams Abschiedsfeier seine wahre Motivation enthüllt. »Ich wusste immer, dass Sam in seinem tiefsten Innern gern Jessica Fletcher aus Cabot Cove, Maine wäre, und jetzt hat er die Chance dazu.« Und zum Teil stimmte es. Auch wenn er selbst nach dem Tod seiner Großmutter England noch häufig besuchte, wusste er, dass er dort nicht arbeiten konnte. Aber er konnte in Neuengland arbeiten, ein neues Leben in einem Dorf in Maine beginnen und zumindest den Eindruck haben, als würde er das Leben führen, für das er geboren war.
Da er nun vor den chronologisch geordneten Agatha-Christie-Romanen seiner Großmutter stand, zog er seine Hardcoverausgabe des Buches heraus, das schließlich unter dem Titel Und dann gab’s keines mehr bekannt wurde. Aber die Version, die Sam Hamilton besaß, trug noch den Originaltitel: Zehn kleine Negerlein .
Sam erinnerte sich, dass er seine Oma Pat nach der Lektüre von Ruhe unsanft gefragt hatte, was er als Nächstes lesen sollte.
»Es gibt ein Buch, das dir sehr gefallen würde, glaube ich«, sagte sie. »Aber ich sollte wohl eine neue Ausgabe für dich kaufen.«
»Du hast es nicht?«
»Doch, aber es hat einen nicht sehr netten Titel. Tatsächlich war er so wenig nett, dass sie ihn geändert haben. Sie haben ihn sogar ein paar Mal geändert.«
Sie hatte ihm das Buch gezeigt und erklärt, dass es auf einen Kinderreim zurückging, der vor vielen Jahren populär gewesen war. Sam war fasziniert gewesen, vor allem vom Cover – eine weiße geisterhafte Hand, die eine von zehn kleinen afrikanischen Gestalten herauspflückte. Einige der Gestalten standen, andere schwangen Speere oder lagen auf dem Boden. Er hatte das Buch natürlich gelesen, an einem spannungsgeladenen Nachmittag, da er nicht warten wollte, bis Nana Pat eine angemessener betitelte Version aus dem Buchladen im Dorf geholt hatte. Anschließend war er ihr durch das Haus gefolgt, während sie sauber machte, und wollte über die Geschehnisse in dem Buch reden, über die erschreckendsten Morde, die phonographische Aufnahme, in der alle Opfer ihrer Verbrechen beschuldigt werden, darüber, wie lange die Leichen noch auf der Insel bleiben, nachdem alle tot sind.
»Willst du nichts über den Titel wissen?«, hatte sie gefragt.
»Ich dachte, es bedeutet, dass alle, die auf die Insel eingeladen werden, schwarz sind, aber das stimmt wohl nicht.«
»Nein, sie waren alle weiß. Aber erzähl deinen Eltern nicht, dass ich dich ein Buch mit diesem Wort im Titel habe lesen lassen. Sag ihnen, es hieß Und dann gab’s keines mehr .«
»Dad benutzt das Wort ständig.«
»Welches Wort?«
»Neger.«
»Tatsächlich?«
»Nicht ständig, aber manchmal.«
»Ich schätze, er darf das, aber Agatha Christie hätte es nicht gedurft. Damals vielleicht noch, aber jetzt nicht mehr.«
»Wie lange dauert es, bis man stirbt, wenn man erhängt wird?«, hatte er gefragt.
Oder etwas in dieser Art wahrscheinlich. Sam nahm das gut erhaltene Hardcover mit zu dem ledernen Clubsessel, in dem er gerne las. Aus einer Laune heraus hatte er nachgesehen, was diese besondere Ausgabe wert war, und herausgefunden, dass man rund zehntausend Dollar dafür bekam, trotz des rassistischen Titels oder vielleicht gerade deshalb. Nicht dass er beabsichtigte, sie zu verkaufen, auch keines seiner anderen geliebten Bücher. Aber er hatte nicht zum ersten Mal beschlossen, es noch einmal zu lesen. Was immer mit Frank Hopkins und den acht anderen unglücklichen Seelen auf dieser Liste geschah, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem speziellen Roman. Er schlug ihn bei Kapitel eins auf und las den ersten Satz. In der Ecke eines Raucherabteils erster Klasse saß Richter Wargrave, frisch pensioniert, paffte eine Zigarre und überflog mit aufmerksamem Auge die politischen Nachrichten in der Times.