Freitag, 23 . September, 10 :09 Uhr
»E r will ihnen nicht wehtun«, sagte Aaron Berlin. Er war in Ruth Jacksons Büro, die Tür war geschlossen. Sie hatte ihm einen Stuhl angeboten, aber er stand noch.
»Er hat Frank Hopkins wehgetan, oder nicht?«
»Frank ist ein Sonderfall. Das dachte Jessica ebenfalls. Er wurde ertränkt, also wusste er, dass er sterben würde. Er hatte den Brief, aber einen ohne Briefmarke, er ist ihm also direkt überbracht worden. Und er war in den Siebzigern.«
»Jack Radebaugh ist siebzig.«
»Dann sind sie beide Sonderfälle.«
»Wie viele Sonderfälle sind bei einer Liste erlaubt, die aus neun Namen besteht?«, sagte Ruth. Sie saß immer noch in derselben zurückgelehnten Haltung in ihrem ergonomischen Sessel, wie sie es getan hatte, als Aaron das Büro betrat.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen, Ruth. Herrgott noch mal.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass die Sache mit Jessica Sie mitnimmt, aber lassen Sie es nicht an mir aus, okay?«
»Tut mir leid. Sie haben recht. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich Ihnen sagen wollte, als ich reinkam.«
»Dass er ihnen nicht wehtun will.«
»Richtig. Außer Frank Hopkins. Matthew Beaumont wurde in den Rücken geschossen. Arthur Kruse wurde im Schlaf vergast, und Jessica wurde ebenfalls von hinten getroffen. Als wollte er nicht, dass sie es kommen sehen.«
»Donald Bennett hat es kommen sehen, oder hätte es sehen können.«
Aaron brauchte einen Moment, um den Namen zuzuordnen. Donald Bennett war der zweite Tote am Tatort gewesen, ein Einheimischer, den wahrscheinlich der Täter dorthin gebracht hatte. Zumindest war klar, dass er nicht in Jessicas Wagen gefahren war. Teri Michaud, die Barfrau im Lobster Pot, hatte ausgesagt, Donald Bennett, ein Stammgast, habe die Kneipe mit einem Fremden verlassen, der bar bezahlt hatte, einem schmierig aussehenden Kerl mit Vokuhila. Die aktuelle Theorie lautete, dass Bennett von dem Mann, der auf Jessica geschossen hatte, für seine Zwecke eingespannt worden war.
»Über ihn hab ich auch nachgedacht«, sagte Aaron. »Wenn Bennett sich bereit erklärt hat, dem Schützen zu helfen und Jessica irgendwie an diesen abgelegenen Ort zu führen, dann war er ebenfalls schuldig. Also spielte es keine Rolle, wie er starb.« Aaron schnippte einen Fussel von seiner Anzughose. »Wenn man unschuldig ist, stellt er sicher, dass man unvorhergesehen stirbt.«
»Eine mögliche Theorie«, sagte Ruth.
»Was bedeutet, Frank war in irgendeiner Weise schuldig. Aber er starb als erster, deshalb können wir ihn schlecht danach fragen.«
»Hören Sie«, sagte Ruth. »Können wir das für den Moment zurückstellen? Ich muss ein paar Anrufe erledigen.«
»Ach so, klar. Tut mir leid. Eigentlich bin ich nur gekommen, um zu hören, ob es etwas Neues gibt.«
»Es ist erst eine Stunde vergangen.«
»Und?«
»Tatsächlich gibt es etwas Neues«, sagte Ruth. Sie lächelte, und Aaron, der Ruth eigentlich mochte, wollte ihr plötzlich dieses Grinsen aus dem Gesicht ohrfeigen. »Sie haben Jay Coates gefunden.«
»Was? Tot oder lebendig?«
»Lebend. Er wohnt in Decatur, Georgia. Er hat den Brief bekommen, aber weggeworfen. Das ist alles, was ich darüber weiß.«
»Wie alt ist er?«
»Wie gesagt, mehr weiß ich nicht. Er ist ein IT -Typ oder so, also wahrscheinlich noch nicht so alt. Jedenfalls noch nicht im Ruhestand.«
»Okay. Das wären dann alle, bis auf Alison Horne.«
»Ganz recht.«
»Werden sie Jay Coates wegen seiner Eltern befragen?«, sagte Aaron und blickte aus Ruths Fenster auf den Parkplatz darunter.
»Ich bin mir sicher, das werden sie, Aaron. Ich bin mir sicher, sie werden ihn über alles befragen.«
»Das hat zu den Dingen gehört, die Jessica zu mir gesagt hat, als wir das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht miteinander gesprochen haben. Sie sagte, wenn sie für die Ermittlungen verantwortlich wäre, würde sie Profile der Eltern erstellen und dort nach Gemeinsamkeiten suchen. Dass die Antwort dort zu finden sei.«
»Ich glaube, damit lag sie richtig«, sagte Ruth und kippte in ihrem Sessel ein klein wenig nach vorn.
»Haben Sie etwas gehört?«
»Ich werde Ihnen nicht alles sagen, was ich höre, Aaron, denn im Augenblick mache ich mir ein wenig Sorgen um Sie.«
»Aha. Es gibt also eine Verbindung zwischen den Eltern?«
Ruth bewegte sich in ihrem Sessel noch einen Zentimeter vor und stellte die Füße auf den Boden. »Das weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass die Eltern geographisch im Allgemeinen im Gebiet von Neuengland angesiedelt sind.«
»Das ist interessant.«
»So, nachdem ich Ihnen jetzt die eine Information verraten habe, die ich besitze, muss ich Sie wegschicken. Ich möchte, dass Sie den Fall Brundy übernehmen und dort weitermachen, wo Jessica aufgehört hat.«
»Ich dachte, das sollte Ellen machen.«
»Das sollte sie, aber jetzt soll sie es nicht mehr, sondern Sie, und das bedeutet, Sie müssen darauf vorbereitet sein auszusagen, auch wenn die Chancen, dass die Sache vor Gericht geht, gleich null sind.«
An seinem Schreibtisch warf Aaron einen Blick in die Akte Brundy, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Ganz hinten in seiner Schublade waren ein Fläschchen Dewar’s und zwei Schnapsgläser. Er hatte sich immer vorgestellt, er würde eines Nachts, wenn er noch spät arbeitete, die Flasche hervorholen und mit einem Kollegen etwas trinken. Er hatte es oft genug in dämlichen Polizeifilmen gesehen. Aber irgendwie war es nie dazu gekommen. Er ließ die Flasche in die Innentasche seines Sakkos gleiten und ging nach oben zu der ruhigen Toilette im vierten Stock. Dort schloss er sich in einer Kabine ein, setzte sich auf den Klodeckel und trank von dem Whiskey. Dann legte er beide Hände vors Gesicht und weinte etwa zwei Minuten lang, so leise er konnte.