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Freitag, 14 . Oktober, 12 :02  Uhr

E s war jetzt vollständig Herbst, Carolines Lieblingsjahreszeit, und die Fahrt von ihrem Cottage zum Haus ihrer Mutter auf der anderen Seite von Ann Arbor war so friedlich, dass sie versucht war, den Lunch mit ihrer Mutter auszulassen und einfach weiterzufahren.

Sie hörte ein Album von Lucinda Williams, das Ethan empfohlen hatte. Die Verfärbung der meisten Bäume hatte ihren Höhepunkt erreicht, Orange-, Gelb- und Rottöne wohin sie sah. Der Himmel war von einem kalten Blau, und ein unablässiger Wind wirbelte Laub durch die Luft. Sie hätte für alle Zeit in diesem Augenblick verharren können, aber ihre Mutter wartete auf sie, und ein Polizeibeamter verfolgte jeden ihrer Schritte. Sie parkte hinter dem Taurus ihrer Mutter und ging über den mit Laub übersäten Rasen zur offenen Eingangstür des Ranch-Hauses, das ihre Mutter vor zwei Jahren gekauft hatte, um näher bei ihrer Tochter zu sein.

Das Mittagessen bestand aus einer raffinierten Hähnchen-Kasserolle und einem Spinatsalat mit Nüssen und Granatapfelkernen. Ein Zeichen dafür, dass es ihrer Mutter gut ging. Wenn sie depressiv war, »bluesy« nannte sie selbst es, hörte sie mit als Erstes auf, leckere Mahlzeiten zuzubereiten.

Sie speisten im Esszimmer, während Megs betagter Labrador unter dem Tisch schlief.

»Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte Caroline zu ihrer eigenen Überraschung.

»Oh.« Megs Augen leuchteten. »Wer ist es?«

»Ich sollte weiter ausholen. Ich habe einen netten Menschen kennengelernt, aber ich habe ihn noch nicht richtig getroffen, nicht von Angesicht zu Angesicht. Wir telefonieren. Er ist ein Singer-Songwriter aus Texas.«

»Interessant. Und wie hast du ihn kennengelernt?«

Sie überlegte, ob sie lügen sollte, aber ihre Mutter hatte immer einen guten Riecher für Lügen gehabt. »Er steht auf dieser dämlichen Liste. So kamen wir ins Gespräch.«

Ihre Mutter trank einen Schluck Riesling. »Haben sie noch niemanden gefasst? Erzählen sie dir etwas?«

»Wenn sie jemanden erwischt haben, dann haben sie mir nichts davon gesagt, und ich werde immer noch von Polizisten beschattet, deshalb halte ich es für unwahrscheinlich. Und ich weiß nicht mehr darüber als du.«

Meg rieb sich die Wange, dann sah sie auf ihr Essen hinab. »Ich weiß, sie bewachen dich, aber ich hoffe trotzdem, dass du besonders vorsichtig bist. Ich mache mir solche Sorgen …«

»Ich weiß nicht, was ich noch tun könnte, um noch vorsichtiger zu sein. Ich warte einfach, bis sie den Täter finden. Bei dir haben sie sich nicht noch einmal gemeldet, oder?«

»Wer sollte sich gemeldet haben?«

»Das FBI . Die dich befragt haben. Sie haben sich nicht mehr gemeldet, oder?«

»Sollten sie? Ich habe ihnen alles gesagt, was ich weiß, und es war nicht viel, denke ich.«

Caroline hatte ihre Mutter bereits wegen der Fragen gelöchert, die ihr das FBI gestellt hatte, und ihre Mutter hatte geschworen, sie wahrheitsgemäß beantwortet zu haben. Obwohl Caroline ihr glaubte, hatte sie auch den Verdacht, dass ihre Mutter wichtige Erinnerungen möglicherweise unterdrückte. Es wäre nicht das erste Mal.

»Mom, erinnerst du dich daran, wie du und Dad euch das erste Mal getrennt habt, unmittelbar nachdem Julius ins College aufgebrochen ist?«

»Ich erinnere mich, wie Julius zum College abgereist ist. Er war so froh, aus dem Haus zu kommen, dass wir dachten, wir würden ihn nie wieder sehen.«

»Aber weißt du noch, dass du Dad rausgeworfen hast?«

»Er ist um diese Zeit gegangen, nicht? Er sagte, er würde sich ein Hotel nehmen, stattdessen hat er bei dieser Studentin gewohnt, die damals seine Freundin war.«

»Du hast ihn rausgeworfen, Mom. Du hast die Schlösser ausgetauscht und alle seine Bücher aus dem Fenster seines Arbeitszimmers geworfen. Ein paar Jahre später habe ich dich mal danach gefragt, und du hast gesagt, du erinnerst dich nicht mehr daran.«

Meg holte tief Luft und richtete den Blick auf das breite Fenster, das auf den Zuckerahorn hinausging, der den Garten dominierte.

»Ich hatte vor einer Weile eine Ärztin, ich glaube, es war Dr. Penny, und sie sagte, einer der Vorteile von Depression ist, dass viele von uns, die daran leiden, sich nicht immer erinnern. Es gibt Teile meines Lebens, an die erinnere ich mich anscheinend einfach nicht, und es stellt sich heraus, dass sie es nicht wert sind, dass man sich an sie erinnert.«

Trotz ihrer Höhen und Tiefen hatte Caroline ihre Mutter wahrscheinlich nur ein, zwei Mal weinen sehen. Aber jetzt schien Meg den Tränen nahe, ihre Stimme war heiser, und eins ihrer Augen glänzte.

»Es tut mir leid, dass ich davon anfange«, sagte Caroline. »Es ist nur … Ganz offensichtlich glauben die FBI -Leute, die wegen dieser Liste ermitteln, dass die Verbindung zwischen den Eltern der Leute auf der Liste bestehen könnte. Deshalb haben sie dich angerufen, richtig? Sie haben dich nach einer Reihe von Namen gefragt.«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich keine dieser Namen kenne. Glaub mir, Caroline, andernfalls hätte ich es ihnen gesagt.«

»Ich weiß, Mom. Ich beschuldige dich nicht, etwas zu verschweigen, aber ich frage mich, ob es etwas gibt, das weit zurückliegt, vielleicht aus der Zeit, als du selbst noch ein Kind warst, und das möglicherweise wichtig ist. Du erinnerst dich wahrscheinlich auch daran nicht mehr, aber wenn du sehr depressiv warst, hast du manchmal gesagt, dass du es verdienst, und einmal hast du gesagt, dass du ein böses Kind warst und dafür bezahlst.«

»Na ja, ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob ich ein sehr nettes Kind war. Zumindest deiner Großmutter zufolge.« Meg schob ein Stück Hähnchen auf ihre Gabel und steckte es in den Mund.

»Aber du erinnerst dich an nichts Konkretes?«

»Wir hatten Nachbarn, ich glaube, sie hießen Landry, und der Junge dürfte etwa drei Jahre älter als ich gewesen sein. Er kam jeden Tag herüber, um zu fragen, ob ich mit ihm spielen wollte. Was ich natürlich nicht wollte. Erst habe ich meine Mutter behaupten lassen, dass ich nicht da bin, aber später ging ich selbst zur Tür, wenn er geläutet hat, und sagte zu ihm, dass wir uns in fünf Minuten unten im Park treffen. Und dann bin ich einfach nicht hingegangen. Das Traurige war, dass er immer weiter gekommen ist.«

Caroline hatte diese Geschichte als Beispiel für die Grausamkeit ihrer Mutter als Kind schon gehört. »Das FBI hat dich aber nicht nach jemandem namens Landry gefragt, oder?«

»Oh, nein. Der einzige Name, der mir irgendwie bekannt war, war Jack Radebaugh, aber dann fiel mir ein, dass er der Autor eines Buchs ist, das dein Vater gekauft hat, wenn ich mich nicht irre. Nein, Holly, kein Hähnchen für dich. Vielleicht wenn wir abgeräumt haben.« Der Hund war aufgewacht.

Normalerweise hätten sie nach dem Mittagessen einen Spaziergang gemacht, vor allem, wenn das Wetter so schön war, aber es erschien ihnen als unnötiges Risiko, deshalb machten sie Kaffee und setzten sich draußen auf die Terrasse. Sie sprachen über Grey’s Anatomy , Megs Lieblingsserie, und sie sprachen natürlich über Julius, der ausgerechnet in der Mongolei einen Motorradunfall gehabt hatte, und fürs erste dortblieb, um sich zu erholen. Dunkle Wolken waren aufgezogen, und Carolines Fingerspitzen hatten sich weiß verfärbt, aber ihre Mutter schien es nicht zu bemerken. Eine Pause in der Unterhaltung entstand, und Caroline wollte gerade aufstehen und vorschlagen, ins Haus zu gehen, als ihre Mutter sagte: »Als Kind hatte ich mal einen schrecklichen Traum, und er ist mir nie richtig aus dem Kopf gegangen.«

»Ach ja?«, sagte Caroline.

»Ich weiß, es klingt albern, aber er war so lebhaft, und ich sehe es immer noch vor mir. Ich glaube, manchmal träume ich immer noch davon, so wie ich immer noch träume, dass ich die Kombination für meinen Spind in der Schule vergessen habe.«

»Was war das für ein Traum?«

»Ich bin wahrscheinlich so zehn, elf Jahre alt, und ich bin mit einer Schar anderer Kinder von zu Hause weggelaufen. Meine Freunde vermutlich, auch wenn ich mich nicht wirklich erinnere, wer sie waren. Aber wir sind alle weggelaufen, und irgendwie ist es uns gelungen, ein phantastisches großes Boot zu stehlen, und wir segeln über das Meer. Es hat zwei Masten und ein Segel, und es ist aus Holz, wie ein altes Piratenschiff, würde man wohl sagen. Und es gibt natürlich eine Schiffsplanke. Und besonders erinnere ich mich daran, dass wir in dem Traum beschließen, eins von uns Kindern muss über die Planke gehen. Ich habe Angst, dass es mich trifft, aber wir wählen ein anderes Mädchen aus, und wir fesseln es und erklären ihm, es muss über die Planke ins Meer gehen, weil wir sonst alle sterben.«

Eine Bö wehte ihrer Mutter den Schal vor den Mund, und sie zog ihn weg, um weiterzusprechen.

»Das ist alles. Das war der Traum.«

»Das Mädchen ist also über die Planke gegangen?«

»Ja. Wir haben es gefesselt, und es hat geweint, aber es ist ins Meer gegangen und kam nicht wieder nach oben. Es war furchtbar. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke.«

»Du erinnerst dich an keine Namen?«

»Aus dem Traum?«, sagte Meg. »Nein. Es waren einfach andere Kinder wie ich.«

»Was das wohl bedeutet?«

Meg stand auf, und Caroline tat es ihr gleich. Sie gingen zusammen ins warme Haus zurück. »Muss es immer etwas bedeuten?«, sagte Meg. »Es war einfach ein Angsttraum. Kinder haben Angstträume.«