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Mittwoch, 19 . Oktober, 13 :15  Uhr

A ls das Flugzeug in Sarasota landete, blätterte Sam Hamilton, der in der vorletzten Reihe saß, eine neue Seite in seinem Buch um. Er hatte es nicht eilig, mit eingezogenem Kopf unter dem Gepäckfach zu stehen und zu warten, bis alle vor ihm ausgestiegen waren. Er las gerade Und dann gab’s keines mehr zum zweiten Mal seit dem Mord an Frank Hopkins. Nachdem er diese Reise nach Florida gebucht hatte, um Franks noch lebende Schwester zu besuchen, hatte er in Kennewicks einzigem Buchladen vorbeigeschaut, einer windschiefen Scheune voller gebrauchter Bücher, die unter dem etwas prätentiösen Namen Ragged Claws Books lief. Sam hatte mal gewusst, auf welches Gedicht dieser Name zurückging, es aber längst wieder vergessen. Er grüßte Charles Montgomery, den Besitzer und einzigen Menschen, der überhaupt in dem Laden arbeitete, und ging in die Krimi-Abteilung, wo er eine alte Taschenbuchausgabe von Und dann gab’s keines mehr fand. Er wusste, er wollte das Buch nach Florida mitnehmen, aber nicht sein eigenes Exemplar.

Er war sich nicht sicher, ob es etwas half, das Buch noch einmal zu lesen, aber es gab ihm das Gefühl, aktiv etwas zu tun. Und er blieb dadurch gedanklich auf den Fall konzentriert. Die Frage, die er sich die ganze Zeit stellte und die sich wahrscheinlich alle stellten, die an dem Fall arbeiteten, war die nach der Verbindung zwischen den neun Leuten auf der Liste. In gewisser Weise war das auch eine der Fragen aus Und dann gab’s keines mehr . Zehn Fremde werden auf eine Insel gebracht und systematisch ermordet. Sie kennen einander nicht, sind sich nie begegnet, und doch werden sie zusammen in eine tödliche Situation gezwungen. Sam fand ihre Verbindung offensichtlich, dass sie nämlich genau in dem Moment geschmiedet wurde, in dem sie alle auf der Insel eintrafen. Und genauso war es mit den neun Leuten, die die Liste erhalten hatten und jetzt alle zum Ziel eines Mörders geworden waren.

Sam fragte sich, warum er so fixiert auf das Buch war. Der Mörder hatte es vielleicht nie gelesen, vielleicht nie auch nur davon gehört. Es war nicht so, als wären die neun Namen in einer Art Kinderreim enthalten. Und es gab einen großen Unterschied zwischen den Geschehnissen im Buch und dem, was jetzt geschah. Nämlich dass die Charaktere in dem Roman früh erkennen, dass der Mörder unter ihnen sein muss, da sonst niemand auf der Insel ist. Das war bei der Liste mit den neun Namen nicht der Fall, dennoch fragte sich Sam, ob der Mörder oder die Mörderin sich selbst auf die Liste gesetzt hatte. Mary Parkinson von der State Police zufolge war Alison Horne noch immer nicht ausfindig gemacht worden. Hatte das etwas zu bedeuten? Sein Bauchgefühl sagte Sam, dass dem nicht so war.

Die Person, die Sam interessierte, war Jack Radebaugh, einfach wegen seines Alters. Sechs der Leute auf der Liste waren Ende dreißig, Anfang vierzig, während zwei in ihren Siebzigern waren. Sam glaubte nicht, dass das sonderlich wichtig war, nur dass Frank Hopkins eben auf so ganz andere Weise getötet worden war als die übrigen vier Opfer. Nämlich so, dass er wusste, was geschah. Er hatte Schmerz und wahrscheinlich panische Angst empfunden. Alle andern waren von hinten angegriffen, erschossen oder im Schlaf erstickt worden.

Aber nicht Frank.

»Verzeihung, Sir.«

Sam hob den Kopf zur Stewardess und bemerkte, dass das Flugzeug beinahe leer war. Er entschuldigte sich und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Nachdem er seinen Mietwagen abgeholt hatte, fuhr er zu dem Motel auf Siesta Key, in dem er reserviert hatte, checkte ein und wechselte in leichte Chinos und ein hellblaues kurzärmliges Polohemd. Es tat gut, vorübergehend wieder in Tropenklima zu sein, die warme Luft war schwer von einem bevorstehenden Nachmittagsgewitter. Er hatte mit Cynthia Hopkins, Franks älterer Schwester, zweimal telefoniert, einmal, um ihr Fragen zu stellen, und einmal, um diesen Besuch zu arrangieren. Sie hatte ihm beide Male erklärt, dass sie schlecht höre und Schwierigkeiten beim Telefonieren habe, weshalb Sam diese Reise unternahm. Wahrscheinlich war es Zeitverschwendung, aber er hatte sich die beiden Tage trotzdem freigenommen und einen Flug von Portland nach Sarasota und zurück inklusive einer Übernachtung gebucht. Cynthia erwartete ihn um vier Uhr nachmittags, jetzt war es zwei, und sein Motel lag in fußläufiger Entfernung zu ihrem Haus. Er beschloss, einen Spaziergang zum Strand zu machen.

Um Punkt vier läutete Sam an der Haustür von Frank Hopkins’ Schwester. Sie wohnte in einem Bungalow mit rosa Verputz, der unansehnliche Vorgarten bestand aus vertrockneter Erde mit ein paar Flecken gelbem Gras. Die Tür ging einen Spalt weit auf, und Cynthia Hopkins spähte heraus. Ihr rundliches Gesicht bestand nur aus Falten, und die Haut war von der Sonne geschädigt und fleckig.

Sam war sich nicht sicher, ob sie sich an die Verabredung erinnerte, deshalb sagte er: »Mrs. Hopkins, ich bin Detective Sam Hamilton. Wir haben telefoniert.«

»Ich weiß«, sagte sie, zog die Tür ganz auf und bat ihn herein. »Ich höre nicht mehr so gut wie früher, aber ich bin nicht vergesslich. Noch nicht, zumindest.«

Sie führte ihn durch das übermäßig warme Haus auf eine geschlossene Terrasse, wo sie ihm bedeutete, in einem Korbsessel Platz zu nehmen. »Was kann ich Ihnen anbieten?«, fragte sie.

»Nichts, es sei denn, Sie trinken selbst etwas.«

»Ich hätte sie für fünf Uhr herbestellen sollen, denn um diese Zeit genehmige ich mir gern einen Gin Tonic.«

»Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten. Wir können so tun, als wäre es schon fünf.«

»Nein, ich warte lieber. In meinem Alter ist es wichtig, feste Rituale zu haben.« Sie setzte sich gegenüber von ihm in einen identischen Sessel und schlug ein Bein über das andere. Sie trug eine weiße Hose und eine geblümte Bluse unter einer rosa Strickjacke. Sam fand, dass sie Frank nicht sehr ähnelte. Zum einen war sie größer als er, wettergegerbter, das Gesicht beinahe affenartig vor lauter Falten.

»Es tut mir leid wegen Ihres Bruders«, sagte Sam.

»Danke«, sagte sie mit rauer Stimme, und Sam vermutete, dass die tiefen Furchen in ihrem Gesicht nicht nur von der Sonne Floridas kamen, sondern von einem Leben mit reichlich Cocktailstunden und Zigaretten.

»Standen Sie sich nahe?«

»Nein, wir standen uns nie sehr nahe, aber wir haben auch nie gestritten oder dergleichen. Ich war das stille, lernbegierige Kind, und er war gesellig wie unsere beiden Eltern. Sie alle liebten das Hotelgewerbe, und ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Der Gedanke, irgendwo zu leben, wo ständig Gäste im Haus sind … Mit achtzehn zog ich nach Boston und fand eine Stelle bei Houghton Mifflin – das ist ein Verlag –, und dort lernte ich meinen Mann kennen. Wie ich war er mit wenig Gesellschaft zufrieden. Wir hatten keine Kinder, aber wir haben weiß Gott viele Bücher gelesen.«

»Ihr Mann ist …«

»Er starb 2003 , nur ein paar Jahre, nachdem wir unseren Wohnsitz dauerhaft hierher nach Siesta Key verlegt hatten. Unmittelbar nach Patricks Tod hat mich Frank hier das einzige Mal besucht. Er versprach wiederzukommen, aber er hatte wohl nie die Zeit dafür. So ist das eben, wenn man ein Hotel führt. Haben Sie herausgefunden, wer ihn getötet hat, meinen Bruder?«

Sam war überrascht von der plötzlichen Frage. »Nein. Aber wer immer Ihren Bruder getötet hat, tötet auch andere Leute. Ihre Namen standen alle auf einer Liste.«

»Das überrascht mich nicht, denn ich hatte ein sehr schwieriges Telefongespräch mit einem anderen Polizisten, der eine Liste von Namen abgefragt hat, von denen mir keiner auch nur annährend bekannt war.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie noch einmal frage?«, sagte Sam.

»Nach den Namen? Nein, aber ich bezweifle, dass meine Antworten anders ausfallen.«

Sam zählte die Namen auf – er hatte sie auswendig gelernt –, und sie schien bei jedem nachzudenken und erklärte schließlich, dass sie ihr nichts sagten.

»Ich hoffe, Sie sind nicht allein deshalb hier heruntergekommen«, sagte sie.

»Nein. Ich wollte Sie außerdem nach der Geschichte des Windward fragen, ob sie sich an irgendwelche Skandale in der Vergangenheit des Hotels erinnern, an außergewöhnliche Vorkommnisse.«

»Wenn Sie Vergangenheit sagen …«

»Es könnte etwas sein, das passiert ist, als Sie und Frank Kinder waren, oder auch etwas, das nicht so lange zurückliegt.«

»Lassen Sie mich kurz nachdenken. Wissen Sie was, vielleicht trinke ich diesen Gin Tonic heute ausnahmsweise doch ein wenig früher.«

»Wenn Sie mir sagen, wie Sie ihn mögen und wo alles ist, mixe ich Ihnen gerne einen, während Sie nachdenken.«

»Nur wenn Sie für sich selbst auch einen machen.«

»Mit Vergnügen«, sagte Sam, und sie wies ihm den Weg zur Küche. Er durchquerte das Wohnzimmer mit seinem Terrazzoboden und betrat den hellen Alkoven. Auf einer makellos sauberen Arbeitsfläche standen eine Flasche Gordon’s Gin und eine Flasche Tonic Water. Er fand ein paar hübsche Highball-Gläser, machte zwei Drinks und trug sie zur Terrasse zurück.

»Das ist ein seltener Genuss«, sagte sie, »dass mir mein Abend-Cocktail von einem Mann serviert wird.«

Sam setzte sich wieder und trank einen Schluck. Er hatte Angst, dass er ihn zu stark gemacht hatte, aber Cynthia kostete ebenfalls und erklärte, er sei sehr gut.

»Ist Ihnen schon etwas eingefallen?«

»Aus der Geschichte des Hotels? Zwei Sachen, würde ich sagen. Beide sind passiert, als ich noch im Windward gewohnt habe, wir reden hier also von uralten Dingen.«

»Das spielt keine Rolle. Es interessiert mich.«

»Nun denn, der größte Skandal passierte, als ich achtzehn war, unmittelbar bevor ich wegging, um zu studieren. Das war im Sommer 1963 . Zwei Gäste wohnten bei uns, ein Mann und eine Frau, und ich weiß noch, wie hinterher alle sagten, sie hätten von Anfang an nicht geglaubt, dass die beiden miteinander verheiratet waren, auch wenn sie es anscheinend so darstellten. Ich erinnere mich an nichts mehr von den beiden, obwohl ich damals gelegentlich an der Rezeption gearbeitet habe.« Sie hielt inne, um an ihrem Drink zu nippen, und ließ sich Zeit, als würde sie angestrengt nachdenken. »Sie waren ein Paar mittleren Alters, aber an dem Tag, an dem sie auschecken sollten, kamen sie einfach nicht aus ihrem Zimmer. Eine Reinigungsfrau öffnete die Tür und fand sie beide tot. Nach dem, was man sich damals erzählte, sah es aus, als hätte er sie mit einem Rasiermesser getötet und sich dann in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Ich weiß noch, dass die Polizei kam und ein Haufen Journalisten. Und alle hatten unterschiedliche Meinungen darüber, was passiert war. Es war nicht klar, ob er sie ermordet und dann Selbstmord begangen hatte, oder ob es eine Art Selbstmordpakt war. Woran ich mich aber erinnere, ist, dass beide, wie sich herausstellte, mit anderen Partnern verheiratet waren.«

»Erinnern Sie sich an ihre Namen?«

»Ich wusste, dass Sie das fragen, und ich fürchte, nein. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie unter offensichtlichen Falschnamen eingecheckt haben. Etwas wie John und Jane Smith. An ihre richtigen Namen erinnere ich mich nicht, dafür aber an die Zimmernummer. Zweiundzwanzig. Es war eins der Zimmer im Altbau, der in den Siebzigern abgerissen wurde. Und ich glaube nicht, dass das Zimmer danach je wieder vermietet wurde.«

»Und Sie sind sich sicher, dass es 1963 war?«

»Ja, was das angeht, bin ich mir sicher, weil es das Jahr war, in dem ich aufs College gegangen bin.«

»Sie sagten, es gab einen weiteren Zwischenfall.«

»Dieser war nicht ganz so reißerisch, und wahrscheinlich erinnere ich mich nur daran, weil ich ein Kind war, als es passiert ist.« Sie trank noch einen Schluck von ihrem Drink, den Blick zur Decke gerichtet, als würde sie ihre Gedanken sammeln. »Und ich muss leider sagen, dass ich auch diesmal den Namen nicht mehr weiß, aber als ich etwa zwölf, dreizehn war, ist ein Mädchen, das im Windward gewohnt hat, in eine der Felsspalten am Fuß der Seemauer gekrochen und ertrunken, als die Flut kam.«

»Kannten sie es?«

»Nein. Frank war derjenige, der immer alle Kinder kennengelernt hat, die den Sommer bei uns verbracht haben. Ich war die meiste Zeit in meinem Zimmer und habe gelesen. Ach, witzig, gerade wollte ich sagen, Sie sollten Frank wegen des Mädchens fragen, aber das können Sie natürlich nicht.«

»Nein«, sagte Sam und schwieg einen Moment, während Cynthia in ihrem Stuhl das Gewicht verlagerte. »Wenn Sie sagen, die Seemauer …«, fuhr er dann fort.

»Die Mole am Kennewick Beach.«

»Wo Frank starb …«

»Ja, natürlich. Der Zusammenhang ist mir gar nicht aufgefallen, aber es stimmt. Er muss ganz in der Nähe der Stelle gestorben sein, wo dieses arme Mädchen vor so vielen Jahren starb. Es war natürlich schrecklich. In gewisser Weise viel schlimmer als das Paar, das in dem Zimmer gestorben ist. Weil es ein junges Mädchen war und ein Unfall. Wenn so was heutzutage passieren würde, würden sie wahrscheinlich einen Maschendrahtzaun um die Mole ziehen und überall Warnschilder aufstellen. Aber damals … Das Leben ging wohl einfach weiter.«

Sam blieb, bis die beiden ihre Drinks geleert hatten, und sie plauderten noch ein wenig darüber, wie Cynthias Kindheit im Windward gewesen war. Sie hatte ein gutes Gedächtnis, und er hörte ihren Erzählungen gern zu. Aber er war hungrig, und es zog ihn außerdem zu seinem Laptop im Hotel, damit er die beiden Zwischenfälle recherchieren konnte, von denen sie ihm erzählt hatte, deshalb brach er auf, sobald er konnte. Er hielt bei einem Fischrestaurant in einer Ladenzeile und trank einen weiteren Gin Tonic, während er auf seine Barsch-Tacos wartete, dann fuhr er mit dem Essen ins Hotel zurück, drehte die Klimaanlage auf und machte sich im Internet an die Suche, um herauszufinden, wie gut Cynthia Hopkins’ Gedächtnis wirklich war.