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Sonntag, 30 . Oktober, 16 :39  Uhr

D as Spiel der Saints hatte gerade angefangen, und Sam Hamilton machte sich ein Bier auf, obwohl er gar nicht beabsichtigte, sich vor den Fernseher zu setzen. Er war in seinem Arbeitszimmer, und der Fernseher war so laut eingestellt, dass er es mitbekommen würde, wenn sich etwas Entscheidendes tat. Eine ganze Wand des Raums war mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Notizen in Sams Handschrift vollgehängt, die alle den Fall Frank Hopkins betrafen oder vielmehr den Fall der Neuner-Liste, wie er es für sich nannte. Seit seinem Besuch bei Franks Schwester Cynthia in Florida hatte Sam nicht nur wie besessen auf die regelmäßigen Updates durch Mary Parkinson von der State Police gewartet, sondern auch die beiden Zwischenfälle im Windward Resort recherchiert, von denen ihm Cynthia erzählt hatte. Und jetzt hatte er endlich etwas gefunden, das aussah, als könnte es der Schlüssel zu allem sein.

Erst hatte er sich auf den Mord/Selbstmord im Jahr 1962 konzentriert. Ein Mann namens Bart Knapp aus Portland, Maine hatte in einem Zimmer des Windward Selbstmord begangen, nachdem er seine Geliebte, eine Frau namens Betsy Sturnevan, ermordet hatte. Beide waren verheiratet, und beide arbeiteten in derselben Buchhaltungsfirma in Portland. Einzelheiten zu der Geschichte waren nicht schwer zu finden, da der Fall landesweit Aufsehen erregt hatte. Da offenbar kein Kampf in dem Zimmer stattgefunden hatte, und da bei beiden Verstorbenen Beruhigungsmittel und Alkohol im Blut gefunden wurden, lautete das offizielle Verdikt auf doppelten Selbstmord; man nahm an, dass Betsy sich die Pulsadern im Bett aufgeschnitten hatte, dann war Bart in die Badewanne gegangen und hatte das Rasiermesser bei sich benutzt. Betsy Sturnevans Familie wies diesen Urteilsspruch zurück und behauptete, Bart habe Betsy nicht nur ermordet, sondern sie gegen ihren Willen ins Windward gebracht, indem er sie mit Sedativen betäubte.

Es war eine Sensationsgeschichte, und Sam grub eine Reihe von Artikeln aus, die meisten aus einer damaligen Lokalzeitung, dem Kennewick Star . Keiner der Polizeibeamten, die mit dem Fall befasst gewesen waren, lebte noch. Aber sowohl Bart Knapp als auch Betsy Sturnevan hatten zum Zeitpunkt ihres Todes kleine Kinder gehabt, und Sam zog in Erwägung, sie zu suchen. Sie mussten inzwischen Anfang bis Mitte sechzig sein. Was ihn jedoch davon abhielt, war der Umstand, dass er nicht die geringste Verbindung zwischen einem der Liebenden und den Personen auf der Liste finden konnte. Letzten Endes kam er zu dem Schluss, dass es eine Sackgasse war.

Damit blieb noch das Mädchen, das draußen an der steinernen Mole ertrunken war. Als er Windward Resort und Ertrinken in eine Suchmaschine eingab, tauchte nur die Geschichte eines Teenagers namens Duane Wozniak auf, der im Jahr 2000 ertrunken war, als er von der Mole sprang. Sam las alles über den Vorfall, was er fand, aber offensichtlich war es ein Unfall gewesen, und er entdeckte keine Verbindung zwischen Duane Wozniaks Familie und einer der Personen auf der Liste. Viel mehr interessierte ihn, warum auch immer, die Geschichte, die ihm Franks Schwester erzählt hatte. Cynthia hatte gesagt, sie sei zwölf, dreizehn gewesen, als das Mädchen ertrank, und da sie außerdem ihrer Aussage nach 1963 achtzehn gewesen war, musste das Unglück 1957 oder 1958 passiert sein. Sam fand es logisch, dass er im Internet nichts über einen Todesfall durch Ertrinken im Windward Resort fand. Der Unfalltod eines Mädchens an einem Strand in Maine war bestimmt nicht von einer großen überregionalen Zeitung aufgegriffen worden, die später online archiviert wurde. Aber zweifellos musste die Geschichte in den lokalen Blättern erwähnt worden sein. Deshalb hatte Sam die letzten drei Tage triefäugig in der öffentlichen Bibliothek von Kennewick gesessen und Mikrofiches des Kennewick Star und des Southern Maine Forecaster durchgesehen, zwei Lokalzeitungen aus den Fünfzigern. Er war kurz davor aufzugeben, als er beschloss, die Suche auf Artikel aus den Jahren 1956 und 1959 auszudehnen. Und vor drei Stunden hatte er den Jackpot geknackt – ein Artikel im Star über das tragische Ertrinken von Faye Grant im Juli 1956 . Sie war zehn Jahre alt gewesen und hatte den Sommer mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Windward gewohnt. Ein Polizeibeamter namens William Cable wurde mit der Aussage zitiert, es habe sich um einen Unfall gehandelt, Faye Grant sei wahrscheinlich in den Spalt am Fuß der Mole gekrochen und nicht mehr herausgekommen, als die Flut kam.

In einem der Artikel wurden die Namen von Fayes unmittelbaren Angehörigen erwähnt. Der Vater war John Grant, leitender Angestellter einer Versicherung, aus Hartford, Connecticut. Fayes älterer Bruder war vermutlich nach dem Vater benannt, denn das Blatt bezeichnete ihn als den »kleinen Jack Grant«, und die Mutter war Lily Grant, geb. Lily Radebaugh, ursprünglich aus Baltimore.

Als er das las, war Sam ein eiskalter Schauder über den Rücken gelaufen. Der »kleine Jack Grant« könnte sich heute Jack Radebaugh nennen. Wenn Faye seine Schwester gewesen war, dann hatte die Liste mit den neun Personen sicher etwas mit ihrem Tod zu tun. Wahrscheinlich ging es um Rache. Frank Hopkins, der im Windward Resort gewesen sein musste, als Faye starb, war in der Nähe der Mole ertränkt worden. Die anderen Namen auf der Liste, alles Leute, die zu jung waren, um bei Fayes Tod dabei gewesen zu sein … Sam hatte keine Ahnung, warum sie im Visier standen. Er konnte nur vermuten, dass sie irgendwie verwandt mit jemandem waren, den Jack für schuldig hielt. Vielleicht mit einem Elternteil. Vom Alter her würde es passen.

Nachdem er eine E-Mail mit JPEG s aller relevanten Artikel an Detective Mary Parkinson von der State Police und Agent Ruth Jackson vom FBI geschickt hatte, studierte Sam nun seine Aufzeichnungen über die Familien der Opfer. Und alles begann sich zu fügen – es gab mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Eltern der Opfer als zwischen den Opfern selbst. Sie waren alle weiß, gehörten zur Mittel- oder oberen Mittelschicht und ballten sich in Neuengland. Und da war noch etwas, etwas, das Sam schon eine Woche zuvor aufgefallen war: Die Liste mit neun Namen enthielt sechs Männer und drei Frauen. Er hatte darüber nachgedacht. Wenn Jack Radebaugh oder jemand anderer (es war möglich) die Kinder von Leuten ermordete, die seiner Ansicht nach am Tod seiner Schwester mitschuldig waren, dann würde er nicht nur versuchen, ihren Tod schmerzlos zu machen, sondern er würde vielleicht die Söhne als Opfer aussuchen, nicht die Töchter. Natürlich war Jessica Winslow ins Visier genommen worden, aber sie war ein Einzelkind. Und Caroline Geddes war zwar kein Einzelkind, aber ihr einziger Bruder lebte im Ausland. Sams Gedanken rasten, als er an den Kühlschrank ging und sich ein weiteres Bier holte, ohne auch nur einen Blick auf das Footballspiel im Fernseher zu werfen.

Als er in sein Arbeitszimmer zurückging, dachte er über Alison Horne nach, die nie ausfindig gemacht worden war. War sie bereits tot? Wahrscheinlich nicht, denn wenn sie gestorben wäre, hätte es einen Polizeibericht gegeben, eine Todesmeldung, irgendetwas, worauf das FBI aufmerksam geworden wäre. Natürlich konnte sie tot sein, und ihre Leiche war noch nicht gefunden worden. Aber dann hätte sie sicher irgendwer als vermisst gemeldet. Nein, Sam ging davon aus, dass sie noch lebte, und er fragte sich, wo sie war und ob sie wusste, in welcher Gefahr sie schwebte.