Dienstag, 1 . November, 1 :10 Uhr
J ack Radebaugh – den Alison Horne und einige andere Leute als Jonathan Grant kannten, der Name, den man ihm bei seiner Geburt gegeben hatte – ging vorsichtig den knarrenden Flur entlang zu dem Zimmer, das früher, vor vielen Jahren, das seines Vaters gewesen war. Er betrat den schmalen Einbauschrank, der nach Zeder und Staub roch und langte nach oben, wo das Kaliber-22 -Gewehr von zwei Nägeln festgehalten hing. Er nahm es an sich, vergewisserte sich, dass es geladen war, und ging zurück ins Schlafzimmer. Alison schlief auf der Seite, eine Hand unter der Wange. Er stand über ihr, ein wenig besorgt, die Kugel könnte sie selbst aus kürzester Entfernung verletzen, bevor sie sie tötete. Er hatte von Kugeln gehört, die von Schädelknochen abprallten, aber das war sicherlich sehr selten. Er bezweifelte, dass es passieren würde, wenn er das Gewehr richtig ansetzte.
Vielleicht hätte ich ihr etwas in den Drink geben sollen, damit sie nicht plötzlich aufwacht, dachte er, so wie er Caroline Geddes und Ethan Dart erst mit Medikamenten betäubt hatte. Aber er sagte sich, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Er kannte Alison Horne und wusste unter anderem über sie, dass sie einen tiefen Schlaf hatte. Er wappnete sich. Die Mündung der Waffe war fünf Zentimeter von Alisons Kopf entfernt. Er liebte sie nicht – er war sich nicht sicher, ob er überhaupt irgendwen aufrichtig liebte, zumindest niemanden, der gegenwärtig auf diesem Planeten lebte –, aber er mochte Alison ganz gerne.
Er dachte an die Zeit vor einem Jahr zurück, als er zum ersten Mal in dieses fürchterliche Steakhouse gegangen war, in dem sie als Hostess arbeitete, nur um einen Blick auf sie zu werfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er alles bereits vollständig geplant, war sich aber immer noch nicht gänzlich sicher, ob er es durchziehen würde. Er hatte die Liste mit den neun Namen geschrieben – neun potenzielle Opfer, die nicht ahnten, dass sie dazu bestimmt waren zu sterben. Der Privatdetektiv, den er angeheuert hatte, hatte ihm Akten mit ausführlichen biographischen Informationen über sie alle ausgehändigt. In gewisser Weise war es ein Test gewesen, Alison Horne leibhaftig kennenzulernen; er wollte sehen, wie es ihm damit ging, Gott zu spielen. Er saß in seinem besten Anzug an der Theke, beobachtete sie am Hostess-Pult und versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, ihr Leben zu beenden. Er dachte an Grace, sein einziges Kind, die jetzt etwa in Alisons Alter gewesen wäre, wenn ihr nicht ein Jahr nach ihrem Collegeabschluss ein Betrunkener ins Auto gefahren wäre. Sie war auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen, von der Abendschicht in einem noblen französischen Restaurant. Sie hätte nicht kellnern müssen, vor allem, da sie einen Job bei der Zeitung in Ithaca bekommen hatte, bei der sie in ihrem letzten Studienjahr ein Praktikum absolviert hatte; davon abgesehen hätte ihr Jack mit Freuden Geld gegeben, wenn sie noch welches gebraucht hätte. Aber sie hatte immer auf ihre Unabhängigkeit Wert gelegt, und sie liebte die Arbeit als Kellnerin, seit sie in ihrem ersten Jahr an der Highschool einen Job bei einem Cateringunternehmen in New Jersey bekommen hatte. Und er erinnerte sich, dass sie ihm erzählt hatte, sie würde an einem Abend als Bedienung mehr verdienen als in einer ganzen Woche bei der Zeitung.
Sie war außerordentlich hübsch gewesen, seine Tochter, und Jack hatte sich vorgestellt, dass die Männer, die im Salt Bistro speisten, sie bemerkten. Und er hatte sich Sorgen gemacht, was passieren könnte, wenn sie spätabends das Restaurant verließ und zu ihrem Wagen ging. Aber die Dinge, über die wir uns Sorgen machen, sind nicht die Dinge, die letzten Endes passieren. Der betrunkene Fahrer überquerte vier Fahrspuren, ohne ein anderes Auto zu streifen und rammte dann Graces GTI mit solcher Wucht, dass sie eine Leitplanke durchbrach, sich zweimal überschlug und auf dem Parkplatz einer Ladenzeile auf dem Dach landete. Sie war weniger als eine Minute von ihrer Wohnanlage entfernt gewesen.
Als er Alison in dem Steakhouse beobachtete, fragte sich Jack, ob sie, wie seine Tochter, gern dort arbeitete. Irgendwie bezweifelte er es. Sie ging auf die vierzig zu, wie er wusste, aber sie war immer noch sexy genug, um in dem knappen Oberteil und dem engen Lederrock eine gute Figur zu machen. Sie ertappte ihn, wie er sie beobachtete, und lächelte ihn strahlend an. Vielleicht sollte er sie näher kennenlernen, falls möglich. Ich überlege, diese Frau zu töten, dachte er, also wäre es richtig, sie erst kennenzulernen, aus rein logistischen, aber auch aus moralischen Gründen. Natürlich war ihm klar, dass er nicht die Absicht hatte, seine übrigen Opfer kennenzulernen, aber die hatte er auch nicht direkt vor der Nase, nahe genug für ein Lächeln.
Er war noch mehrere Male in dem Steakhouse gewesen und hatte sie schließlich gefragt, ob sie ein Glas Wein mit ihm trinken gehen wollte. Und dann hatte er ihr vorgeschlagen, seine Geliebte zu werden. Es war leicht gewesen, und außer ihrer Schönheit und ihrem Restaurant-Job hatte nichts Jack an seine Tochter erinnert. Alison war nur ein beliebiger Mensch, der allein auf der Welt war, wie wir alle. Kein besonders guter und kein besonders schlechter. Er wollte ihr nichts tun, aber er wollte sie töten. Sie war ein kleines Rädchen in einem ungeheuerlich komplexen System, und er musste eine Korrektur vornehmen. Er stellte Karma im Universum wieder her.
Er richtete den Lauf des Gewehrs sorgfältig auf ihren Hinterkopf und drückte ab.