12. KAPITEL

Sie lief in ihren Räumen auf und ab. Sie ging nicht in die Bücherei. Sie vergaß ihre Gärten und ihr damenhaftes Benehmen. Sie dachte an Tony Moretti und stellte sich seinen Körper im Bett vor, sie stellte sich vor, mit Tony Moretti ins Bett zu gehen, und die Intensität, mit der sie ihn begehrte, floss wie eine Droge durch ihre Adern. Er war jünger als sie, er wäre das letzte Abenteuer ihrer Jugend. Bei der Vorstellung von Tony Moretti, der im Restaurant vor seinen Austern saß, seinen feuchten Augen, seinen langen Fingern, die die traurige, banale Melodie gespielt hatten, seinem Blick, als er ihr in die Augen gesehen und nach seiner lächerlichen Krawattennadel gefragt hatte, wurde ihr ganz heiß. Sie versuchte, sich irgendwo hinzusetzen und ein Buch zu lesen, aber wo immer sie sich niederließ, fühlte sie sich unwohl. Im Speisesalon des Hotels, wo sie ihr Buch nutzlos und ungeöffnet in der Hand hielt, hatte sie das Gefühl, alle würden sie mustern, als würden sie nicht ihre gefasste Haltung und ihre passende Kleidung, sondern allein ihre Lust wahrnehmen. Immer lag sie nackt und voller Wollust neben Tony Moretti, dem Sohn ihres Mannes.

Als sie ihn erblickte, hatte sie gespürt, wie der sexuelle Pulsschlag der Stadt zu erwachen begann. Bis dahin hatte sie ihn nicht bemerkt. Nun fragte sie sich, immerzu bei Tag und bei Nacht, wie viele Leute wohl genau in diesem Augenblick miteinander schliefen. Hinter jedem Fenster wurde andauernd der Geschlechtsakt vollzogen. Von den Armen mit ihrem ekstatischen, tierhaften Gegrunze, von den Reichen mit ihrem unvorstellbaren Raffinement und ihren ausgeklügelten Perversionen.

Sie konnte nicht schlafen. Sie spürte, dass Truitt sie beobachtete, dass Truitt die ganze Zeit schon gewusst hatte, dass dies geschehen würde.

Schließlich kam der Sonntag. Er war strahlend, strahlend und hart und kalt, und in der Luft lag Schnee. Sie hatten gesagt, um zwei Uhr. Er wäre dann wach, er wäre dann nüchtern, er wäre dann vielleicht allein. Sie war bereit. Sie trug ihr graues Seidenkleid, ihr Hochzeitskleid, ihren Verlobungsring mit dem Diamanten und den langen Pelzmantel, den sie gekauft hatte. Als könnten diese Dinge sie schützen. Sie hatte das Gefühl, als gebe sie vor, eine züchtige Matrone zu sein, die einem entfernten Verwandten einen Besuch abstattet.

Mr. Malloy und Mr. Fisk führten sie schweigend durch helle, glatte, glänzende Straßen, die vom Hotel wegführten, von allem Neuen und Modernen, und dann durch Straßen, die nicht mehr schön und ruhig am Sonntag waren. Sie entfernten sich von den schönen Geschäften und den Straßen, die nachts hell erleuchtet waren, bis sie in eine Gegend mit kleinen Reihenhäusern aus Sandstein kamen, Häusern, die in keinem guten Zustand waren. Sie hatten keine Vorgärten, nicht einmal Blumenkästen, bloß schäbige Marmorveranden. Catherine konnte sich die Zimmer hinter den schmierigen Fenstern vorstellen, Zimmer, in denen sie selbst gewohnt hatte, niedrig, vollgestopft und von jahrelanger Vernachlässigung verschmutzt. Die Möbel wären ebenfalls alt und unbequem, die Böden nicht gefegt, es würde nach gebratenen Zwiebeln und billigen Zigarren riechen, nach immer geschlossenen Fenstern, es gäbe ein Hinterzimmer, in dem die Mutter und der Vater schliefen, ein anderes für die Kinder, ganz gleich wie viele, und einen Gegenstand oder auch zwei, die man vom Land mitgebracht hatte und nun hütete. Es war ein trauriges, hartes Leben ohne Liebe, ohne irgendetwas anderes als die Gegenwart, und die war nicht kostbar, sondern wurde nur ertragen. Der ganze Rhythmus ihres Lebens bestand allein aus dem Stampfen der Maschinen in den Fabriken, in denen sie arbeiteten, und in den Nächten träumten sie von den Kleinstädten, aus denen sie gekommen waren, von den Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, vom Wechsel der Jahreszeiten, vom Getreide, das sie gesät, gehegt und geerntet hatten.

Wenn sie erwachten, konnten sie sich nicht mehr an diese Träume erinnern, aber während sie Tag für Tag vor ihren erbarmungslosen Maschinen standen, grämten sie sich in ihrem Herzen nach etwas, für das sie keinen Namen hatten.

Ihre Gesichter waren verschlissen wie die Möbel, ungeliebt und verhärmt. Ab und zu, an den Abenden, huschte über die Gesichter der Frauen ein wehmütiger, sehnsüchtiger Ausdruck, und dann hatten sie für eines der Mädchen eine liebevolle Geste oder ein gütiges Wort. Die Väter waren betrunken oder schwermütig oder beides, und manchmal gewalttätig, die Kinder begriffsstutzig, faul, ungebildet und vernachlässigt, außer in diesen wenigen, kurzen, sinnlosen Augenblicken, in denen die Mütter ihr hartes Leben einmal vergessen konnten. Dies waren nicht die Straßen des fortschrittlichen, ehrgeizigen, muskulösen Amerikas, sondern die des erschöpften, verlorenen und schmutzigen.

Catherine fühlte sich in ihrem warmen Pelzmantel und ihrem grauen Seidenkleid, das im Schnee schleifte, ganz gleich, wie sehr sie es auch mit ihren behandschuhten Händen anhob, meilenweit von all dem entfernt. Auf dem Land war der Schnee so sauber wie ein frisches Bettlaken. Hier war er dreckig. Die Kälte drang ihr in die Stiefel und kroch ihr trotz ihrer Wollstrümpfe an den Beinen hoch. Sie hatte das Gefühl, als sei sie diesen Häusern, diesen Gewohnheiten und diesem Leben entkommen. Sie war immer schon ein Chamäleon gewesen, hatte sich den Akzenten und Gewohnheiten der jeweiligen Umgebung angepasst, aber jetzt hatte sie das Gefühl, sich in etwas Neues verwandelt zu haben, aus dem sie sich nicht mehr zurückverwandeln konnte.

Ihr Puls raste. Das Blut pochte ihr in den Ohren. Catherine würde sich Tony Moretti nun zu erkennen geben.

Sie bogen von diesen Straßen in andere Straßen ab, die noch deprimierender waren. Hier gab es keine Bürgersteige und keine Pflastersteine, sondern bloß noch Schotterwege zwischen Holzhäusern, die meist keinen Anstrich hatten, einige hatten zerbrochene Fenster und alle zerschlissene, dreckige Vorhänge, die in grellem Licht schlaff herabhingen. Lindenstraße und kein Baum zu sehen.

Gelegentlich blickten Malloy und Fisk sie an, als wollten sie sich entschuldigen, aber sie starrte nur stur geradeaus, ohne den Blick der beiden zu erwidern. Sie verlor sich jetzt in Gedanken an ihre eigene Vergangenheit. Mit jedem Schritt enthüllte sich ihr diese Vergangenheit mehr.

Vor einem der dreistöckigen Häuser, das in einem trüben Rot gestrichen war, als hätte sich jemand vor langer Zeit einmal die Mühe gegeben, es ansehnlicher und schicker erscheinen zu lassen, blieben sie stehen. Malloy schaute in sein Notizbuch. »Nummer 18. Das hier ist es.«

Sie fröstelte und zog sich den Kragen fest um ihren Hals. Mr. Fisk und Mr. Malloy zögerten, nun waren sie schon so weit mit all den Informationen gekommen, die ihnen zur Verfügung standen, und wussten jetzt doch nicht, was sie tun sollten.

»Also gut. Mir ist kalt. Gehen wir hinein.« Es war Catherine, die das Schweigen brach. »Jetzt sind wir hier. Es wird Zeit, dass wir Klarheit bekommen. Lassen Sie es uns hinter uns bringen.« Sie stieg die Treppe hoch und machte sich an der Tür zu schaffen, und Malloy und Fisk folgten ihr. Die Tür war unverschlossen und führte in ein dunkles Treppenhaus.

»Dritter Stock, Mrs. Truitt. Es ist dunkel. Entschuldigen Sie.«

»Dafür können Sie doch nichts.« Sie trat beiseite und folgte den beiden Männern die Treppe hoch. Und dann klopften sie an die Tür, und dann, nach Schlägen, die einer nach dem anderen ihre Nerven strapazierten, öffnete sich die Tür, und vor ihnen stand Antonio Moretti.

Er sah schwer gezeichnet aus. Er sah rein aus. Er leuchtete wie ein Heiliger. Er stand da in einem roten, seidenen Morgenmantel mit Paisleymuster, der vorn kaum geschlossen war. Offensichtlich trug er nichts darunter, und offensichtlich war es ihm völlig egal.

»Mr. Moretti. Hier ist eine Dame.«

»Ach, tatsächlich. Ich sehe schon. Eine Dame bitte ich immer herein.«

Malloy holte sein Notizbuch heraus, als würde ihnen das helfen, auf den Punkt zu kommen. »Mr. Moretti … Mr. Truitt, wir sind gekommen, um Sie nach Hause zu bringen. Ihr Vater …«

Ein Schauer lief ihm über die Stirn, flüchtig, nur für einen winzigen Augenblick. »Wie war noch der Name? Ich kenne so jemanden nicht. Ich heiße Moretti. Tony Moretti.«

»Mr. Ralph Truitt. In Wisconsin, wo Sie geboren sind.«

»Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich habe Brandy da. Draußen ist es kalt.«

Sie wollten eigentlich nicht, aber etwas Machtvolles in seinen Blicken und das Weiß seiner Haut zogen sie irgendwie weiter und in sein Wohnzimmer. Es war elegant ausgestattet – das vollkommene Gegenteil des Hauses selbst – mit feinen französischen und italienischen Möbeln, die offenbar wertvoll waren. Die Zimmerdecke war wie ein Zelt mit oranger Seide abgehängt, und marokkanische Laternen hingen herab, in denen die Kerzen flackerten. Sie brannten vermutlich immer noch von der letzten Nacht. Dahinter konnten sie das Chaos eines zeltartigen und mit Brokat geschmückten Schlafzimmers erblicken, das wie ein Palast wirkte, der kurz vor einer Revolution fluchtartig verlassen worden war.

Überall im Zimmer lag Kleidung verstreut, und nachlässig hob er ein paar Sachen auf, als wollte er ihnen Platz zum Hinsetzen verschaffen. Keiner setzte sich. Er wandte sich an Catherine und lächelte.

»Wie war noch dieser Name?«

Wieder raubte die Atemlosigkeit ihrer Stimme die Kraft. »Truitt. Mr. Ralph Truitt.«

»Und Sie sind dann …?«

»Mrs. Truitt. Die neue Mrs. Truitt.«

»Ich hoffe, Sie werden sehr glücklich.«

»Danke.«

»Den Namen kenne ich aber nicht.«

Malloy räusperte sich. »Er ist Ihr Vater.«

Moretti lachte und zeigte seine Alabasterkehle, seine Wangen, die vom gestrigen Bartwuchs dunkel waren.

»Mein Vater ist Pietro Moretti. Meine Mutter heißt Angelina. Er spielte Akkordeon in Neapel, wo ich geboren wurde. Als ich drei war, sind meine Mutter und er nach Amerika ausgewandert, nach Philadelphia, in das italienische Viertel Philadelphias, wo er in einem der zahllosen italienischen Restaurants nach dem anderen Akkordeon gespielt hat. Schließlich gehörte ihm selber eins, und es gehört ihm immer noch, und mein Cousin Vittorio kocht, er kocht übrigens sehr gut, mein Vater spielt weiterhin Akkordeon, und meine Mutter sitzt an der Kasse.«

Malloy unterbrach ihn. »Sie sind in Wisconsin geboren. Ihr Vater ist Ralph Truitt.«

»Und wer sind Sie?«, fragte Antonio.

Fisk mischte sich ein. »Wir sind von Ihrem Vater bezahlt worden, um Sie zu finden.«

»Sie haben mich beobachtet?«

»Seit mehreren Monaten. Ja.«

»Das macht mich sehr unglücklich.«

Malloy und Fisk sahen auf ihre Hände. Antonio wandte seinen Blick ab und sprach Catherine an.

»Ich bin in Philadelphia aufs Konservatorium gegangen, als eines dieser jämmerlichen, rotznasigen Kinder aus der Unterschicht, die solche Schulen besuchen dürfen, weil die wohlhabende Öffentlichkeit feststellt, dass es sie nichts kostet und sie so nachts besser schlafen kann. Nun ja, ich war irgendwie ein bisschen begabt. Seitdem spiele ich in Restaurants Klavier. Also, Restaurants ist eigentlich ein zu schönes Wort dafür. Ich war für Solokonzerte nicht begabt genug, aber zu begabt, um bloß Unterricht zu geben. Außerdem hasse ich Kinder. Ich bin lieber in Gesellschaft von Erwachsenen. Oder zumindest in der der meisten Erwachsenen. Hier bin ich nun. Ich kenne keinen Mr. Truitt. Ich bin noch nie in Wisconsin gewesen, auch wenn es dort vielleicht sogar hübsch sein mag. Es ist sehr weit weg.«

»Das ist alles bloß ausgedacht. Wir haben die Fakten.«

»Sie können das nachprüfen. Moretti. Ich habe Unterlagen, Dokumente, ein Sparbuch von der Bank. Nicht viel Geld, aber Sie können es sich ansehen. Mein Vater wohnt immer noch in Philadelphia. Meine Mutter heißt immer noch Angelina, und sie sitzt immer noch an der Kasse. Brandy?« Er schenkte sich selbst ein und schwenkte das Glas im trüben Licht.

»Ihre Mutter war die Contessa Emilia Truitt. Ihr Vater war Andrea Moretti, ein Klavierlehrer, den der Ehemann Ihrer Mutter, Mr. Truitt, angestellt hatte.«

»Eine echte Gräfin. Wie bezaubernd. So gern ich auch das Restaurantleben für einen Adelstitel eintauschen würde, ich fürchte doch, dass das nicht stimmt. Kein Wort mehr davon. Ich könnte Ihnen die Briefe meiner Mutter vorlesen. Sie fleht mich an, nach Hause zu kommen und mir ein nettes Mädchen zu suchen. Ein nettes Mädchen wie die neue Mrs. Truitt, ohne Zweifel. Warum will Mr. Truitt mich denn sehen, wenn er nicht mein Vater ist?«

»Er fühlt sich schlecht.«

»Weil seine Frau eine treulose Hure war?«

Malloy warf Catherine einen Seitenblick zu.

»Weil er sehr … wegen der Lebensumstände, weil er das Gefühl hat, sehr lieblos zu Ihnen gewesen zu sein, und weil er es wiedergutmachen will.«

»Indem er mich dazu bewegt, Saint Louis zu verlassen und nach Wisconsin zu kommen? Das hört sich nicht gerade nach einem tollen Geburtsrecht an.«

»Er ist Ihr Vater. Er hat sich wie Ihr Vater verhalten, seit Sie auf die Welt gekommen sind.«

Ein wütender Ausdruck huschte über Morettis Gesicht. »Mein Vater hat sich wie mein Vater verhalten, seit ich auf der Welt bin. Würden Sie gern ein paar Photographien sehen? Ich habe keine. Meine Babysachen? Sie sind in Philadelphia. Es ist leicht zu beweisen, wer man ist. Es ist schwer zu beweisen, dass man nicht jemand anders ist. Ich bin nicht der Sohn dieses Mannes, so sehr er sich das auch wünschen mag. Es tut mir sehr leid, dass Mr. Truitt sich so schlecht fühlt. Im Allgemeinen bin ich sehr hilfsbereit. Ich wünschte, ich könnte ihm behilflich sein. Ich wünschte, ich könnte Ihnen behilflich sein, aber unter diesen Umständen ist meine Gastfreundschaft sehr eingeschränkt, ich habe nur Brandy anzubieten, und Sie wollen keinen Brandy, und jetzt möchte ich, dass Sie gehen.«

Catherine setzte sich auf einen Stuhl, der von Kleidungsstücken frei geräumt worden war, zwischen denen sie auch die dunklen Strümpfe einer Frau registrierte.

»Mr. Moretti«, sagte sie leise.

»Sie waren die Dame, nicht? Die Dame in Schwarz im Restaurant. Die Dame in Trauer.«

»Ja.« Ihre Hand zitterte, als sie sprach. »Ich bin aber nicht in Trauer, wie ich schon gesagt habe. Sie spielen wunderschön.«

Sie stellte sich ihn im Bett vor. Sie stellte sich ihn nackt vor, erregt, wie er sich gegen ein Seidenkissen lehnte und wartete. Wie er auf sie wartete. Er roch nach dem Parfüm von letzter Nacht und nach seinem warmen Bett. Sie konnte es alles vor sich sehen. Sie wusste, wo er gewesen war und was er getan hatte. Sie roch die Frau, die erst vor kurzem gegangen war.

Sie sprach klar und direkt zu ihm, und er lauschte ihren Worten äußerst aufmerksam. »Sie haben gelitten. Er weiß das. Er weiß, dass Sie wütend sein müssen. Er hat auch gelitten. Sein Herz blutet von all den Nächten, die er mit diesem Kummer verbracht hat. Er weiß, dass er Sie verletzt hat. Er weiß, dass er Sie schlecht behandelt hat. Jetzt möchte er es wiedergutmachen. Er möchte Sie nach Hause holen, in das Haus, in dem Sie geboren worden sind, in das große Haus, und er möchte es wieder zum Leben erwecken. Ich kann nicht sagen, dass er Sie liebt. Noch nicht. Er möchte Sie lieben. Er möchte gut zu Ihnen sein. Er möchte, dass Sie ihm vergeben … alles. Bitte. Ich weiß nicht …«

»Und was würden Sie, liebe neue Mrs. Truitt, was würden Sie tun, damit diese lächerliche Phantasie wahr wird?«

»Ich habe es ihm versprochen. Ich sage es Ihnen ja gerade. Er ist reich. Ich würde alles tun.«

»Geben Sie mir Ihren Ring.«

»Wie bitte?«

»Ich habe meine Krawattennadel verloren, erinnern Sie sich? Ich mag Diamanten. Geben Sie ihn mir. Vielleicht schenke ich ihn einer Freundin. Vielleicht trage ich ihn auch selbst, einer meiner extravaganten Ticks. Ich könnte mir auch eine neue Krawattennadel daraus machen lassen. Sie würde schon auffallen, wenn ich spiele, meinen Sie nicht? Im Licht? Vielleicht werfe ich ihn auch in den Mississippi. Oder ich verschlucke ihn. Geben Sie ihn mir.«

»Mrs. Truitt«, sagte Mr. Fisk, der jetzt aufgeschreckt war.

Sie zögerte lange, dann zog sie ihren gelben Diamantring ab und legte ihn Tony in seine ausgestreckte Hand.

»Da. Er hat mir gesagt, ich solle alles tun. Ich sagte, das würde ich. Behalten Sie ihn ruhig. Nur kommen Sie nach Hause.«

»Wenn das mein Zuhause wäre, wenn es irgendeine Verbindung zu mir gäbe, würde ich es auf der Stelle tun, für Sie, und hätte es nicht nötig, einen Ring von Ihrer wunderbaren Hand zu nehmen.« Er streifte ihn über seinen kleinen Finger. »Klein, aber hübsch.« Er glänzte im Licht der Kerzen über ihnen, die allmählich verloschen.

»Jetzt möchte ich aber, dass Sie verschwinden. Lassen Sie mich in Frieden. Glauben Sie, dass mein Leben so schön ist? Das ist es nicht. Glauben Sie, ich bin umgeben von lauter Liebe? Bin ich nicht. Aber es ist genug da, so dass ich diese kleine Posse nicht mitmachen muss.« Er gab Catherine den Ring zurück. »Oder Ihren kleinen Diamantring vom Land bräuchte. Hauen Sie ab, alle.«

Malloy war noch nicht fertig. »Mr. Truitt, wir machen keine Fehler.«

Moretti verlor jetzt die Fassung. »Nennen Sie mich kein einziges Mal mehr bei diesem Namen, ich warne Sie. Ich heiße Moretti. Heute ist mein freier Tag. Die Stunde, in der ich nett zu Fremden bin, ist vorüber. Gehen Sie mit Ihrer wahnwitzigen Geschichte zurück zu diesem Bauerntrampel, wer auch immer das sein mag, und erzählen Sie ihm, dass Sie sich komplett geirrt haben. Nein, noch besser, nehmen Sie den Zug nach Philadelphia. Fragen Sie irgendjemanden. Sie werden Ihnen erklären, wo Moretti ist, und fragen Sie sie nach ihrem Sohn. Sie mögen das nicht, was ich tue. Sie finden, dass Klavierspielen etwas für Mädchen ist. Sie wollen auch, dass ich nach Hause komme. Ich würde viel lieber in ein Zuhause zurückkehren, in dem ich die Menschen wenigstens kenne. Aber mein Zuhause ist hier. Und jetzt sind Sie hier. Verschwinden Sie.«

Er schraubte die Flasche auf und goss sich noch ein großes Glas Brandy ein. Catherine konnte spüren, wie dessen Wärme wie Feuer durch ihre Adern strömte.

»Wir werden wiederkommen.« Fisk sprach leise. In seiner Stimme lag fast keine Drohung. Nur eine Andeutung.

»Ich glaube nicht. Ich wüsste nicht, warum.« Antonio setzte sich auf einen blauen Samtsessel, und sein scharlachroter Morgenmantel öffnete sich über seiner Brust. Catherine konnte seinen langen Oberkörper bis zum Bauchnabel sehen.

Es gab nichts mehr zu tun. Sie gingen, und sie konnten ihn lachen hören, während sie im Halbdunkel die Treppe hinunterstolperten. Die beiden Pinkertons waren gedemütigt worden. Catherine, die sich den Ring wieder auf den Finger schob, lächelte. Irgendwie fühlte sie sich in Hochstimmung versetzt.

Auf dem Weg zurück, über den Sonntagsmarkt, zwischen billigen Kleidern, dünnen Mänteln, Messingringen, gefrorenem Kohl und kupfernen Kochtöpfen hindurch, kam sie an einem Mann vorbei, der Singvögel verkaufte. Gelbe, blaue und rote Kanarienvögel. Sie sahen in der Kälte halb tot aus, aber sie kaufte einen und dazu einen kunstvollen Käfig und trug beides durch die gefrorenen sonntäglichen Straßen von Saint Louis zurück, wobei sie den Vogel in ihrer behandschuhten Hand hielt und ihren warmen Atem auf seinen zitternden Körper blies.