KAPITEL 10
Entgegen allen Erwartungen erlangte Professor Collin das Sprachvermögen wieder. Es begann mit unartikulierten Lauten, die der gelähmte Mann zehn Tage nach dem Unfall ausstieß. Seither machte er beinahe täglich Fortschritte. Es gelang ihm bereits, kurze Sätze zu formulieren, meist rüde Befehle oder bösartige Nörgeleien, die das Klinikpersonal zur Verzweiflung trieben.
So bestand er darauf, daß die Tür zu seinem Zimmer im dritten Stock Tag und Nacht geöffnet blieb, damit er verfolgen konnte, was auf dem Gang vorging. Bald konnte er mit Hilfe des Steuerknüppels vor dem Mund seinen Rollstuhl durch die Gänge lenken; nur beim Bedienen des Lifts brauchte er einen Helfer, der die gewünschten Knöpfe drückte.
Oberarzt Dr. Nicolovius leitete die Klinik kommissarisch, doch nominell war nach wie vor Collin der Chef. Nicolovius hatte keinen leichten Stand, denn Collin verfolgte jede seiner Handlungen mit Argwohn; seit zwei Tagen bestand er sogar darauf, daß schwierige Operationen in seinem Beisein durchgeführt wurden.
Der Mann im Rollstuhl, dessen Körper und Kleidung vor jeder Operation, die er sich anschaute, umständlich und zeitraubend sterilisiert werden mußten, erwies sich immer mehr als untragbare Belastung für den reibungslosen Arbeitsablauf in der Klinik. Nicht wenige wünschten diesen unerträglichen Quälgeist in die schwärzeste Hölle. Besonders die Schwestern hatten unter seinen Ausfällen zu leiden. Collin überschüttete sie mit giftiger Kritik oder pöbelte sie an; keine konnte dem schwerkranken Mann etwas recht machen. Die meisten weigerten sich, sein Zimmer im dritten Stock überhaupt noch zu betreten.
Collins Lebensumstände und die damit verbundene Bewegungsunfähigkeit hatten ihn nur vorübergehend dem Alkohol entwöhnt. Inzwischen soff er, übrigens mit Billigung seines Oberarztes Dr. Nicolovius, mehr als je zuvor. Er trank Unmengen von Cognac – für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Zustand zu ertragen. Doch für seine Mitarbeiter brachen dadurch noch schlimmere Zeiten an.
Vom Hausmeister der Klinik, einem technischen Improvisationsgenie, wurde Collins elektrischer Rollstuhl umgerüstet, daß er doppelt so schnell fahren konnte wie eigentlich vorgesehen. Seither machte es Collin ein besonderes Vergnügen, mit hoher Geschwindigkeit durch die Gänge zu jagen und Patienten und Personal zu schikanieren.
Collin schien nur noch Interesse am Alkohol zu haben und daran, andere mit den Abgründen der menschlichen Seele zu konfrontieren.
Seine ehemalige Sekretärin wurde von Collin beauftragt herauszufinden, wo Juliette sich aufhielt. Die Aufgabe nahm beinahe ihre ganze Zeit in Anspruch, obwohl Collin ihr mehrere Anlaufstellen, Namen und Adressen genannt hatte; aber jede erwies sich als ein Schlag ins Wasser.
Als telefonische Recherchen keinen Erfolg brachten, verlangte Collin von ihr, einen ganzen Tag lang den Eingang zu Brodkas Wohnung zu bewachen. Die Sekretärin legte sich in ihrem Auto zwölf Stunden auf die Lauer – ohne Ergebnis.
Als sie Collin am folgenden Tag davon unterrichtete, geriet der Professor außer sich, drehte sich in seinem Rollstuhl immer wieder um die eigene Achse und stieß üble Verwünschungen aus. Ängstlich wich die Sekretärin in eine Ecke des Zimmers zurück.
Collin sah die Furcht in ihren Augen, und sie erregte ihn. Er richtete seinen Rollstuhl aus, drückte den Steuerlöffel nach vorn, und sein unheimliches Gefährt schoß auf die junge Frau zu. Diese versuchte auszuweichen, doch Collin reagierte ebenso schnell, lenkte den Rollstuhl zur Seite und preßte die Frau gegen die Wand.
Sie schrie in Todesangst um Hilfe, unfähig ihrem Peiniger zu entfliehen. Wie wild schlug sie auf Collins Kopf ein, mit dem der Professor den Rollstuhl steuerte.
Mit stechenden Augen setzte Collin sein unheimliches Gefährt ein paar Zentimeter zurück, um von neuem Anlauf zu nehmen. Dabei bohrten sich seine toten Knie in die Oberschenkel der Frau. Wieder schrie sie – weniger aus Schmerz als aus Abscheu vor diesem Ungeheuer.
Endlich, nach endlosen Augenblicken der Qual, wurden die Hilferufe gehört. Ein Pfleger eilte zu Hilfe und versuchte Collin in seinem Rollstuhl wegzuziehen. Collin wendete sein Gefährt so plötzlich, daß der Pfleger strauchelte; aber im Fallen bekam der Mann eines der Kabel zu fassen, die von den Batterien zum Motor führten. Der Pfleger riß es aus dem Steckkontakt, und im nächsten Augenblick stand der Rollstuhl still.
Schluchzend kauerte die Frau am Boden. Der Pfleger half ihr auf und führte sie aus dem Zimmer. Collin blieb in seinem unbeweglichen Rollstuhl zurück.
Auf den Vorfall angesprochen, reagierte Collin am folgenden Tag mit gespielter Fassungslosigkeit. Er lallte unartikuliert, alle Vorwürfe seien erstunken und erlogen; man suche nur nach einem Vorwand, ihn loszuwerden.
Obwohl Collins Sekretärin außer ein paar blauen Flecken keine Verletzungen davongetragen hatte, nahm Dr. Nicolovius den Zwischenfall sehr ernst. Am Abend versammelte er in seinem Zimmer die Belegschaft. Gegen seinen Willen und ohne Zustimmung seiner Ehefrau Juliette, erklärte Nicolovius, könne der Professor nicht in ein Pflegeheim eingewiesen werden. Andererseits stelle Collins Zustand für Personal und Patienten der Klinik eine Gefahr dar.
Collin sei verrückt, meinte der Pfleger, der die Sekretärin aus der Gewalt des Professors befreit hatte; es sei unzumutbar, ihn weiter in der Klinik zu belassen.
Aus Angst vor einer neuerlichen Wahnsinnstat des Professors drohten zwei Schwestern mit Kündigung. Und die beiden Assistenzärzte lehnten die weitere Verantwortung für das Wohl der Patienten ab, solange ›der Wahnsinnige‹ in der Klinik sein Unwesen treibe.
Unbemerkt hatte Collin seinen Rollstuhl vor die Tür seines Oberarztes gesteuert. So wurde er Zeuge der Anschuldigungen. Niemand sah das teuflische Grinsen, das für einen Augenblick über sein Gesicht huschte.
Marco, der Portier vom Hotel Excelsior, fuhr einen hellblauen Fiat Cinquecento, der schon manche Karambolage überstanden hatte, und wie alle Italiener liebte er seinen Kleinwagen über alles. Man hätte meinen können, daß sich diese Liebe in besonders schonender Behandlung des Kleinwagens äußerte, aber das war nicht der Fall. Am Steuer war Marco, sonst ein Ausbund an Ruhe und Gelassenheit, ein anderer Mensch.
Er jagte den Zweizylindermotor hoch, als säße er am Steuer eines Ferrari. Und was ihm an Beschleunigung fehlte, machte er durch die Kleinheit des Autos wett; jedenfalls fand er immer eine Lücke in den Fahrzeugkolonnen, die sich auf den Ausfallstraßen südwärts bewegten.
Während Juliette auf dem Beifahrersitz beinahe hautnah die Stoßstangen von Last- und Lieferwagen zu sehen bekam, wurde Brodka auf der hinteren Sitzbank vom Lärm des luftgekühlten Heckmotors traktiert, der eine Unterhaltung unmöglich machte. Auf diese Weise blieben ihm zahllose italienische Schimpfwörter erspart, deren Marco sich im morgendlichen Berufsverkehr bediente, um besser voranzukommen und von denen ›puttana‹, Nutte, und ›porco dio‹, Schweinegott, noch die gängigsten waren.
Für die Fahrt nach Gaeta wählte Marco die Autostrada 2, die zwar gebührenpflichtig, aber dafür staufrei ist. An der Ausfahrt Cassino bog er auf die 630 ab, die sich übers Gebirge bis ans Meer schlängelt.
Gaeta liegt auf einer Halbinsel. Nur ein kleiner Stadtteil stammt aus dem Mittelalter; die steinigen Buchten und langen Strände sind von zahlreichen Villen und Hotels besiedelt.
Die Portiers der meisten Hotels kennen sich vom Telefon, und so steuerte Marco zielsicher das Hotel Serapo an, einen verschachtelten Gebäudekomplex am Fuße des Monte Orlando, um sich nach Walter Keyserling zu erkundigen. Brodka und Juliette warteten unterdessen im Wagen.
Nach zehn Minuten kehrte Marco mit der Nachricht zurück, Keyserling wohne zweihundert Meter landeinwärts in einem Haus von rosaroter Farbe, was in Italien nicht selten, in dieser Gegend aber ungewöhnlich sei.
Marco fand das Haus auf Anhieb. Brodka bat ihn, zunächst im Auto zu bleiben und den Eingang nicht aus den Augen zu lassen. Durch den großen Garten, der von niedrigen Bäumen bewachsen war, erreichten Brodka und Juliette das Haus.
Auf ihr Klopfen öffnete eine freundliche, anmutige Frau von dunklem Typ, die jedoch sofort verschwand, als Keyserling in der Tür erschien.
Einen Augenblick standen sich der Hausherr und die unerwarteten Besucher sprachlos gegenüber. Brodka befürchtete schon, Keyserling könnte ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen, als dieser plötzlich erklärte, ohne seine Bestürzung zu überspielen: »Ich wußte, Sie würden mich eines Tages finden. Ich hätte nur nicht erwartet, daß es so schnell geschieht. Kommen Sie herein!«
Brodka und Juliette warfen sich einen raschen, verwunderten Blick zu, dann folgten sie der Aufforderung.
Im Haus war es angenehm kühl, wozu auch der Steinfußboden beitrug, mit dem viele Häuser Italiens in Strandnähe ausgestattet sind. Nachdem sie auf rustikalen Holzstühlen Platz genommen hatten, die auf dem Steinboden kreischende Geräusche von sich gaben, begann Walter Keyserling zu reden, ohne daß seine Besucher auch nur ein Wort darüber verloren hatten, weshalb sie überhaupt gekommen waren.
»Fasolino ist ein Schwein«, sagte er. »Ich will gar nicht lange herumreden. Mein Erfolg als Society-Fotograf hält sich in Grenzen. Es gibt einfach zu viele. Vielleicht bin ich auch nicht penetrant und skrupellos genug, um jene indiskreten Bilder zu schießen, die das große Geld bringen. Jedenfalls war ich froh, wenn ich von Fasolino ab und zu einen Auftrag bekam. Er zahlte gut, zumindest am Anfang. Und wenn die Kasse stimmt, ist mir egal, was ich fotografiere. Sie verstehen. Doch allmählich gewann ich den Eindruck, daß Fasolino mich für irgendwelche kriminellen Machenschaften mißbrauchte. Bei seinen Aufträgen sagte er nie, was dahintersteckte; aber es lag auf der Hand, daß es um irgendwelche krummen Dinger ging. Für den Auftrag, in München eine Gemäldeausstellung, die Lokalität und sämtliche Anwesenden zu fotografieren, versprach er mir zehn Millionen Lire. Als ich die Bilder ablieferte, bekam ich fünf Millionen mit der Begründung, mehr seien die Fotos nicht wert. Vielleicht verstehen Sie jetzt meinen Zorn auf Fasolino.«
Brodka wollte Keyserlings Redefluß nicht stoppen. Doch nachdem dieser geendet hatte, meinte er in freundlichem Tonfall: »Das ist uns alles nicht neu, Herr Keyserling. Vor allem ist das nicht der Grund für unser Kommen.«
Keyserling blickte irritiert. Er rief nach seiner attraktiven Frau, sie möge eine Flasche Prosecco bringen. Nachdem sie wortlos eine schwarze Weinflasche und Gläser auf den Tisch gestellt hatte und wieder verschwunden war, fragte Keyserling verwundert: »Weshalb sind Sie dann hier?«
In Brodkas Stimme schwang ein drohender Unterton mit, als er erwiderte: »Weil Sie sich etwas angeeignet haben, das nicht Ihnen gehört, sondern mir.«
»Ach ja?« erwiderte Keyserling belustigt. »Und was soll das sein? Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden, Herr …«
»Brodka. Frau Collin brauche ich Ihnen ja nicht namentlich vorzustellen.«
Irritiert, als wüßte er wirklich nicht, was die Besucher von ihm wollten, öffnete Keyserling umständlich die Flasche. Als er die Gläser gefüllt hatte, erkundigte er sich vorsichtig: »Was habe ich mir denn … angeeignet, das Ihnen gehört?«
»Der Inhalt des Schließfachs 101 im Tresorraum des Hotels Excelsior in Rom.«
Keyserling ergriff sein Glas, schüttelte kurz den Kopf und trank es in einem Zug leer. Dann knallte er das leere Glas auf den Tisch. »Sie werden mir lästig, Herr …«
»Brodka.«
»Und was haben Sie mit diesem gottverdammten Schließfach zu schaffen? Es gehörte Arnolfo Carracci, Fasolinos Hausdiener.«
Brodka wurde lauter. »Die Verhältnisse im Hause Fasolino sind uns hinreichend bekannt. Es geht darum, daß Sie sich den Inhalt des Schließfachs widerrechtlich angeeignet haben!«
»Widerrechtlich? Daß ich nicht lache! Ich habe zehn Millionen Lire dafür bezahlt.«
»Was?«
»Ja! An Baldassare Cornaro, Arnolfos Neffen. Dafür gab er mir einen Schlüssel und das Versprechen, in dem Schließfach belastendes Material gegen Fasolino vorzufinden.« Keyserling erhob sich und verließ das Zimmer.
Brodka fiel es wie Schuppen von den Augen. »So ein Gauner, dieser Baldassare! Hättest du das von dem Kerl gedacht?«
Keyserling kehrte zurück und hielt einen Schlüssel in der Hand, eine perfekte Kopie, wenn auch ohne die Gravuren des Originals. »Ich hatte gehofft, belastendes Material gegen Fasolino vorzufinden – jedenfalls behauptete das Baldassare. Ich wollte es diesem Fasolino heimzahlen, daß er mich mehrfach um mein Geld betrogen hat. Statt dessen hat Baldassare mich betrogen. Wie es scheint, tauge ich eben doch nicht zum Gauner.«
»Inwiefern hat Baldassare Sie betrogen?« fragte Juliette. »Was war denn in dem Schließfach?«
Keyserling verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als bereitete ihm der Gedanke daran körperlichen Schmerz. »Ich hoffte auf kompromittierende Fotos, Belege oder Verträge, die ausgereicht hätten, Anzeige gegen Fasolino zu erstatten. Statt dessen enthielt das Schließfach ein Päckchen mit …« Er schüttelte den Kopf. »Sie würden nie darauf kommen.«
»Mikrokassetten.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Keyserling verdutzt.
»Ganz einfach«, entgegnete Brodka, »von Arnolfo Carracci. Er hat uns das Material noch zu Lebzeiten verkauft.«
»Carracci?«
»Carracci. Leider war sein Herz der Aufregung nicht gewachsen. Das Geld bekam sein Neffe Baldassare.«
»Können Sie das beweisen?«
Brodka und Juliette schauten sich an. Ohne ein Wort zu sagen, erhob sich Juliette und ging hinaus zu dem wartenden Hotelportier.
Als Keyserling Marco erkannte, rief er: »Also gut, ja gut, ist schon gut! Sie haben gewonnen.«
Nun war es an Brodka, Keyserling zu beruhigen. »Ich mache Ihnen nicht einmal einen Vorwurf. Der Gauner ist Baldassare Cornaro. Marco wird Ihnen bestätigen, daß wir Baldassare ebenfalls bezahlt haben. Dafür erhielten wir den Safeschlüssel. Im Gegensatz zu Ihnen jedoch das Original.«
Marco nickte zustimmend. Dann starrte der alte Mann Keyserling an. Seine Miene verfinsterte sich. Sein Mund wurde schmal wie ein Strich. Man sah, wie die Wut in ihm hochstieg. »Das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Signore«, sagte er schließlich. »Sie haben die Gefühle eines Mannes, der seinen ältesten Freund zu Grabe getragen hat, schamlos ausgenützt. Ich habe Ihnen vertraut, als Sie sagten, Sie seien ein Freund Arnolfos. Vergogna! Pfui Teufel!«
Es hätte nicht viel gefehlt, und Marco hätte auf den Boden gespuckt.
Walter Keyserling zeigte sich ehrlich zerknirscht. »Ich habe das nicht geplant, wirklich nicht«, murmelte er. »Es ergab sich so. In meiner Wut auf Fasolino sah ich nur diese Möglichkeit, mich an ihm zu rächen.«
»Und?« fragte Brodka. »Werden Sie sich an Fasolino rächen?«
Keyserling winkte ab. »Bestimmt nicht mit Hilfe der Kassetten aus dem Schließfach. Die sind nämlich wertlos. Geschieht mir ganz recht.«
»Wertlos?« Juliette sprang auf; sie konnte ihre Erregung nicht mehr verbergen. »Sie lügen!«
»Auch ich habe mir mehr davon versprochen, das können Sie mir glauben. Auf den Kassetten sind nur Mitschnitte von Telefongesprächen zwischen Fasolino und Leuten, die ich nicht kenne. Und was den Inhalt völlig unbrauchbar macht – sie sprechen in Rätseln, benutzen fremde Namen und Begriffe und nennen vielfach Bibelstellen, denen wohl irgendeine Bedeutung anhaftet. Ein gewisser Asmodeus taucht dabei am häufigsten auf. Er erteilt die unsinnigsten Befehle. Ich kann Ihnen gerne die Bandaufnahmen überlassen. Ich befürchte nur, Sie können damit ebensowenig anfangen wie ich.«
Keyserling erhob sich und ließ die staunenden Besucher zurück. Juliette blickte Brodka hilflos an. »Glaubst du, Arnolfo Carracci wollte uns betrügen?«
Das wollte Marco, der bisher schweigend zugehört hatte, nicht auf seinem Freund sitzenlassen. »Für Arnolfo lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Nein«, erwiderte Brodka, »das kann ich mir auch nicht vorstellen. Arnolfo wußte eine ganze Menge. Denk an unser Treffen im Campo Santo, Juliette. Der Treffpunkt war mit Bedacht gewählt. Nach allem, was wir gerade gehört haben, halte ich es durchaus für möglich, daß Arnolfo noch einen zweiten Schlüssel bei sich trug, allerdings in seinem Kopf.«
»Du meinst, er wollte uns mitteilen, was sich hinter den Namen und Begriffen verbirgt, damit sie einen Sinn ergeben?«
»Genau das.«
»Dann frage ich mich allerdings, welchen Grund hatten Fasolino und seine Kumpane, nicht Klartext zu reden? Und warum ließ Fasolino bei seinen Telefongesprächen ein Aufzeichnungsgerät mitlaufen?«
Brodka zuckte die Achseln. »Arnolfo sagte, es sei eine Marotte von Fasolino, nichts weiter. Und was die Verschlüsselung betrifft, ist die Antwort ebenso einfach: Botschaften, die jeder hören darf, braucht man nicht zu verschlüsseln.«
Juliette blies sich die Haare aus dem Gesicht – bei ihr stets ein Zeichen von Aufregung. »Also arbeitet Fasolino für eine geheime Organisation«, meinte sie.
Brodka lachte gekünstelt. »Hast du daran gezweifelt?«
Inzwischen war Keyserling mit dem Paket zurückgekehrt, in dem sich die Mikrokassetten befanden, und legte es auf den Tisch. Wortlos nahm er eine der Kassette heraus und legte sie in den Anrufbeantworter ein, der seitlich auf einer Anrichte stand.
»Belphegor«, quäkte eine unbekannte Stimme durch den Raum, »heute kein Treffen – Lukas 2,26 – verschoben morgen – Belphegor.«
Keyserling spulte das Band zurück und ließ es ein zweites Mal ablaufen. Die Stimme klang kalt, beinahe künstlich und jagte jedem im Raum Schauer über den Rücken.
»Kennt jemand die Stimme? Oder Lukas 2,26?« fragte Keyserling, während er die Kassette erneut zurückspulte und ein drittes Mal abspielte.
»Die Stimme habe ich nie gehört«, beteuerte Marco, der alte Portier, dem das alles am meisten an die Nieren ging. »Und die Bibelstelle kenne ich nicht. Einer von Ihnen vielleicht?«
Brodka schüttelte den Kopf. Ebenso Juliette.
Keyserling spielte noch weitere Anrufe auf der Kassette vor, die nicht weniger verwirrend oder nichtssagend waren. Einmal meinte Juliette Fasolinos Stimme zu erkennen; doch Keyserling war sicher, daß sie sich täusche.
»Sehen Sie«, meinte Keyserling an seine Gäste gewandt, »Sie können damit ebenso wenig anfangen wie ich.«
»Und nun?« fragte Juliette ungeduldig.
»Sie sagten«, wandte Brodka sich an Keyserling, »daß Sie uns die Kassetten überlassen.«
»Ja. Nehmen Sie sie mit«, erwiderte der Gefragte mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich kann beim besten Willen nichts Belastendes gegen Fasolino finden.«
Brodka hatte soviel Großzügigkeit nicht erwartet, und Keyserling entging das erstaunte Gesicht seines Besuchers nicht. »Schließlich haben wir beide denselben Gegner«, meinte er, »und wenn das Material Ihnen in irgendeiner Weise von Nutzen ist, Fasolino zu schaden, hat es auch für mich seinen Zweck erfüllt.«
Keyserling nahm die Kassette aus dem Anrufbeantworter, legte sie zu den übrigen zurück und reichte Brodka das Paket.
»Wenn ich Ihnen noch einen Tip geben darf«, meinte er, als die Besucher sich verabschiedeten, »Fasolino verfügt über gute Verbindungen zur römischen Kurie. Er behauptet zwar, es seien alte Familienbande, aber das halte ich für eine Lüge. Fasolino ist ein Hehler, und das schon ein Leben lang.«
Für die Rückfahrt nahm Marco die Straße über Terracina und weiter auf der Via Appia nach Rom. Ihr Ziel war Baldassares Pizza-Service in der Via Sale.
Offensichtlich hatten Brodka und Juliette Baldassare unterschätzt. Sie hatten ihn für einen rechtschaffenen Menschen gehalten, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug und seine Chance sah, einmal im Leben ein großes Geschäft zu machen. Aber daß er dieses Geschäft mit frommem Blick gleich zweimal machte, war des Guten zuviel.
Kurz vor Einsetzen des abendlichen Berufsverkehrs erreichten sie Rom. Marco, der sich an dem Gespräch über den Neffen seines alten Freundes beteiligt hatte, meinte: »Wissen Sie, in jedem Italiener steckt ein Gauner, mal ein kleiner, mal ein großer. Man weiß nur nie, an wen man gerät. Was erwarten Sie von einem Volk, von dem drei Exministerpräsidenten vor Gericht stehen und über 30.000 Bürger eine Rente beziehen, obwohl sie seit Jahren tot sind?«
In Baldassares Pizza-Service herrschte Aufregung und Geschirrgeklapper, obwohl der abendliche Ansturm noch nicht eingesetzt hatte.
»Wo ist Baldassare?« fragte Brodka, als er zusammen mit Juliette und Marco den kleinen Laden betrat.
Ein Pizzabäcker in tadelloser weißer Kleidung lachte über das ganze Gesicht und erwiderte: »Kein Baldassare, jetzt Domenico!«
»Was soll das heißen?«
»Baldassare hat verkauft. Er ist ein reicher Mann, Signore. Ist nach Catania verzogen. Ab heute heißt dieses Geschäft ›Domenicos Pizza-Service‹. Sie verstehen?«
Da gab es nicht viel zu verstehen. Brodka sah, daß sich der alte Hotelportier ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Und hätte Brodka nicht immer noch Wut im Bauch gehabt – er hätte mitgelacht.
Mittwochmorgen gegen 6 Uhr 15 zerriß eine Bombe einen dunkelblauen Volvo, der in der Via Certosa abgestellt war, in tausend Stücke. Es können auch zweitausend oder mehr gewesen sein, wobei die entsprechenden Teile der Autos, die in derselben Reihe geparkt waren, jedoch in Abzug gebracht werden müssen.
So jedenfalls protokollierte die römische Polizei den kriminellen Anschlag, der – nach bester Mafia-Manier – offenbar niemanden töten, aber als deutliche Warnung betrachtet werden sollte.
Nun sind explodierende Autos in Italien zwar nicht an der Tagesordnung, aber auch keine so große Seltenheit. Dieser Fall jedoch hatte es in sich, und zwar in vielfacher Hinsicht. Da war zum einen der Besitzer des Wagens. Es handelte sich dabei nicht etwa um einen der Polizei bekannten oder auch unbekannten Mafioso, sondern um Kardinalstaatssekretär Smolenski, den zweithöchsten Mann der römischen Kurie. Nur eine Viertelstunde später, so erklärte der Kardinal aufgelöst, und ihn hätte auf dem Weg zur Frühmesse der Tod ereilt. Wie die meisten Kardinäle hatte auch Smolenski ein Privatleben und ein Apartment in der Stadt.
Von der Suche nach Motiv und Täter einmal abgesehen, warf die Explosion zwei Fragen auf. Die erste bezog sich auf ein Dutzend Goldfische, welche neben den Trümmern auf dem Pflaster gefunden wurden; die zweite Frage erhob sich, als unter angesengten und verbogenen Metallstücken Einzelteile eines Gemäldes von Leonardo da Vinci zum Vorschein kamen. Zusammengesetzt ergaben die auf Holz gemalten Puzzleteile jenes Bild des heiligen Hieronymus, das sich einst im Besitz der Malerin Angelika Kauffmann befunden hatte und in den Wirren seiner Geschichte zerteilt worden war, bis man die eine Hälfte an einen alten Geldtresor geschraubt entdeckte, die andere als Sitzfläche eines Schusterschemels.
Auf diese Weise geriet die Frage, welcher Schurke dem Kardinal nach dem Leben trachtete, in den Hintergrund, und die italienischen Zeitungen gaben sich in Bezug auf die Goldfische und das Gemälde wilden Spekulationen hin, so daß Kardinal Smolenski sich nach zwei Tagen genötigt sah, sein Schweigen, das er sonst als Lebensaufgabe betrachtete, zu brechen.
In der wöchentlichen Pressekonferenz der Kurie, in welcher stundenlang zu Synoden, Heiligsprechungsprozessen, Enzykliken, Frauenordination und Ökumenismus Stellung bezogen wird, verstieg sich der Kardinalstaatssekretär zu zwei viel beachteten Aussagen, die das Wohl der Kirche eigentlich nur am Rande berührten.
Kardinalstaatssekretär Smolenski outete sich in dürren, knappen Worten als Aquarianer, wie Liebhaber von in Glaskästen schwimmenden Fischen sich selbst bezeichnen. Er habe die Fische am Vorabend gekauft und im Wagen gelassen, um sie am nächsten Tag mit in sein Büro im Vatikan zu nehmen. Soviel zu den Fischen.
Bei den Einzelteilen, die zusammengesetzt ein Gemälde Leonardos ergäben, handle es sich natürlich um eine Kopie. Das Original hänge, für jedermann sichtbar, weiterhin im Leonardo-Saal Nr. IX der Vatikanischen Museen. Er selbst, so Smolenski, habe die Kopie als Geschenk für einen Freund geistlichen Standes in Auftrag gegeben.
Wer sah, wie Kardinal Smolenski zweimal pro Woche ein Dutzend Goldfische in einer durchsichtigen Plastiktüte nach Hause trug, hätte ihn durchaus für einen guten Menschen halten können. Aber das war nur der Schein – und der Schein trügt bekanntlich, besonders der fromme. Denn der Kardinalstaatssekretär leerte zweimal pro Woche die Tüte mit den Goldfischen in ein zweihundert mal fünfzig mal siebzig Zentimeter messendes Aquarium hungriger Piranhas und verfolgte stumm und gottgefällig den Lauf der Natur, bis nur noch Gräten übrig waren.
Und was den in die Luft geflogenen Leonardo da Vinci betraf – eine Kopie, wie Smolenski behauptete –, so erschien die Erklärung des Kardinalstaatssekretärs ziemlich fadenscheinig, und in einem Kommentar des ›Messaggero‹ wurde unverblümt die Frage gestellt, warum der zweithöchste Mann der römischen Kurie mit einer Kopie von Leonardo da Vinci im Kofferraum durch die Straßen Roms fährt.
Natürlich verfolgten Brodka und Juliette den Fall in den Zeitungen. Und als zum erstenmal der Name Smolenski Erwähnung fand, wurde Brodka hellhörig. Mit einem Mal kam in seinem Gedächtnis die Erinnerung an jenen Brief seiner Mutter hoch, den sie ihrer Freundin Hilda Keller geschrieben und den er von Hildas Mann zurückerhalten hatte. In dem Brief hatte Claire Brodka geschrieben, Kardinal Smolenski sei ein Teufel.
Dieser Kardinal Smolenski?
Brodka konnte sich ausrechnen, daß so viele Kardinäle mit Namen Smolenski nicht auf dieser Erde wandelten, und so stand zu befürchten, daß Smolenski tatsächlich die Schlüsselfigur jener Ereignisse war, die ihn und Juliette an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten.
Titus, der zwielichtige Typ, von dem Brodka bis heute nicht wußte, was seine eigentlichen Absichten waren, hatte damals in Wien davon geredet, daß es im Vatikan eine geheime Organisation gebe, eine heilige Mafia, die den Milliarden-Konzern der Gläubigen lenke.
Was immer an Titus' Aussagen wahr oder gelogen sein mochte, mehrere Anzeichen sprachen dafür, daß er recht hatte. Der Fälscherskandal, in den Juliette verwickelt war, bestätigte diese Annahme. Doch was den Tod seiner Mutter betraf, hatte Brodka nicht die geringste Vorstellung, welche Zusammenhänge zwischen ihm und der Kurie bestehen könnten.
Brodka erstand in einem Elektronikladen in der Via Andreoli einen Anrufbeantworter, der das Abspielen der Tonbänder ermöglichte, und nun saßen er und Juliette stundenlang im Zimmer ihrer Pension und lauschten den verschlüsselten Mitteilungen. Und je mehr sie von dem Kauderwelsch auf den Kassetten hörten, desto unwahrscheinlicher erschien es ihnen, das Geheimnis der unterschiedlichen Codes je entschlüsseln zu können.
Fest stand, daß die Codes die Handschrift des organisierten Verbrechens trugen. Sie wurden mit höchster Raffinesse benutzt. Von Amateuren oder kleinen Gaunern konnte also keine Rede sein.
Nach zweimaligem Anhören aller zwanzig Kassetten – so viele hatten sie von Keyserling erhalten – begann Brodka mit der systematischen Auswertung. Er notierte häufig wiederkehrende Namen und Codewörter, ein mühseliges Unterfangen, da es sich zum größten Teil um nie gehörte Wörter und Begriffe handelte.
Juliette glaubte nach wie vor, in einem der Sprecher, der sich am Telefon Moloch nannte, Alberto Fasolino zu erkennen. Asmodeus und Belphegor schienen die zentralen Figuren der geheimen Organisation zu sein. Diesen Eindruck vermittelte jedenfalls die Häufigkeit ihrer Namen und ihr herrisches, selbstgefälliges Auftreten. Ein Adrammelech stand im gewissen Widerspruch zu Belphegor; nähere Umstände gingen aus den Bandaufnahmen jedoch nicht hervor. Als einzige weibliche Stimme tauchte Lilith auf, mehrmals sogar. Baalzebuth, Nergal und Belial waren offenbar von geringerer Bedeutung, versorgten Fasolino jedoch mit geheimnisvollen Aufträgen. Ein- oder zweimal kamen noch weitere Codenamen vor, die Brodka aus akustischen Gründen aber nicht aufzeichnen konnte.
Erschöpft meinte Juliette nach sechsstündiger Arbeit vor dem quäkenden Anrufbeantworter: »Jetzt weißt du, warum Keyserling uns die Kassetten so bereitwillig überlassen hat.«
Brodka nickte stumm und wiederholte zum x-tenmal eine Aufzeichnung von Asmodeus' Stimme, welche unverständliche Aufträge vergab.
»Fällt dir an dieser Aufnahme etwas auf?« fragte er und blickte Juliette an.
»Ja, natürlich. Der eigenartige Glockenschlag im Hintergrund.«
»Ein ungewöhnlicher Vierklang, findest du nicht?«
»Ja, höchst eigenartig. Was hat das zu bedeuten?«
»Der Glockenschlag an sich hat gewiß überhaupt nichts zu bedeuten. Er könnte für uns allerdings ein Hinweis auf den Ort sein, an dem sich der Anrufer zur Zeit seines Gesprächs mit Fasolino befand.«
Noch während er sprach, nahm Brodka die Kassette aus dem Gerät und legte eine andere ein. Wieder meldete sich Asmodeus mit einem verschlüsselten Auftrag, diesmal mit einem Zahlencode. Irgendwie hörte die ganze Sache sich ein wenig albern an, so als würden erwachsene Männer Geheimdienst spielen, und es erinnerte an die Zeit des Kalten Krieges, als weibliche Stimmen des Staatssicherheitsdienstes der DDR, auf Langwelle und überall in Europa vernehmbar, mit Eiseskälte und einem Zahlencode Botschaften an ihre Agenten übermittelten. Allerdings fehlte diesen Übertragungen der ungewöhnliche Glockenklang, der auch in dieser Aufnahme Asmodeus' zu hören war.
»Da!« sagte Juliette und hob den Zeigefinger. »Kein Zweifel, zumindest diese beiden Anrufe kamen vom selben Ort.«
Brodka spielte weitere Aufnahmen mit Asmodeus' Stimme ab. Bei diesen jedoch fehlte das Hintergrundgeräusch.
»Kirchenglocken läuten halt nicht den ganzen Tag«, bemerkte Brodka enttäuscht.
Juliette, mit den Nerven am Ende, fragte seufzend: »Und was gedenkst du jetzt zu tun, nach dieser tiefgreifenden Erkenntnis?«
»Das will ich dir sagen.« Brodka erhob sich und schlug, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich werde tun, was alle Dechiffrierer der Welt in einer solchen Situation tun würden. Ich höre mir die Bandaufnahmen so lange an, bis mir die Idee kommt, was sich dahinter verbergen könnte. So einfach ist das.«
»Einfach? Ohne mich!« Juliette sprang auf und stampfte im Zimmer auf und ab. »Brodka, merkst du eigentlich, daß wir uns langsam aber sicher am Rand des Wahnsinns bewegen? Daß wir schon nicht mehr normal denken, normal reden, daß unsere Handlungen Paradebeispiele für jeden Psychiater sind? Vielleicht haben diese Leute es genau darauf abgesehen. Vielleicht wollen sie, daß wir im Irrenhaus enden. Aber es liegt an uns, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Laß uns Schluß machen. Laß uns irgendwo anders hingehen und ein neues Leben anfangen. Das hier ist kein Leben. Das ist Selbstmord auf Raten!«
Brodka verfolgte Juliettes Worte und ihre heftigen Bewegungen mit nachdenklicher Miene. Vom Gefühl neigte er sogar dazu, ihr Recht zu geben. Gleichzeitig aber sagte sein Verstand etwas anderes. Und der formulierte auch seine Antwort: »Juliette, seit Monaten rennen wir gegen eine Gummiwand. Jetzt ergeben sich zum erstenmal konkrete Anhaltspunkte, wer hinter dem Komplott stehen könnte. Arnolfo Carracci hat uns brisantes Material zugespielt. Ich bin überzeugt, er konnte die verschiedenen Codes entschlüsseln; dann wären wir heute schon weiter. Daß Arnolfo ein Betrüger war, glaube ich nicht. Dafür hatte er ein zu gutes Motiv – das einzige Motiv, das sogar die Gier nach Geld übertrifft, und das ist der Wunsch nach Rache. Juliette, ich kann jetzt nicht aufgeben. Wenn es dir zu gefährlich wird, hätte ich Verständnis dafür, wenn du zurück nach München fährst.«
Da fiel Juliette ihm um den Hals. »Es war nicht so gemeint, Brodka. Verzeih mir, aber an Tagen wie diesen weiß ich vor Verzweiflung nicht weiter. Dann kommt es mir vor, als hätte die ganze Welt sich gegen uns verschworen.«
Sie krallte die Nägel in Brodkas Rücken, daß es ihn schmerzte, klammerte sich an ihn wie ein Kind, das Angst vor dem Unbekannten, Bösen hat.
Aber trotz ihrer Verwirrtheit sprach Juliette aus, was ihr schon lange auf dem Herzen lag: »Und was das Schlimmste ist … am meisten leidet unsere Liebe darunter.«
Der Satz stand wie ein Menetekel im Raum. Er wirkte lange in Brodkas Innerem nach, bevor er die Sprache wiederfand.
Schließlich rang er sich zu der Antwort durch: »Was mich betrifft, hat sich an meiner Zuneigung zu dir nichts geändert. Juliette, ich liebe dich. Und wenn ich es nicht so zeige wie früher, hat es mit der verdammten Situation zu tun, in die wir gedrängt wurden.«
Minutenlang lagen sie sich wortlos in den Armen. Schließlich löste sich Brodka von Juliette und sagte mit müder Stimme: »Ich wüßte auch Besseres, als in einem ungemütlichen Hotelzimmer blödsinnige Tonbandkassetten anzuhören.«
Juliette ließ sich in dem einzigen Sessel nieder, der das Zimmer mit dem Charme der sechziger Jahre zierte, und lehnte sich zurück. Sie dachte nach. »Wir sollten unsere Aufgaben teilen«, meinte sie schließlich. »Ich fühle mich seit längerer Zeit als Anhängsel. Aber ich bin durchaus in der Lage, eigene Aufgaben zu übernehmen.«
»Du könntest versuchen, herauszufinden, wer sich hinter diesen Decknamen verbirgt«, erwiderte Brodka und nahm von dem Tisch, auf dem der Anrufbeantworter stand, einen Zettel mit den verschlüsselten Namen. »Vielleicht haben alle Namen eine bestimmte Bedeutung. Jedenfalls glaube ich nicht, daß es sich um reine Phantasienamen handelt. Moloch, zum Beispiel. Wenn ich mich nicht täusche, war das irgendein Götze aus dem Vorderen Orient. Offenbar sind die Drahtzieher der geheimen Organisation ziemlich gebildete und wahrscheinlich intelligente Leute. Mafiosi tragen andere Bezeichnungen. Sie werden Padrone oder Boß oder Capo genannt und haben allenfalls Spitznamen. Einen Namen wie Adrammelech würde sich kaum einer merken können.«
Juliette betrachtete die Namen auf dem Zettel: Asmodeus, Belphegor, Moloch, Adrammelech, Lilith, Baalzebuth, Nergal und Belial.
Und wo, bitte schön, soll ich die Bedeutung der Namen erfragen, wollte Juliette fragen, biß sich dann aber auf die Unterlippe. Sie wollte sich vor Brodka nicht blamieren.
Doch der schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte: »Ich weiß auch nicht, wie du am besten an die Informationen kommst. Aber du bist doch ein kluges Mädchen …« Dann setzte er sich wieder an das Aufzeichnungsgerät und legte die nächste Kassette ein.
Juliette steckte den Zettel in die Tasche ihrer Jeans, warf sich ihren dunklen Blazer über die Schultern und verabschiedete sich mit einem Kuß auf Brodkas Wange.
Vor dem Albergo Waterloo überlegte sie, wohin sie gehen sollte, aber dann schob sie ihre Vorbehalte beiseite und machte sich auf den Weg zum Zeitungsarchiv des ›Messaggero‹. Sie nahm sich vor, Claudio von oben herab zu behandeln, rein geschäftsmäßig. Dennoch konnte sie nicht verhehlen, daß der Junge sie noch immer anzog.
Mit gespielter Gleichgültigkeit, so wie sie es sich vorgenommen hatte, betrat Juliette das Archiv und steuerte schließlich auf Claudio Sotero zu, den sie allerdings erst auf den zweiten Blick erkannte, denn er hatte sein langes, im Nacken zusammengebundenes Haar einer extremen Kurzhaarfrisur geopfert.
Claudio erschrak, als er Juliette sah, und blieb wie angewurzelt vor einem Bildschirm sitzen.
Juliette grüßte höflich. So als wäre nichts zwischen ihnen gewesen, sagte sie: »Ich habe eine Bitte. Die sieben Namen auf diesem Zettel haben vermutlich allesamt eine historische Bedeutung. Könntest du mir weiterhelfen?« Dabei schob sie Claudio den Zettel hin.
Claudio, der nun viel älter aussah, als Juliette ihn in Erinnerung hatte, starrte sie immer noch an und wagte nicht zu antworten.
»Hast du nicht verstanden?« sagte Juliette laut und nachdrücklich, daß es auch die anderen Archivare hörten und aufmerksam wurden.
Da erhob er sich, trat ganz nahe an sie heran und flüsterte: »Giulietta, es tut mir so leid! Ich weiß, mein Benehmen ist unentschuldbar. Bitte, laß dir erklären …«
»Ich bin nicht hier, um Entschuldigungen anzunehmen oder alte Rechnungen zu begleichen«, erwiderte Juliette kühl. »Ich brauche eine Auskunft. Die Sache ist wichtig. Außerdem habe ich es eilig.«
Claudio entgegnete im Flüsterton: »Ich verstehe ja, daß du wütend auf mich bist und weiß, daß ich alles kaputtgemacht habe; aber laß mich wenigstens erklären, wie es dazu kam.«
»Die einzige Erklärung, die mich interessiert, ist die Bedeutung dieser Namen. Wenn du nicht bereit bist, mir weiterzuhelfen, versuche ich's bei einem deiner Kollegen.«
»Nein, nein, Giulietta!« Claudio wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, als wäre er bei der kurzen Unterhaltung ins Schwitzen gekommen. Dann nahm er den Zettel und gab die einzelnen Namen in seinen Computer ein. Doch nach jedem Namen folgte ein Kopfschütteln.
Nur bei Moloch und Nergal wurde er fündig. »Zwei Götter aus dem alten Orient, ein phönizischer und ein babylonischer.«
»Und die übrigen?« fragte Juliette.
»Keines von unseren historischen Nachschlagewerken führt diese Namen auf. Aber wenn es sie gibt, werde ich sie finden.«
Claudio bearbeitete die Tastatur seines Computers wie ein Besessener und klickte sich von einem Speziallexikon zum nächsten.
Als würde sie die Sache nichts angehen, begab Juliette sich zu einem Kaffeeautomaten im Gang und besorgte sich einen Cappuccino im Pappbecher. Als sie ins Archiv zurückkehrte, fiel ihr sofort Claudios strahlendes Gesicht auf.
»Volltreffer!« rief er ihr schon von weitem zu. »Alle Namen sind in einem alten Lexikon der Magie aufgeführt. Es sagt nicht viel über sie aus, aber immerhin. Eine seltsame Gesellschaft!«
Er schob Juliette einen Zettel hin, und sie las staunend:
Belphegor | ›der mit der schönen Gestalt‹, ein Dämon, den der Überlieferung nach die Templer in geheimen Riten verehrten |
Asmodeus | Teufel der Wollust, Sinnlichkeit und des Luxus in der jüdischen Tradition |
Moloch | der alles verschlingende Gott der Phönizier und Kanaaniter, ein Fürst der Hölle |
Adrammelech | Götze der Samariter, dem Kinder geopfert wurden |
Lilith | erste Frau Adams, von Gott aus Dreck und Schlamm geschaffen, ursprünglich geflügelte assyrische Dämonin |
Baalzebuth | ›der Herr der Fliegen‹, eigentlich ein Gott der Philister, im Mittelalter als oberster Teufel der Hölle angesehen |
Nergal | der Geduckte, Herr des Krieges, der Pest, der Flut und der Zerstörung, ursprünglich babylonischer Gott der Unterwelt |
Belial | ›der Wertlose‹, Herr der Lügen, spricht mit täuschend sanfter Zunge |
»Mein Gott«, murmelte Juliette geistesabwesend.
Claudio blickte zu ihr auf. »Also, mit Gott hat das wenig zu tun. Es sind alles Teufel.«
Juliette bedankte sich förmlich, als wären sie sich völlig fremd, und fragte provozierend: »Was bin ich für die Auskunft schuldig?«
Die Frage kränkte Claudio, und er blickte zornig und betroffen zu Boden, ohne zu antworten.
Juliette wandte sich um und ging.
Doch kaum war sie am Ausgang des ›Messaggero‹ angelangt, hatte Claudio sie eingeholt. Er stellte sich ihr in den Weg und redete heftig auf sie ein. »Ich weiß, Giulietta, du hast allen Grund, mich so zu behandeln. Aber laß dir bitte erklären, wie es dazu kam. Das macht die peinliche Begegnung zwar nicht ungeschehen, aber vielleicht kannst du mir dann doch noch verzeihen. Bitte!«
Juliette versuchte sich an Claudio vorbeizudrängen, doch er ließ sich nicht abschütteln.
»Da gibt es nichts zu erklären und zu verzeihen«, sagte sie kühl. »Es war ein Irrtum meinerseits, basta. Wir sollten der Angelegenheit nicht mehr Bedeutung schenken, als sie verdient. Und jetzt geh mir bitte aus dem Weg!«
Die Kälte, mit der Juliette ihm begegnete, brachte Claudio zur Verzweiflung. In der Aufregung fehlte es ihm an den passenden Worten; aber vermutlich wären auch die passenden Worte unter den gegebenen Umständen nutzlos gewesen, da Juliette in ihrem gekränkten Stolz nur eines wollte: Claudio demütigen.
Der gab schließlich den Weg frei. Doch bevor Juliette auf die Via del Tritone trat, rief er ihr hinterher: »Ich werde morgen um sieben in unserem Lokal an der Piazza Navona auf dich warten, Giulietta. Wenn es sein muß, die ganze Nacht!«
Juliette tat so, als hätte sie ihn nicht verstanden.
Die Zustände in Collins Privatklinik hatten inzwischen ein Ausmaß erreicht, daß Dr. Nicolovius sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, den Klinikbetrieb einzustellen. Dies brachte er in einem Brief zum Ausdruck, den er mit der Bitte um dringende Stellungnahme an Juliette nach Rom schickte.
Collin nahm beinahe den gesamten Klinikbetrieb für sich in Anspruch, und seit er sich immer besser verständlich machen konnte, betrachtete er sich wieder als Leiter der Klinik. An manchen Tagen war der gelähmte Professor nur zu ertragen, wenn er mit Cognac abgefüllt war – zur Linderung der Schmerzen, wie er sich herausredete.
Auf den Gängen und in den Zimmern der Klinik herrschte Angst. Angesichts eines gelähmten Mannes im Rollstuhl mochte sich das grotesk anhören; aber Collin benützte seinen Rollstuhl als Waffe. Er weigerte sich, zur Nachtzeit das Bett aufzusuchen, denn er fand ohnehin nur minutenweise Schlaf. Im übrigen bedeutete das Bett für ihn absolute Hilflosigkeit. Deshalb bestand er darauf, die Nächte in seinem Rollstuhl zu verbringen. Heimlich und wie ein Schatten fuhr er dann die Gänge der Klinik auf und ab, lauschte an Türen oder polterte dagegen, und weder Oberarzt Dr. Nicolovius noch die kräftigen Pfleger vermochten ihm Einhalt zu gebieten.
Was wirklich in ihm vorging, wußte niemand. Es schien, als hätte er sich mit seinem Zustand abgefunden und als wären der Suff und der Sadismus, mit dem er seine Umgebung terrorisierte, zu seinem Lebensinhalt geworden.
Um so mehr verblüffte der plötzliche Wandel in seinem Verhalten. Von einem Tag auf den anderen verhielt Collin sich auffallend zurückhaltend. Zwar schien er noch immer gegenwärtig zu sein, überall, Tag und Nacht, doch seine herrischen Befehle blieben aus, und mit einem Mal lenkte er sogar seinen teuflischen Rollstuhl umsichtig und mit Bedacht durch die Gänge.
Nicolovius, dem der Wandel zuerst auffiel, führte dies auf die jüngste Untersuchung des Professorenkollegen zurück, der Collin nach dem verhängnisvollen Unfall behandelt hatte und sich mit dem Zustand seines Patienten zufrieden zeigte. Jedenfalls in Anbetracht der schweren Verletzungen, wie er sich ausdrückte. Daß Collin jemals wieder Arme oder Beine bewegen könnte, daran sei ohnehin nicht zu denken.
Von seinem Oberarzt wurde Collin gegen 22 Uhr mit dem geforderten Quantum Alkohol versorgt; dann verabschiedete er sich. Collin bat Nicolovius noch, er möge das ›Warschauer Konzert‹ in seinen Walkman einlegen, ihm die Kopfhörer aufsetzen und wie immer die Tür seines Zimmers offenstehen lassen.
Allein mit sich und seiner Lieblingsmusik, verharrte Collin lange Zeit regungslos. Dann setzte er mit dem Löffel vor seinem Mund den Rollstuhl in Bewegung. Behutsam, als wäre er darum bemüht, ja niemanden zu stören, fuhr er aus dem Zimmer und steuerte das Fahrzeug den Gang entlang.
Vor dem Treppenhaus angelangt, wendete er den Rollstuhl. Das Quietschen, das die Gummiräder auf dem Fußboden verursachten, erschreckte ihn, so daß er einen Augenblick stehenblieb und wartete. Dann steuerte er den Rollstuhl zurück bis zur Tür seines Zimmers und wendete erneut.
Minutenlang verharrte Hinrich Collin, den Blick starr nach vorn auf ein imaginäres Ziel gerichtet. Langsam glitt seine Kinnlade herab. Mit geöffnetem Mund schnappte er nach dem Löffel, mit dem er seinen Rollstuhl steuerte; dann drückte er den Hebel des Elektromotors bis zum Anschlag nach vorn.
Der Rollstuhl beschleunigte seine Fahrt. In Gedanken hatte Collin seinen Plan schon hundertmal in die Tat umgesetzt. Jetzt kannte er nur noch eine Angst: daß dieser Plan scheitern könnte.
Nach der Hälfte des Weges hatte das schwere Gefährt, auf das er geschnallt war, eine so hohe Geschwindigkeit erreicht, daß nur ein Lenkfehler es noch aus der Bahn hätte werfen können. Collin hielt sich starr, als wäre sein Nacken aus Eisen gegossen.
Er wagte keinen Blick zur Seite auf eine der vorüberhuschenden Türen, hinter denen andere tragische Schicksale ihren Lauf nahmen. Längst war ihm der Gedanke fremd geworden, daß diese Klinik sein Werk war; daß er dies alles aufgebaut hatte. Das zählte nicht mehr. In seinem Inneren war alles geordnet, alles geregelt. Er mußte sich eingestehen, daß er gescheitert war. In jeder Beziehung gescheitert.
Hinrich Collin war kein Mann, der Mitleid ertragen konnte. Für ihn war Mitleid eine Vokabel kleiner Leute. Er konnte gut damit leben, gehaßt zu werden – bemitleidet werden wollte er nicht. Und er wollte kein Bittsteller sein müssen. Er wollte nicht dankbar sein müssen. Er wollte überhaupt nichts mehr. Deshalb hielt er den Steuerlöffel starr nach vorn gerichtet.
Seine letzte Wahrnehmung war ein Geräusch, ein furchtbares, durchdringendes Krachen, als der Rollstuhl in rasender Fahrt gegen das Geländer im Treppenhaus prallte, es durchbrach und ein paar Teile mit sich riß.
Das Fahrzeug überschlug sich, geriet in rollende Bewegung und nahm dabei soviel Schwung auf, daß es mit dem Vielfachen seines Eigengewichts landete, als es drei Stockwerke tiefer aufschlug.
Collins Kopf wurde auf den Steinboden geschmettert und zerplatzte wie ein mit Erde gefüllter Blumentopf.