Medusa

M edusa hatte sich ihre Mutter auf so unendlich viele verschiedene Weisen vorgestellt. Sie saß auf ihrem Lieblingsfelsen: Er war glatt und lag geschützt vor der sengenden Sonne im Schatten eines kleinen Vorsprungs. Seit ihre Beine so lang geworden waren, fiel ihr das Klettern leichter. Jeden Tag hockte sie dort oben und winkte ihren Schwestern zu, wenn sie in ihre Richtung blickten, damit sie wussten, dass sie in Sicherheit war. Medusa ging ihnen nicht direkt aus dem Weg, aber manchmal wollte sie allein sein, um über Dinge nachzudenken, ohne ihnen erklären zu müssen, was sie dachte oder warum.

Gelegentlich dachte sie auch an ihren Vater. Über ihn wusste sie mehr. Und außerdem brauchte sie nur Euryales Herde zu beobachten, um zu erkennen, dass die Mütter alles für ihre Kinder bedeuteten und die Lämmer im Gegenzug alles für ihre Mütter. Wurden sie getrennt, weil eines der Lämmer den Halt verlor, war ihre Not nicht zu übersehen. Euryale flog dann los, um dem gefallenen Lamm zu helfen und die Mutter wieder mit ihrem Nachwuchs zusammenzuführen, damit das verzweifelte Blöken aufhörte.

Darüber dachte Medusa nach, als sie hoch über den Wellen saß und auf das dunkle Meer hinausblickte. Wenn ein Schaf so hingebungsvoll zu seinen Jungen sein konnte, wo war dann ihre Mutter? Wusste sie nicht, wo Medusa war, oder war es ihr gleichgültig? Oder konnte sie ihre Tochter vielleicht sehen, etwa wenn Medusa auf diesem hohen Felsen saß?

Das Gorgonenmädchen blickte über den weiten Ozean und meinte zu fühlen, dass sie beobachtet wurde. Und das wurde sie auch. Aber nicht von ihrer Mutter.