D anaë zweifelte keinen Augenblick daran, dass ihr Vater Akrisios sie liebte. Deshalb hatte er sie so leicht in eine kleine, fast völlig dunkle Zelle mit dicken Wänden einsperren können. Er hatte ihr keinerlei Begründung gegeben, ihr weder erzählt, dass er das Orakel befragt, noch, was es ihm prophezeit hatte: Seine Tochter werde einen Sohn gebären, der eines Tages ihrem Vater das Leben nehmen werde. Akrisios war ein eitler Mann, der es stets genossen hatte, eine Tochter zu haben, und sich nie einen Sohn gewünscht hatte, auch wenn er das nicht zugab: Er hätte es nicht ertragen, zu sehen, wie sein eigener Körper an Kraft verlor, während der seines Sohnes an Kraft gewann. Aber eine Tochter war etwas anderes, und der Lauf der Zeit schmerzte ihn nicht so sehr, als er sie heranwachsen sah.
Er hatte das Orakel in gutem Glauben aufgesucht, so sagte er sich, weil er wissen wollte, ob er auch ohne Sohn einen Enkel haben würde, dem er sein Königreich Argos vermachen konnte. Seine Stadt war mächtig, und er war stolz darauf und verteidigte sie: Er wollte nicht sterben und sie in die Hände seines Bruders geben. Lieber würde er sie einem Fremden überlassen. Am liebsten aber seinen Erben. Und so war er auf den steinigen Pfaden nach Delphi geritten, hatte dem Gott und der Priesterin seine Opfergaben dargebracht und gefragt, was die Zukunft für ihn bereithalte. Und da hatte er hören müssen, dass der Sohn seiner Tochter ihn töten werde.
Akrisios verließ Delphi als gebrochener Mann. Als er langsam über die staubigen, steinigen Wege nach Hause ritt, fragte er sich, ob er es vielleicht lieber nicht gewusst hätte. Seine Tochter war unverheiratet; er hätte viele glückliche, sorgenfreie Jahre mit ihr verbringen können, solange noch kein Enkelkind geboren war. Vielleicht wäre er ja schon alt, wenn das Kind ihn schließlich tötete, alt und gebrechlich, mit wirren Gedanken, die nach Erlösung verlangten. Vielleicht wäre es ein Unfall: Das Pferd seines Enkels bäumte sich auf, weil der Ast eines Baumes, auf den das Kind geklettert war, herunterkrachte.
Akrisios’ Pferd trabte müde unter ihm weiter, während er sich ausmalte, wie er sterben könnte. Das Orakel hatte ihm nur scheinbar eine Antwort gegeben, jedoch damit eine viel größere Frage aufgeworfen. Er lauschte auf die Hufe seines Pferdes, die auf den Boden schlugen, und bei jedem Geräusch hörte er nur noch eine innere Stimme: wann, wann, wann . Als er sich seinem Heim näherte, hatte er seit drei Tagen kaum noch gesprochen. Er wollte nicht sterben, nicht jetzt, nicht bald, auf keinen Fall. Und so sperrte er seine Tochter ein – den einzigen Menschen, den er je geliebt hatte. Er sperrte sie in eine kleine Zelle unter seinem Palast, damit sie kein Kind zeugen konnte, das ihm schaden würde.
Danaë hörte diese Geschichte durch einen kleinen Spalt in den dicken Mauern ihrer Zelle. Ihr Dienstmädchen brachte ihr jeden Tag Essen, auf das ihre Tränen geflossen waren. Danaë wurde von allen geliebt, sogar von den Männern, die sie in die Zelle geführt und dort eingemauert hatten. Ihr Dienstmädchen befragte die Sklaven, die ihren Vater nach Delphi begleitet hatten, und erstattete dann seiner verwirrten Tochter Bericht. Hatte der König den Verstand verloren, hatte das Orakel diese grausamste aller Bestrafungen verlangt?
Allmählich verstand sie, dass die Todesangst ihres Vaters die Ursache ihres Unglücks war. Wegen dieser Angst hatte er stets seinen Bruder gehasst, denn wenn er seinen Zwilling ansah, sah er in sein Spiegelbild, mit allen Zeichen des Alterns. Und weil Danaë eine liebevolle Tochter und eine gutherzige Frau war, hatte sie Verständnis für ihren Vater. Niemand kann etwas für seine Ängste. Und Angst vor dem Sterben zu haben, musste besonders schrecklich sein. Sie wusste, dass Akrisios, der nie ein geselliger Mensch gewesen war, einsam sein musste, wenn er im Palast außer Sklaven niemanden zur Gesellschaft hatte und der einzige Mensch, den er je geliebt hatte, in einer Zelle unter seinen Füßen eingesperrt war. Und doch stellte sie fest, dass ihr Mitgefühl seine Grenzen hatte. Wie konnte ihr Vater solche Angst vor dem Tod haben, dass er sich weigerte zu leben? Und wie konnte er sich so sehr vor seinem eigenen Tod fürchten, dass er seine Tochter vorzeitig hinter Mauern begrub?
Danaë begann sich zu fragen, wie sie sich aus diesem Gefängnis befreien könnte. Die Sklaven zu bestechen, war der naheliegendste Plan. Doch dann erfuhr sie von ihrem Dienstmädchen, dass der König die Sklaven, die seine Tochter kannten, freigelassen und durch andere ersetzt hatte, für die sie nur noch ein Name war. Mit jedem Tag, den sie eingesperrt war, spürte sie, wie sie kleiner und blasser wurde und immer mehr in Vergessenheit geriet. Es fiel ihr zunehmend schwerer, das Zeitgefühl nicht zu verlieren, und schon bald wusste sie nicht mehr, wie lange sie schon in der Zelle saß. Sie wusste immer weniger, was real war und was nicht. Als Zeus über dem kleinen Bett erschien, in dem sie schlief, war sie jedenfalls nicht so überrascht, wie sie es vielleicht hätte erwarten können.
»Wie bist du hier hereingekommen?«, erkundigte sie sich, nachdem sie die Augen geöffnet hatte und eine große, golden leuchtende Gestalt neben sich sah.
»Ich bin durch die Lücken in deinem Dach hereingeregnet«, erklärte er.
»Ich verstehe«, antwortete sie. »Und du bist …?«
»Ich bin Zeus.«
»Bist du gekommen, um mich aus meinem Gefängnis zu befreien?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Aber das könnte ich.«
In seinem Palast, einsam und verbittert, ging Akrisios immer mehr zugrunde. Was hatte es für einen Sinn, etwas zu sehen, zu hören, zu schmecken, wenn er es mit niemandem teilen konnte? Die alten Sklaven – die er seit seiner Jugend kannte – hatte er alle weggeschickt, die neuen mieden ihn, weil seine Launen so unberechenbar waren. Erst jetzt begriff er das Ausmaß der Entscheidung, die er getroffen hatte: Er lebte, aber eigentlich war er schon tot. Täglich dachte er daran, seine Tochter zu sich zurückzuholen. Doch dann stieg die Angst vor dem Tod wieder in ihm auf, und er sah in jedem Gesicht den Vater seines zukünftigen Mörders. Er glaubte an die Tugendhaftigkeit seiner Tochter. Aber er wollte nicht sein Leben darauf verwetten.
Danaë erfuhr von ihrem Mädchen, dass es ihrem Vater immer schlechter ging. Ihre Affäre mit Zeus war ein recht kurzes Vergnügen gewesen, und die daraus resultierende Schwangerschaft war nicht unerwünscht. Auch ihr hatte jemand zum Reden gefehlt, doch ihre Einsamkeit war erst durch Zeus und dann durch das Kind, das sie stolz in sich trug, gelindert worden. Die Zelle hielt sie nicht länger gefangen: Zeus hatte alle Mauern zerschlagen. Aber sie konnte nicht an die Seite ihres Vaters zurückkehren, und sie wollte es auch nicht. Würde er wieder versuchen, sie einzukerkern? Oder gar Schlimmeres? Würde Zeus es zulassen? Ihre Schwangerschaft war nun deutlich zu sehen, was den ängstlichen König nur noch mehr aufwühlen würde. Die Sklaven, die vor seiner unglückseligen Reise nach Delphi im Palast gearbeitet hatten, halfen ihr jedoch gern und brachten sie mitsamt ihrem Dienstmädchen in einem kleinen Haus in der Nähe unter. Dort sprachen die Frauen vom König, als wäre er bereits tot.
Danaë verbrachte mehrere glückliche Monate bei diesen Frauen, bis ihr Sohn auf die Welt kam.
Ihr Dienstmädchen lebte mit den unverheirateten Schwestern bei der Mutter. Die verheirateten Schwestern wohnten in der Nähe und leisteten ihr stets Gesellschaft. In vielerlei Hinsicht zog Danaë das Leben in diesem geschäftigen kleinen Haus, das immer voller Frauen, Kinder und Essen war und wo die Wäsche draußen in der Sonne bleichte, dem tristen Leben vor, das sie im Palast hatte erdulden müssen. Je mehr Zeit sie ohne ihren Vater verbrachte, desto klarer wurde ihr, dass seine Reise nach Delphi nur verschlimmert hatte, was schon immer für ihn gegolten hatte. Er war immer abweisend gewesen, hatte jeden Fremden eher als potenzielle Bedrohung denn als möglichen Freund gesehen. Ihr schöner, lichtdurchfluteter Palast hatte sich stets kalt angefühlt. Hier aber, umgeben von diesen Frauen, die alles über die Schwangerschaft wussten, empfand Danaë nichts als Freude, als sie sich die Geburt ihres Kindes ausmalte. Zeus würde nicht zulassen, dass ihr etwas widerfuhr, da war sie sich sicher.
Und ihr Vertrauen wurde belohnt. Die Frauen sagten, es sei die einfachste Geburt gewesen, die sie je erlebt hatten: Danaës Sohn war schön und kerngesund, und sie war es auch. Noch benommen von der Geburt, während sie seine winzigen geschlossenen Augen und seine Fäustchen betrachtete, überlegte sie, ob sie ihn ihrem Vater zeigen sollte. Akrisios würde erkennen, dass es verrückt und falsch von ihm gewesen war, sich vor diesem kleinen Jungen zu fürchten. Dann aber erinnerte sie sich an den dunklen Ausdruck in den Augen ihres Vaters an dem Tag, an dem er sie eingesperrt hatte, verrückt vor Angst.
Sie konnte ihm nicht mehr vertrauen und würde es auch nie wieder tun. In dem Moment, als sie die Mutter ihres Sohnes wurde, hörte sie auf, das Kind ihres Vaters zu sein. Dennoch hätte sie ahnen müssen, dass irgendjemand sie verraten würde.
Danaë fühlte während der ganzen schrecklichen Zeit von ihrer Entdeckung bis zur Vergeltung nichts. Sie war wie betäubt, als ob all das jemand anderem passieren würde. Sie musste mit ihrem Vater gesprochen und ihn angefleht haben. Und wahrscheinlich hatte sie auch die Männer angefleht, die sie packten und nach draußen zerrten. An die letzten Worte, die sie zu ihrem Vater gesagt hatte, oder er zu ihr, konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Danaë war in einen betäubenden Schleier aus Liebe und Erschöpfung gehüllt. Wie von ferne hörte sie Geschrei und Gezeter, spürte sie die gleißende Sonne und das offene Meer. Und dann die Dunkelheit. Aber die ganze Zeit spürte sie ihr zartes Kind in ihren Armen, ihr Kinn, das sie schützend auf sein Köpfchen legte, den schwachen Geruch von saurer Milch, den sie einatmete. Danaë war in den Wellen des Ozeans verloren.