Andromeda

A ndromeda hatte nicht geschrien und sich nicht gewehrt, als man ihr mitgeteilt hatte, sie sei das Opfer, nach dem es Poseidon gelüste. Sie wollte nicht, dass die hasserfüllten Priester ihre Angst sahen. Außerdem hatte ihre Mutter, nachdem sie endlich ihr Schweigen gebrochen hatte, nicht aufgehört zu weinen und zu flehen. Sie schlüpfte in die Rolle, die eigentlich Andromeda zugestanden hätte, und in den Momenten, in denen sie allein war, verübelte Andromeda ihr das sehr. Wie konnte ihre Mutter es wagen, sich als unschuldiges Opfer darzustellen, wo doch ihre dumme, gedankenlose Prahlerei schon so viele Leben gekostet hatte? Und die Meeresnymphen, die sie selbst beleidigt hatte, ausgerechnet ihr Leben verschonten?

Doch auch ihren Unmut ließ sie sich nicht anmerken. Sie verlor ihre Mutter sowieso: Was hatte sie davon, wenn sie noch gegen sie wütete? War sie allein, weinte sie leise, ansonsten verhielt sie sich so, als wäre dieses schreckliche Ende ihres jungen Lebens vom Schicksal bestimmt und nicht dem törichten Stolz ihrer Mutter geschuldet. Wenn sie ganz ehrlich war, war sie hocherfreut, als sie feststellte, dass ihr Onkel und höchst unerwünschter zukünftiger Ehemann sich nicht blicken ließ. Ihr Vater hatte Boten in alle Richtungen geschickt, aber niemand konnte ihm sagen, wo Phineus sich aufhielt oder was ihm widerfahren war. Es gab keine Bestätigung für seinen Tod, und sein Haus lag fern vom Wasser weit im Landesinneren. Andromeda zog grimmiges Vergnügen daraus, dass ihre Annahmen über diesen Mann in den wenigen verbleibenden Tagen ihres Lebens nicht nur bestätigt, sondern sogar noch übertroffen wurden. Ihn hatte tatsächlich nur eine junge Braut und die große Nähe zur königlichen Macht interessiert. Andromeda selbst war ihm egal. Ihr Vater zeigte sich anfangs besorgt um seinen vermissten Bruder. Doch als die Stunden vergingen, musste auch er erkennen, dass Phineus nicht die Absicht hatte, seine Familie zu unterstützen. Wo auch immer er war, er würde dort bleiben, bis keine Gefahr mehr bestand, in ihre Krise verwickelt zu werden.

Andromeda freute sich nicht darüber, dass sie recht behalten hatte und ihre Eltern sich geirrt hatten. Da ihr zu wenig Zeit blieb, sich daran zu erfreuen, war das sinnlos. Sie fragte sich jedoch, ob ihre Eltern ihr vielleicht erlauben würden, sich selbst einen Ehemann auszusuchen, falls sie durch göttliche Intervention die als notwendig erachtete Strafe überleben sollte. Dies zu erleben wäre eine solche Freude. Wenn Andromeda doch nur mehr Zeit hätte.

*

Am Morgen des Opfertags wachte sie früh auf und schickte die Sklavinnen fort, die ihr beim Ankleiden helfen wollten. Sie wählte einen Chiton, der ihr zwar nicht besonders gefiel, der aber die Flut unbeschadet überstanden hatte. Er war cremeweiß mit ein paar dunklen gepunkteten Linien auf der Vorderseite, und vertikale Streifen verliefen auf beiden Seiten von der Achsel bis zum Saum. Dazu trug sie eine Halskette aus großen Karneolperlen und Ohrringe aus zarten goldenen Kugeln, die zu Ringen zusammengepresst waren.

An jedem Ring hingen drei Tropfen aus Gold und Karneol. Sie schlüpfte in die Sandalen, die sie getragen hatte, als das Wasser kam, da es die einzigen waren, die sie noch besaß.

Die Frauen halfen ihr mit dem kunstvollen, schweren Kopfschmuck, der bis zu diesem Tag weggeschlossen gewesen war. Außen zierte ihn ein wellenförmiges Muster aus geschnitzten Lotusblättern. Ihr Haar, das sie darunter offen trug, war von einem durchsichtigen Schleier bedeckt, der am Saum von winzigen, schweren Perlen an seinem Platz gehalten wurde.

Sie wusste, dass sie spektakulär aussah, ein würdiges Opfer für die Nymphen, die ihre Mutter so erzürnt hatte. Als ihre Eltern sie sahen, brachen sie beide in Tränen aus. Sie hatten sich vorgestellt, ihre Tochter an einem Festtag, vielleicht an ihrer Hochzeit, in einem derart prächtigen Gewand zu sehen. Selbst der jüngere Priester schien ein wenig niedergeschlagen, als Andromeda aus dem Palast in das grelle Morgenlicht trat. Der Ältere hingegen wirkte noch höhnischer als damals, als sie ihrem Vater die Nachricht überbracht hatten. Je mehr ihre Mutter jammerte – ihre einst so schönen Augen waren nun gerötet und geschwollen –, desto mehr schien ihn das zu freuen. Andromeda musterte den Priester durch ihren Schleier hindurch. Sie bemerkte, wie zornig er wurde, dass sie es wagte, ihm in die Augen zu sehen, und nicht den Blick abwandte.

Ein großer Umzug würde sie zu der Stelle begleiten, an der sie sterben sollte. Ihr Vater war immer ein beliebter König gewesen, aber sein Volk wusste, dass sie von Poseidon persönlich bestraft worden waren. Das würden sie der Königin lange nicht verzeihen, vermutete Andromeda. Die Priester hatten kein Geheimnis aus dem Grund für Äthiopiens Zerstörung gemacht. Jetzt waren die Bürger noch zu erschöpft von ihrem Leid, um Rache an ihrer Königin zu fordern. Doch erst, wenn niemand mehr lebte, der an diesem Tag einen Verlust erlitten hatte, würde man den Namen ihrer Mutter wieder aussprechen, ohne ihn zu verfluchen.

Langsam folgte Andromeda den beiden Priestern zu der neu gebildeten Küste. Sie war auf Wut und Spott der Menge gefasst, aber die Versammelten blieben ruhig. Statt sie zu verhöhnen, eskortierten sie sie sogar. Andromeda wusste nicht, ob es eine Geste der Solidarität war oder der glühende Wunsch zu sehen, dass die Prinzessin bekam, was sie verdiente. Aber sie war dankbar, dass sie nicht allein war, als der Boden vor ihr verschwand und sie das Unmögliche vor Augen hatte: die Wüste, die zum Meer geworden war.

Sie fragte sich, wie die Priester wohl entschieden haben mochten, wo sie gefesselt dem Meer überlassen werden sollte. Hatten sie eine Stelle gewählt, an der sie sicher waren, dass sie schnellstmöglich ertrinken würde? Oder hofften sie, dass sie lange genug überlebte, um mitanzusehen, wie das Wasser in einer weiteren Flutwelle anstieg und sie erst dann mitnahm? Als sie der Stelle näher kam, begriff sie, dass man diesen Ort ausgesucht hatte, weil dort zwei tote Bäume dicht neben einem großen Felsblock standen. Der ältere Priester konnte seine Schadenfreude kaum verhehlen, als er seinem jüngeren Kollegen befahl, die Prinzessin zwischen den beiden verdorrten Stämmen festzubinden.

Andromeda starrte teilnahmslos vor sich hin, als der Jüngere das Seil um einen abgestorbenen Ast wand – ein-, zwei-, drei-, viermal. Dann schlang er es um ihr rechtes Handgelenk und zog es fest. Ihr Arm wurde leicht angehoben, und sie spürte, wie er ihn gegen die dünne, gesplitterte Rinde drückte. Sie wusste, dass sein Blick auf ihr Gesicht gerichtet war, aber sie weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. Er knüpfte den letzten Knoten, und sie krümmte probeweise die Finger – sie konnte sie noch bewegen. Jetzt trat der jüngere Priester hinter sie, um ihren anderen Arm an einen Ast des zweiten Baumes zu binden.

Vor ihr stand der behelfsmäßige Altar: eine Holzkiste mit geschnitzten Ranken und Kreisen. Darauf stand ein aus Weidenruten geflochtener Kalathos, in den sie die Opfergaben hineinlegen würden. Andromeda fragte sich, warum sie einen Altar aus einer Kiste und einem Korb gebaut hatten, aber sie kannte die Antwort bereits. Auch wenn sie in seinem Tempel dienten und sich an seinen Gaben labten, war diesen Männern Poseidon egal. Sie verehrten ihn nicht, sie lebten nur, um diejenigen zu bestrafen, die über ihn lästerten.

Und die Tochter derer, die ihn lästerten. Andromeda hörte ihre Mutter hinter sich, die immer noch heftig weinte, und blickte dann auf das Meer hinaus, das sie verschlingen würde. Halb wünschte sie, der Priester hätte ihr die Augen verbunden, damit sie den Tod nicht kommen sah. Manchmal machten sie das mit Tieren. Sie hatte es selbst beobachtet. Statt zu riskieren, dass eine Färse vor der glänzenden Klinge zurückschreckte, verbanden sie ihr die Augen, damit sie ihrem Schicksal gelassen entgegenblickte. Würde Poseidon das Meer anheben, um sie zu ertränken? Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, das Wasser immer näher kommen zu sehen. Dann fragte sie sich, ob es schlimmer wäre, es nur zu hören und sich seines Kommens nie ganz sicher zu sein, bis es sie berührte. Oder würde sie einfach hierbleiben, bis sie verdurstet oder verhungert war? Vom Meer gemieden, statt von ihm verschlungen. Trotz der Hitze fröstelte sie.

Ihre Eltern kamen näher. Sie hörte, wie ihre Mutter auf den älteren Priester einredete und versuchte, mit ihm zu verhandeln. Ich biete dir dies an, hörte Andromeda, und dies und jenes. Das Klappern von Metall auf Metall war zu hören, und Andromeda brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass ihre Mutter Ketten, Armbänder und Ohrringe abnahm, jedes Stück Gold, das sie am Leib trug. Sie hielt es in Händen und bot es dem Priester in dem Versuch an, das Leben ihrer Tochter zurückzukaufen. Andromeda spürte, wie ihr die Tränen kamen.

Sie wollte nicht, dass ihre Eltern sie weinen sahen, sie wollte die Schuldgefühle und den Kummer ihrer Mutter nicht noch verstärken. Doch nachdem die Tränen einmal da waren, flossen sie ihr übers Gesicht. Ohne nachzudenken, spannte sie ihre Handgelenke gegen die Seile und versuchte reflexartig, die Hände zu heben, um sich die Augen abzuwischen. Die Tränen juckten auf ihren Wangen, und die Seile schnitten in ihre Handgelenke.

In diesem Moment beschloss Andromeda, dass sie vielleicht doch nicht ruhig und gefasst sterben würde.