N atürlich ist er entkommen. Mit der Hilfe all dieser Götter entkam Perseus. Ich ließ den sterblichen Körper zurück, der mich schwach und verletzlich gemacht hatte, und floh in was genau … ein neues Leben? Also bitte, das ist kein Leben. Es ist der Tod. Du kannst nicht vergessen haben, dass Medusa von diesem Mann, diesem sogenannten Helden, in zwei Hälften geteilt worden ist. Jetzt ist sie tot und wird von ihren Schwestern betrauert und geliebt, und ich bin – nun ja – der entwendete Kopf. Die versteckte Trophäe.
Die Schlangen haben sich fest um mich gewickelt: Sie beschützen mich immer noch. Aber wir sind alle in diesem goldenen Kibisis versteckt, den Perseus trägt, um sich dadurch vor Gefahren zu schützen. Und er beschwert sich die ganze Zeit darüber, wie viel der Beutel wiegt. Dabei ist nicht einmal jemand hier, der ihm zuhört. Er stöhnt nur in den Wind, wie schwer und unhandlich er ist. Ich möchte ihm sagen, wenn es so unbequem ist, den Kopf von jemandem in einer Tasche herumzutragen, sollte man vielleicht darüber nachdenken, bevor man ihn vom Körper trennt. Also sage ich es. Er reagiert nicht, und ich nehme an, er hat es nicht gehört. Vielleicht dämpft das Gold die Geräusche, oder er kann nicht mehr hören, nachdem Euryale in seine erbärmlichen, sterblichen Ohren geschrien hat. Doch wenigstens hört er auf zu jammern. Also hat er mich vielleicht doch gehört.
Er entfernt sich von dem Ort, an dem Athene ihn verlassen hat. Wahrscheinlich will er sich auch darüber beschweren, aber er trägt immer noch die Sandalen des Hermes, sodass seine Schritte ihn keinerlei Anstrengung kosten. Er will irgendwohin zurück, denn er murmelt immer wieder, dass er nach Seriphos zurückkehren will, bevor es zu spät ist. Ich weiß nicht, wo oder was dieser Ort ist, also frage ich ihn, und wieder antwortet er nicht. Dafür jammert er jetzt, dass er sich Sorgen macht, ob er ein Boot finden wird. Also muss er das Meer überqueren, um dorthin zu gelangen. Eine Insel? Ein Hafen? Ich wünschte, ich wüsste es.
Nein, das darf doch nicht wahr sein, oder? Das ist ein letzter kleiner Rest von Medusa, die sich wirklich dafür interessierte, was die Sterblichen wollten und wohin sie zu gehen beabsichtigten. Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob Perseus lebt oder stirbt, geschweige denn, wohin er will. Was macht das schon für einen Unterschied für mich? Wenn er den Beutel jetzt öffnete und ich ihn in Stein verwandelte, was würde dann mit mir geschehen? Ich würde in genau demselben Zustand hier bleiben. Verwandelte ich ihn nicht in Stein und er erreichte sein Ziel, wäre es genauso, oder? Ich bin immer noch Gorgoneion, das Gorgonenhaupt, und Medusa ist immer noch tot.
Deshalb interessiert es mich nur am Rande, als er einen Hirten sieht und den Mann anschreit, er möge ihm doch bitte sagen, wo er sich jetzt befinde. Der Hirte erklärt ihm, dass er das Reich des Atlas erreicht habe, wo das Land an den Himmel stößt. Perseus fragt den Hirten, ob er bei ihm Unterschlupf finden könne, aber der Mann lehnt sein Ansinnen ab. In seiner Stimme schwingt eine gewisse Beunruhigung mit, und ich glaube, das hat mit mir zu tun. Natürlich hat der Hirte mich nicht gesehen, aber er spürt, dass da etwas Gefährliches vor ihm steht. Vielleicht hat er seine Instinkte geschärft, um seine Schafe vor unsichtbaren Raubtieren zu schützen.
Ich höre die Schafe blöken, als Perseus zwischen sie tritt. Sie erinnern mich an Euryales Herde. Er bittet den Mann erneut um ein Bett und Essen, und der Hirte antwortet, dass er im Dienste des Königs stehe und dass Fremde sich an selbigen wenden müssten, wenn sie eine Unterkunft bräuchten. Perseus fragt, in welche Richtung er gehen solle, um mit dem König zu sprechen, und der Hirte beschreibt ihm den Weg. Die Wegbeschreibung ist kompliziert und beinhaltet viele Orientierungspunkte, und Perseus reagiert gereizt auf all die Einzelheiten, die der Mann ihm gibt. Gerade frage ich mich, warum er um Hilfe bittet, wenn er sie so wenig zu schätzen weiß, als er mit einer Schulter zuckt, sodass der Riemen des Beutels hinunterrutscht und er hineingreifen kann. Ich sehe, wie seine Finger nach meinen Schlangen greifen, und ich weiß, was er vorhat. Was für ein Wicht er doch ist.
Er hebt mich aus dem Beutel, und ich blinzle einmal, zweimal gegen die plötzliche Helligkeit der Sonne an, die ich mehr vermisst habe, als ich beschreiben kann. Wann haben meine Augen das letzte Mal ins Licht geschaut? Ich kann die Zeit nicht mehr messen, und Medusa konnte es auch nicht, nachdem sie verflucht worden war. Ich fühle mich warm und lebendig, obwohl ich weiß, dass ich nichts davon bin. Ich sehe alles auf einmal: den weiten Himmel, den felsigen Boden, die raschelnden Bäume. Ich fühle die Wärme der Sonne, die kühle Brise und die Finger von Perseus, die meine Schlangen packen und mich wie eine Fackel schwingen.
Ich sehe den Hirten.
Und er sieht mich.
Nur einen winzigen Moment lang treffen sich unsere Blicke, und sein Gesicht wird zu einer stummen Maske der Angst. Dann ist er versteinert, erstarrt an dem Punkt, an dem er Perseus begegnet ist. Ich höre ihn – Perseus, der jetzt ein Doppelmörder ist – keuchen, als er sieht, wie schnell und tödlich ich bin. Er stopft mich zurück in seinen Kibisis und mich durchströmt ein gewaltiger Energieschub. Der Schafhirte ist tot, und das nur dank meiner Macht. Wie könnte ich nicht in dieser Kraft schwelgen, jetzt, wo ich sie habe?
Vielleicht fragst du dich, was der Hirte getan hat, um ein so unvermitteltes Ende zu verdienen? Was hat jeder von uns getan? Was habe ich getan? Er war am falschen Ort, es traf den falschen Mann. Du denkst, ich hätte den Blick abwenden können. Hätte ich das? Ja, wahrscheinlich. Aber ganz offensichtlich habe ich es nicht getan. Aber hätte ich ihn nicht vor Perseus und seinen bösen erbärmlichen Launen retten können?
Ich habe keine Lust mehr, Sterbliche zu retten. Ich habe keine Lust mehr, irgendjemanden zu retten. Ich möchte meine Augen öffnen und alles aufnehmen, was ich sehen kann, wann immer ich die Gelegenheit dazu bekomme. Ich habe Lust, die Macht zu nutzen, die mir die Göttin gegeben hat, Angst zu verbreiten, wo immer ich hingehe, wo immer Perseus hingeht. Ich habe Lust, das Ungeheuer zu werden, das er geschaffen hat. Genauso fühle ich mich.
Perseus hat große Angst vor mir. Das merke ich daran, dass er den Beutel jetzt viel vorsichtiger hält. Ich bin mir sicher, dass er nicht daran gezweifelt hat, was Athene ihm über meine Macht erzählt hat, aber wer glaubt schon, was er nicht selbst gesehen hat? Selbst ich wusste nicht, dass es so schnell und so weit geht. Ich hatte einen Vogel angeschaut und einen Skorpion und sie in Stein verwandelt. Aber einen Menschen? Es war schwindelerregend, wie schnell ich ihn versteinern konnte. Und in der Sekunde zwischen seinem Tod und meiner Rückkehr in die Dunkelheit sah ich sein Gesicht, auf dem der Ausdruck jenes Moments lag, in dem er mich erblickt hatte. Es erregt mich jetzt noch, wenn ich daran denke, wie die Energie zwischen uns vibrierte, wie winzige Motten, die irgendwie von meinen Augen zu seinen wanderten und ihm das Leben nahmen.
Solltest du darauf gewartet haben, dass ich mich schuldig fühle, kannst du lange warten.
Dann befolgt Perseus die Anweisungen des Hirten, allerdings verirrt er sich und muss immer wieder zurückgehen. Ich frage mich, ob ihm das eine Lehre sein wird: Vielleicht ist er in Zukunft etwas vorsichtiger, wen er tötet, schließlich könnte er später dessen Hilfe gebrauchen. Allerdings scheint er mir nicht wie ein junger Mann, der sich belehren lässt. Selbst im Inneren des Beutels spüre ich, wie die Luft kühler wird, als die Sonne untergeht. Schließlich akzeptiert Perseus, dass er eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen muss. Er legt den Kibisis so vorsichtig ab, dass ich fast lachen muss. Vielleicht lache ich ja tatsächlich. Wir müssen noch herausfinden, ob Perseus die Geräusche, die ich mache, einfach ignoriert oder ob er sie nicht hören kann, wenn der Beutel geschlossen ist. Aber er hat immerhin beschlossen, mich nicht zu verärgern. Oder vielleicht ist er zu dem Schluss gekommen, dass er aufgrund meines Wertes sorgfältig darauf achten muss, mich nicht zu beschädigen. Ich frage mich, ob ihm das Paradoxe der Situation bewusst ist. Vermutlich eher nicht.
Am nächsten Morgen ist er voller Hoffnung, dass der König einen wandernden Helden mit allen möglichen Feierlichkeiten empfangen wird. Vielleicht hätte er das auch getan, wäre Atlas nicht ein ängstlicher und misstrauischer König gewesen. Aber das ist er, und das war er schon immer.
Atlas besitzt viele schöne Dinge in seinem weitläufigen Reich. Er schätzt sie alle, von seinen schönen Herden bis zu seinen wunderbaren Obstgärten. Wahrscheinlich schätzte er sogar den Hirten, aber er weiß noch nicht, dass der Mann tot ist. Besonders liebt er einen Hain mit Obstbäumen, die die bemerkenswertesten Früchte tragen: goldene Äpfel.
Für Atlas sind diese Äpfel die perfekteste Speise, die man sich vorstellen kann. Er kann essen, was er will und wann er will, denn er ist schließlich der König. Aber es sind immer die Äpfel, auf die er jeden Sommer wie ein Kind wartet. Er stellt Männer ein, die die Bäume bewachen und das ganze Jahr über pflegen. Wenn das Wetter sie zu beeinträchtigen droht, bringt er Aeolus, dem Herrn der Winde, Opfergaben dar, um den störenden Kälteeinbruch woandershin zu lenken. Werden die Sommertage länger, geht er jeden Morgen als Erstes zu seinen Bäumen, um ihre wachsenden Früchte zu prüfen.
Atlas hat nie befürchtet, dass Eindringlinge seine Ernte stehlen oder seine Bäume beschädigen könnten. Er muss keine Angriffe von benachbarten Stämmen fürchten, und das aus einem einfachen Grund: Er ist ein Titan, einer der alten Götter aus der Zeit vor den Olympiern, aus der Zeit vor Zeus. Und welcher Sterbliche wäre so töricht, einen Streit mit einem Gott zu beginnen? Nun, ich bin sicher, du hast die Antwort schon erraten.
Als Perseus die riesige Behausung erreicht, ist er noch schlecht gelaunt von der Nacht, die er unter einem Baum geschlafen hat. Natürlich macht er sich immer noch keine Vorwürfe, dass er den Mann getötet hat, der ihn schneller hätte herführen können. Die Größe und Erhabenheit des Palastes, den er nun sieht, lässt ihn kurz zögern – ich spüre das Zaudern in seinem Schritt. Aber er hebt das Kinn und versucht, auf diese Weise eine heroische Figur zu machen. Aus dem Inneren des Kibisis mache ich mich über ihn lustig. Was er weiterhin nicht bemerkt. Eine Wache steht an den Toren, und Perseus fragt, ob er den König treffen und mit ihm über Angelegenheiten sprechen dürfe, die für beide von Vorteil seien. Jedes Kind könnte diese List durchschauen, und der Aufseher ist kein Kind. Er erklärt, der König sei anderweitig beschäftigt und werde zu einem unbestimmten Zeitpunkt zurückkehren. Perseus, der weiß, dass er gerade weggeschickt wird, versucht es mit einer anderen Taktik. Sag ihm, dass der Sohn des Zeus nach ihm fragt, sagt er. Daraufhin verschwindet der Aufseher: Ich höre an seinen hallenden Schritten, wie er einen langen Korridor hinuntergeht.
Als Perseus merkt, dass sich der Mann in die Tiefen des Palastes zurückzieht, ist er davon überzeugt, dass er etwas richtig gemacht hat. Er hat einen Fremden mit seiner heroischen Herkunft beeindruckt, und, wie es sich für einen Helden gehört, um ein Lager gebeten, indem er etwas als Gegenleistung angeboten hat. Was er jedoch als Gegenleistung anbieten könnte, was Atlas nützlich fände, hat er sich noch nicht überlegt. Doch das spielt keine Rolle, denn es gibt noch etwas anderes – eins von vielen Dingen, wie du sicher bemerkt hast –, das Perseus nicht weiß.
Atlas hat nicht immer hier in diesem weitläufigen Reich gelebt. Einst reiste er mit seinen Titanengeschwistern durch Griechenland. Nach der Ankunft der Olympier zog er sich hierher zurück, nachdem Zeus gegen die Titanen Krieg geführt und die Macht an sich gerissen hatte.
Atlas war kein sonderlich ehrgeiziger Gott, und so ging er nur zu gern in seinen Palast, zu seinen Herden und vor allem zu seinem Obstgarten. Eine Verbindung zu seinem alten Leben blieb ihm jedoch erhalten, nämlich die Vorliebe für die Göttin Themis, die äußerst begabt in der Kunst der Prophezeiung war. Themis hatte Atlas einst gesagt, dass er eines Tages die leuchtenden Früchte seines Baumes an einen Sohn des Zeus verlieren werde. Diese Worte hat Atlas nie vergessen. Zunächst, weil er annahm, dass es sich um eine metaphorische Bedeutung handelte und er einen Sohn haben würde, der durch die Hand eines Halbgottes sterben würde. Später wurde ihm klar, dass die Prophezeiung wörtlich zu verstehen war und seine geliebten Bäume tatsächlich in Gefahr waren.
Deshalb schärfte er jedem seiner Diener und all seinen Untertanen ein, sich vor dem Sohn des Zeus in Acht zu nehmen und ihm jede Nachricht von einem solchen Mann unverzüglich zu überbringen. Wäre der Hirte am Leben geblieben, um die Identität seines Mörders zu erfahren, wäre er in der dunkelsten Nacht durch das Land gerannt, um Atlas über die Ankunft des Mannes zu informieren, den sie alle fürchteten. Nun tut der Aufseher dasselbe: Besser spät als nie, denkt er, während er durch die Kolonnaden eilt.
Als Atlas erfährt, dass der Sohn des Zeus vor seinen Toren steht, um eine Audienz bittet und vorgibt, etwas zum Tausch anzubieten, ist er entsetzt. Wagt er es, das Kind seines alten Feindes zu töten, der ihm an Macht in jeder Hinsicht überlegen ist? Wenn er es jedoch nicht tut, wird der Mann dann die Äpfel stehlen, die goldenen Äpfel, die Atlas so sehr schätzt und liebt? Er geht auf und ab, während der Aufseher ihn ängstlich beobachtet. Was soll er tun? Wie kann er seine geliebten Bäume retten?
Atlas denkt so lange nach, dass Perseus die Hoffnung auf Nahrung und Unterkunft schon fast aufgegeben hat. Er hat bereits dreimal seine Wasserflasche nachgefüllt und sitzt im Schatten, den Rücken an eine der Palastmauern gelehnt, mit mir an seiner Seite. Schließlich schickt Atlas seine Männer zur Bewachung des Obstgartens, da er davon ausgeht, dass Perseus dort angreifen wird. Perseus hat natürlich keine Ahnung, dass es den Obstgarten überhaupt gibt, und selbst wenn er es wüsste, würde er ihn wohl kaum aufsuchen. Er hat kein Interesse an der Natur, das ist mir bereits aufgefallen: Vogelgezwitscher scheint ihn nicht zu berühren, er verlangsamt seinen Schritt nicht, wenn er einen schönen Ausblick hat. Er beklagt sich gern über seine schmerzenden Füße und Schultern, Hunger und Durst. Aber wenn all diese Bedürfnisse befriedigt sind, fehlt ihm jegliche Wertschätzung für die Ausblicke und Geräusche, die er erlebt hat, seit er mich erschuf.
Vielleicht fragst du dich nun, ob Themis einen Fehler gemacht hat, als sie Atlas von der Prophezeiung erzählte? Oder ob sie Unheil anrichten wollte, wie es Götter manchmal tun? Nein, natürlich nicht: Themis irrt sich nie und richtet seltener Unheil an als die meisten anderen. Sie hat die Wahrheit gesagt, aber Atlas schöpfte zu früh Verdacht: Es sollte ein anderer Sohn des Zeus die Äpfel aus Atlas’ Obstgarten stehlen, und dieser Tag liegt noch in weiter Ferne.
Schließlich erhebt sich Atlas von seinem Thron und schreitet durch die Kolonnaden seines Palastes. Er hat die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt und hält inne. Sollte er seinen Obstgarten besuchen und noch einmal einen Blick auf seine geschützten Bäume werfen? Er schiebt den Gedanken beiseite, beschämt darüber, dass er überhaupt in Erwägung gezogen hat, einen Kampf gegen einen elenden Halbgott zu verlieren. Lange vor Perseus höre ich ihn kommen. Er spürt nicht, wie die Erde bebt, als der Titan auf ihn zukommt, er merkt ohnehin nur wenig. Doch als der Aufseher vor seinem König durch das Tor stürmt, merkt selbst Perseus, dass etwas passiert.
»Was soll diese ganze Aufregung?«, fragt er den keuchenden Wächter. »Euer König ist Fremden gegenüber nicht sehr gastfreundlich.«
Der Aufseher hat nicht genug Puste, um zu antworten, aber das macht nichts, denn Atlas taucht hinter ihm auf.
Unwillkürlich weicht Perseus einen Schritt zurück. Der Titanenkönig überragt seinen unerwünschten Besucher bei Weitem.
»Was willst du?«, verlangt Atlas zu wissen.
»Kost und Logis«, antwortet Perseus. Das sind vernünftige und bescheidene Bitten, und doch würde die Art, wie er sie äußert, in jedem den Wunsch wecken, ihn in einen Fluss zu stoßen.
Atlas teilt meine Meinung, wie es scheint, denn er seufzt laut und antwortet nicht. Perseus ist beim Warten so ungeduldig geworden, dass er noch quengeliger ist als sonst. »Ich bin ein Sohn von Zeus«, sagt er.
»Und wie kommst du darauf, dass ich einem Sohn von Zeus etwas schulde?«, gibt der Titan zurück. »Selbst wenn du bist, für wen du dich ausgibst.«
»Du respektierst den König der Götter nicht?«, fragt Perseus. Seine Stimme klingt schrill und beleidigt.
»Ich muss den König der Götter respektieren«, räumt Atlas ein. »Aber ich muss keinen Mann respektieren, der behauptet, sein unehelicher Sohn zu sein.«
»Ich habe eine mächtige Gorgone getötet«, erklärt Perseus. »Und was ist mit deinen Pflichten? Du solltest einem Reisenden Essen und einen Platz zum Ausruhen anbieten, ob du ihn nun respektierst oder nicht.«
Atlas schnaubt verächtlich. »Welche Pflichten? Ich bin dir nichts schuldig. Du stehst ohne Ankündigung vor meinen Toren. Warum sollte ich dich beherbergen, wenn ich weiß, warum du hergekommen bist? Ich weiß, was du vorhast, und werde es nicht zulassen.«
»Ich habe gar nichts vor!« Perseus ist unfähig, irgendetwas zu planen, daher ist es auch kein Wunder, dass er so verärgert klingt. »Ich komme gerade von einem Kampf mit den Gorgonen in ihrer Höhle. Ich will so schnell wie möglich nach Seriphos zurückkehren und brauche eine Unterkunft, bevor ich meinen Weg fortsetze. Wer bist du, dass du mir das verweigerst?«
»Ich bin der König von allem, was du siehst, und von tausendmal tausend mehr, was du nicht sehen kannst!«, brüllt Atlas. »Ich bin weder dir noch sonst jemandem Rechenschaft schuldig. Du bist ein Dieb und in meinem Palast nicht willkommen. Und jetzt geh, bevor ich dich töte.«
Perseus greift bereits in den Kibisis. Er packt meinen Kopf, und ich spüre, wie seine Finger blindlings nach meiner Nase oder meinem Mund tasten, damit er mir nicht aus Versehen die Augen verschließt.
»Du hättest Gastfreundschaft walten lassen können«, sagt er. »Aber das hast du abgelehnt. Also gebe ich dir das Geschenk, das du verdienst.«
Er zieht mich aus dem Sack und hält mich dem Titanen vor die Nase. Seine eigenen Augen hat er vor Angst und Entsetzen fest zugekniffen.
Selbst ich bin überrascht, was dann passiert. Denn Titanen sind keine sterblichen Kreaturen, sie werden nicht einfach zu Stein wie die Vögel und der Skorpion und der Hirte. Als ich Atlas anstarre, weiß ich nicht, was ich erwarten soll. Als ich Schwestern hatte, fürchtete ich um das Leben meiner Schwestern, auch wenn sie unsterblich waren. Aber mir bangt nicht um Atlas: Er scheint ein unbedeutender König zu sein, und warum sollte er das Leben genießen, wenn ich den Tod erleide? Also öffne ich meine Augen weit und begegne seinem Blick.
Sein Gesichtsausdruck ist ganz anders als der des Hirten. Offenbar hat er in seinem langen Leben schon Schlimmeres gesehen als einen Gorgonenkopf. Als Erstes verändert sich sein Aufseher und ist bereits versteinert, bevor ich ihn überhaupt bemerkt habe. Aber bei Atlas spielt sich das anders ab. Es ertönt ein ohrenbetäubendes Krachen, wie bei einem gewaltigen Felssturz. Atlas hebt den Arm, um Perseus zu Boden zu stoßen, oder vielleicht hofft er, mich aus der ausgestreckten Hand seines Gegners zu schlagen. Aber Atlas kann seine Füße nicht bewegen, er ist auf der Stelle festgewachsen. Und dann wird er von den Füßen aufwärts zu Stein. Doch während er versteinert, wächst er zugleich. Der Titanenkönig ist jetzt ein riesiger Berg: Seine Gliedmaßen werden zu Felsen, aus seinem Haar entwickeln sich riesige Kiefern. Er ist ungeheuer groß. Sein Kopf verliert sich in den Wolken, die den neu geformten Gipfel umgeben. Wir stehen auf halber Höhe eines Berges, den die Götter erschaffen haben müssen. Denn so viel Macht kann ich doch nicht allein haben?
Perseus staunt, was aus Atlas geworden ist. Soweit ich das beurteilen kann, bereut er nichts. Er steckt mich zurück in den Kibisis und beglückwünscht sich dazu, wie erfolgreich er einen weiteren Feind besiegt hat. Ich hingegen bin benommen von der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich gerade geschaffen habe. Der Himmel selbst ruht jetzt auf den Schultern von Atlas: Die Welt hat sich durch mich verändert. Ich frage mich, ob Perseus etwas für die Männer und Frauen empfindet, die in Atlas’ Palast lebten und arbeiteten und die jetzt sicher alle ebenfalls tot sind. Doch darüber denke ich nicht lange nach, denn ich weiß, dass Perseus sich nur für sich selbst und seine ach so geliebte Mutter interessiert.
Der Apfelgarten hat übrigens überlebt. Er wuchs am Fuße des Atlasgebirges weiter und bereitete dem Titanen jeden Tag eine gewisse Freude. Er hielt sich einen Drachen, der die Bäume beschützte, weil alle seine Männer tot waren. Doch schließlich kam ein anderer Sohn des Zeus und raubte ihm die geliebten Äpfel, genau wie Themis es vorausgesagt hatte. Damit verlor Atlas seine letzte Freude und ihm blieb nichts, als das Gewicht des Himmels auf seinen Schultern zu tragen.