Iodame

I hr Vater hatte das Heiligtum für Athene bereits vor ihrer Geburt erbaut, sodass Iodame von Beginn an eine Priesterin war. Als sie aufwuchs, verfolgte sie jeden Schritt der Frauen, die der Göttin dienten, versteckte sich in den Nischen und beobachtete von dort ihre Rituale. Sie wünschte sich so sehr, an ihrer Seite zu dienen, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellte, wenn die Oberpriesterin vorbeikam, um älter zu wirken. Iodame liebte ihre Göttin, und sie liebte ihren Tempel.

Als junge Priesterin arbeitete sie härter als alle anderen. Die älteren Frauen liebten sie, auch wenn sie es leid waren, dass sie immer wieder Fragen zu diesem oder jenem Teil ihrer religiösen Handlungen stellte. Niemand könne dem Kind seinen Enthusiasmus vorwerfen, sagten sie dann. Selbst die schwierigsten und mühsamsten Aufgaben erledigte sie voller Freude. Monatelang ließ man Iodame Wolle kämmen, damit sie das feinste und schönste Gewand für ihre Göttin weben konnten. Sie beklagte sich nie, dass ihre Hände von den Kletten zerkratzt waren oder dass das Fett der Wolle ihre Tunika befleckte. Als das Kämmen beendet war, lernte sie das Spinnen, um ihrer Göttin noch näher zu sein.

Manchmal kamen Jungen aus der Nachbarschaft und beäugten die jungen Priesterinnen so unauffällig wie möglich. Denn sie wussten, dass eine der älteren Frauen, die jeden Tag die Stufen des Heiligtums fegten, sie mit ihrem Besen verjagte, sobald sie entdeckt wurden. Aber die verlockende Ausstrahlung der jungen Frauen, die einer zukünftigen Ehe den Rücken gekehrt hatten, war zu groß. Die Jungen kehrten stets zurück, selbst wenn die blauen Flecken von ihrem letzten Besuch noch nicht verblasst waren. Einige Mädchen machten ihnen tatsächlich Hoffnungen, doch nicht Iodame. Sie hatte einen Bruder – die Körper der Jungen waren für sie kein Geheimnis.

Außerdem liebte sie nur Athene. Sie hatte kaum Interesse an etwas anderem. Iodame empfand eine große Zuneigung gegenüber ihren Eltern, weil diese ihr das Leben geschenkt hatten, auch wenn ihre Geschwister den Priesterinnendienst ablehnten. Sollen sie doch das Leben führen, das sie gewählt haben, dachte Iodame. Für sie selbst war das Leben im Tempel das einzig Wahre. Die älteren Priesterinnen waren so von ihrer Zielstrebigkeit beeindruckt, dass sie ihr schließlich das Weben beibrachten: So war sie das jüngste Mädchen, das jemals bei der Herstellung von Athenes Gewand mitgewirkt hatte.

Jedes Jahr fertigten sie für die Göttin einen neuen Peplos an. Ihre Statue – überlebensgroß, falls Iodame überhaupt in solchen Begriffen von ihrer Göttin denken konnte – wurde aus dem Tempel und durch die Straßen getragen, damit alle die Lapislazuli-Augen und die goldene Haut sehen konnten. Jedes Jahr wurde zu diesem Tag ihr Kleid neu gewebt, damit die Statue zu Ehren ihrer vollkommenen Göttin so vollkommen wie möglich war. Athenes Anhängerinnen und Verehrer musizierten, obwohl Iodame das Flötenspiel noch nicht gelernt hatte. Immerhin konnte sie singen, und schon nächstes Jahr würde sie auch Flöte spielen können. Der Lehrer hatte es ihr versprochen.

*

Iodame webte das feinste und sauberste Tuch, das man sich denken konnte. Sie arbeitete, bis es dunkel war, und dann weiter im Schein der Fackeln. Sie wusste, wenn ihr ein vollkommenes Werk gelänge – jedenfalls nach Maßstäben der Sterblichen –, würde das Kleid ein ganzes Jahr lang die Statue schmücken; das Kleid, an dem sie mitgearbeitet hatte. Dafür musste sogar das Flötenspiel warten. Als Iodame ihr Werk endlich vollendet hatte, wusste sie, dass es gut war.

Am Morgen des Festes beobachtete sie, wie die Priesterinnen der Statue das alte Kleid über den Kopf zogen. Dabei achteten sie sorgfältig darauf, dass es nicht an Athenes Helm hängen blieb. Sie mussten ihr den Speer abnehmen und ihn ihr wieder in die steinerne Hand drücken, sobald der neue Peplos an seinem Platz war. Iodame kam sich seltsam vor, als sie die Statue nackt sah. Aber das Licht spiegelte sich auf der goldenen Haut Athenes, und Iodame glühte wie die Göttin, der sie diente. Sie hatte ihrer Familie gesagt, dass in diesem Jahr ihre Webarbeiten die Statue schmücken würden, und ihr Vater hatte ihr sprachlos vor Stolz auf die Schultern geklopft.

Die Zeremonie war feierlich und freudig zugleich. In diesem Moment waren die Priesterinnen den weltlichen Menschen am nächsten. Als die Statue schließlich in den Tempelbezirk zurückgebracht wurde, waren die Schatten lang geworden und die Zikaden stimmten ihren Gesang an. Athene stand wieder in ihrer Nische, den Speer in der Hand, den Helm im charakteristischen Winkel nach hinten geschoben.

Die Priesterinnen feierten nun ihr eigenes, privateres Fest. Zu Ehren ihrer Göttin schenkten sie Wein aus und brachten ihr Opfergaben dar, dann aßen und tranken sie gemeinsam. Iodame war gleichermaßen müde und überglücklich. Sie wollte nicht, dass dieser Tag zu Ende ging, und doch konnte sie die Augen kaum noch offen halten. Darum entfernte sie sich von den anderen Frauen und versteckte sich hinter einer Säule. Sie lehnte sich dagegen, und die Neigung ihrer Wirbelsäule passte genau in die warmen Kanneluren der Säule. Sie ließ den Kopf sinken, bis ihr Kinn auf den Knien ruhte. Dann schloss sie kurz die Augen.

Als sie aufwachte, war es dunkel im Tempelbezirk. Die Musik war verstummt, die Fackeln waren erloschen. Steckte sie in Schwierigkeiten? Aber wie konnte das sein? Sie fühlte sich durchdrungen von der Liebe zu ihrer Göttin und konnte nicht glauben, dass sie etwas Verbotenes tat. Iodame ging um die Säule herum und blickte blinzelnd in den Himmel: Er war wolkenlos, der Mond nur eine schmale Sichel. Eine Eule flog über sie hinweg, blass in dem schwachen Licht. Iodame lächelte. Es freute sie immer, Athenes Lieblingsvogel zu sehen.

Iodame blickte wieder über den Tempelbezirk. Sie musste immer noch träumen, denn sie konnte ganz deutlich den Rücken ihrer Göttin sehen, die in der Mitte des Heiligtums stand und das neue Kleid ihrer Statue bewunderte. Athene war das vollkommene Spiegelbild ihrer Statue. Iodame dachte, dass es sich um eine Täuschung handeln müsse, und schlich die Säulenhalle entlang, um das vermeintliche Lichtspiel zu vertreiben. Aber weder verschwand die Göttin, noch löste sie sich in den Schatten auf. Iodame stand nun fast auf gleicher Höhe mit ihr und konnte Athenes Profil sehen.

Die Priesterinnen hatten gelegentlich davon gesprochen, dass Athene manchmal ihr Heiligtum besuchte, aber Iodame hatte immer gedacht, dass sie nur ihren größten Wünschen Ausdruck verliehen, nichts weiter. Schweigend stand sie da und betrachtete die Göttin. Ihre Kieferpartie und ihre Nase entsprachen genau denen der Statue. Iodame spürte ihre Hingabe stärker denn je, doch da war auch noch eine andere Empfindung. Dieses unheimliche Gefühl von Vertrautheit beunruhigte sie. Athene stand direkt vor ihr, und sie meinte, ihre Göttin ganz genau zu kennen. Dennoch war sie ihr gleichzeitig fremd, groß und imposant.

Iodame wusste nicht, ob sie sich verstecken oder offenbaren, ob sie sich anbetend niederwerfen oder sich zurückziehen sollte. Als die Göttin den Kopf drehte, blieb Iodame stehen. Sie lief nicht weg und sank auch nicht auf die Knie, sondern neigte den Kopf und erwiderte dann den hellen blaugrauen Blick der Göttin. Athene lächelte. »Du bist meine Priesterin«, sagte sie. »Die, die alle lieben.«

Iodame spürte, wie sie in der Dunkelheit errötete. »Ich glaube schon«, antwortete sie.

»Ja«, sagte Athene. »Ich wollte dich mit eigenen Augen sehen. Komm her.«

Iodame trat aus dem Schatten des Portikus. Ihre Göttin schimmerte in einem goldenen Glanz, den die Statue niemals erreichen konnte. Iodame betrachtete den funkelnden Helm, die glitzernde Speerspitze, das geflochtene Haar, und sie war stolz darauf, dass ihre schwache, leblose Kopie der Göttin so genau gefertigt war, wie es die Sterblichen vermochten. Und sie war besonders froh, dass Athene einen Tag für ihren Besuch gewählt hatte, an dem ihre Statue das neue Kleid trug. Wie hart Iodame daran gearbeitet hatte!

Die echte Göttin trug allerdings etwas, das die Statue nicht hatte. Iodame bedauerte, dass die Priesterinnen dieses Detail übersehen hatten. Es war eine Ägis. War dies das richtige Wort? Ihr Bruder wusste es bestimmt. Es war eine Art lederner Harnisch, der Athenes Brustbein bedeckte und sie noch kriegerischer aussehen ließ. Iodame wollte als Nächstes genau dieses Stück anfertigen, auch wenn sie dafür erst lernen musste, Leder zu bearbeiten. Aber was war das für eine Verzierung in der Mitte? Ein Nest voll Schlangen? Oder … war da noch etwas anderes?

Aber natürlich wurde sie zu Stein, bevor sie es erkennen konnte.