I
n den darauffolgenden Tagen war es heiß. Die Sonne strahlte gleißend hell von einem wolkenleeren Himmel.
Mein Vater war unruhig. Mit finsterem Blick kam er abends von der Arbeit nach Hause. Das passierte immer, wenn er lange nicht mehr jagen gewesen war. Er schlug die Haustür zu, pfefferte die Schlüssel und seine Aktentasche auf den Garderobentisch und begann zu suchen … nach irgendeinem Grund, um an uns seine Wut entladen zu können. Er nahm Zimmer für Zimmer unter die Lupe, inspizierte jedes einzelne Möbelstück, den Fußboden, meine Mutter, Coco, Gilles und mich, schnüffelte überall herum. In solchen Momenten wussten wir, dass es besser war, schnellstens in unseren Zimmern zu verschwinden. Nur meine Mutter konnte das nicht, denn sie musste ja kochen.
Manchmal begnügte er sich hinterher mit einem Knurren und setzte sich vor den Fernseher. Das konnte mehrere Tage lang so gehen. Derweil wuchs jedoch seine Wut. Und am Ende wurde er immer fündig
.
»Was ist das?«
Die Frage kam sanft und leise.
Meine Mutter wusste, dass es böse enden würde, was immer sie auch erwiderte. Sie antwortete trotzdem.
»Schinken-Käse-Makkaroni.«
»Ich weiß
, dass das Schinken-Käse-Makkaroni sind.«
Der Ton seiner Stimme war noch immer ganz sanft.
»Warum hast du Schinken-Käse-Makkaroni gemacht?«
Je sanfter er sprach, desto schrecklicher würde danach sein Wutausbruch sein.
Ich glaube, das waren immer die schlimmsten Minuten für meine Mutter. Wenn ihr bewusst wurde, dass es gleich so weit war. Wenn sie merkte, dass er sie belauerte. Ihre Angst auskostete. Und sich dabei Zeit ließ. Er tat stets so, als hinge alles nur von ihrer Antwort ab. So war das Spiel. Und sie verlor jedes Mal.
»Weil das jeder gern isst, Schinken …«
»JEDER
? WER
IST
HIER
JEDER
?«
Dann ging es los. Das Einzige, worauf sie hoffen konnte, war, dass sich die ganze Wut meines Vaters über sein Gebrüll entlud. Wenn er explodierte, schnellte sein Geschrei wie Granatenhagel aus der Kehle. Um meine Mutter zu vernichten. Um sie in Fetzen zu reißen und in Luft aufzulösen. Mit Letzterem wäre meine Mutter sicher vollkommen einverstanden gewesen.
Wenn das Gebrüll dazu nicht reichte, nahm mein Vater noch die Hände zu Hilfe. Bis auch das letzte bisschen Wut aus ihm heraus war. Am Ende fand sich meine Mutter immer am Boden wieder, reglos und schlaff
wie ein leerer Kissenbezug. Danach, das wussten wir, hatten wir wieder ein paar Wochen Ruhe.
Ich glaube, mein Vater hasste seinen Job. Er arbeitete als Buchhalter in dem Vergnügungspark, der den kleinen Zoo in den Ruin getrieben hatte.
»Die Großen fressen die Kleinen«, pflegte er zu sagen. Die Großen fressen die Kleinen: Der Spruch schien ihm zu gefallen.
Ich fand ja, er hatte Glück, in einem Vergnügungspark zu arbeiten. Wenn ich morgens in die Schule musste, dachte ich oft: »Und mein Vater verbringt den Tag im Vergnügungspark!«
Meine Mutter arbeitete nicht. Sie kümmerte sich um ihre Ziegen, den Garten, um Coco und uns. Es war ihr egal, dass sie kein eigenes Geld hatte. Hauptsache, die Kreditkarte funktionierte.
Ein Nichts zu sein schien meine Mutter noch nie gestört zu haben. Und ebenso wenig, dass keine Liebe zwischen ihr und meinem Vater war.
Der Eiswagen stand noch mehrere Tage vor unserem Haus, und ich zermarterte mir unterdessen den Kopf mit allen möglichen Fragen. Wer wird ihn putzen? Und was passiert nach dem Putzen mit dem Eimer voller Seifenwasser, Blut, Knochensplitter und Hirn: Schüttet man seinen Inhalt ins Grab des alten Eismanns, damit wieder alles beisammen ist? Und was ist mit dem Eis in den Gefriertruhen? Ist es geschmolzen? Und wenn
nicht, wird es noch jemand essen? Und schließlich: Kann ein kleines Mädchen ins Gefängnis kommen, weil es Sahne zu seinem Eis bestellt hat? Wird die Polizei das meinem Vater verraten?
Zu Hause wurde der Tod des Eismanns mit keiner Silbe erwähnt. Vielleicht dachten meine Eltern, dass es das Beste sei, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Oder sie dachten, dass wir das zerfetzte Gesicht des alten Herrn durch die Geburt der Zicklein vergessen hätten. Wobei … offen gestanden glaube ich, dass sie überhaupt nichts gedacht haben.
Gilles blieb drei Tage lang vollkommen stumm. Ich traute mich nicht, in seine großen, grünen Augen zu schauen, denn ich war mir sicher, darin den Film des explodierenden Gesichts ablaufen zu sehen. In Endlosschleife. Er aß auch nichts mehr. Das Kartoffelpüree und der panierte Fisch auf seinem Teller wurden kalt.
Ich versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er folgte mir überallhin wie ein fügsamer Roboter, innerlich war er jedoch versteinert.
Wir besuchten Monica. Unter dem Kinn an ihrem Hals zitterte etwas, als sie erfuhr, was dem alten Eismann widerfahren war. Sie schaute Gilles an. Und ich begann zu hoffen, dass sie etwas für ihn tun konnte. Dass sie einen Kessel für ein Hexengebräu hervorholen würde, oder einen Zauberstab, oder ein altes magisches Buch.
Sie streichelte nur seine Wange.