E s wurde wieder Sommer und mit dem Beginn der Ferien setzte das Verschwinden der Katzen ein.
Sämtlicher Katzen des Viertels.
Überall in der Demo hingen Zettel. Verzweifelte Kinder klingelten mit großen traurigen Augen an sämtlichen Türen und hielten Fotos ihrer kleinen vierbeinigen Gefährten hoch, suchten tagelang, so wie Gilles und ich nach Dowkas Verschwinden.
Ich sagte nichts dazu.
Denn ich wusste Bescheid.
Gilles war ein Serienmörder geworden.
Der Jack the Ripper der Demo-Katzen.
Den Beweis erhielt ich, als ich eines Nachmittags mit Dowka Gassi gehen wollte.
Gilles war nicht da. Er war mit unserem Vater zum Schießstand gefahren. Das war ihr gemeinsames Ritual für den Samstagnachmittag geworden.
Eine neue Art Beziehung war in den letzten zehn Monaten zwischen Vater und Sohn entstanden. Seit er eine Waffe halten konnte, schien Gilles der Aufmerksamkeit unseres Vaters würdig geworden. Er führte mit ihm Gespräche, in denen von Smith & Wesson, Beretta, Pierre Artisan oder Browning die Rede war und bei denen ich sonst kein Wort mehr verstand. Welches Kaliber für welches Tier? Mit welchem Geschoss konnte man am besten die Lederhaut eines Nashorns durchschlagen? Und wie aus mehreren hundert Metern Entfernung ein lebenswichtiges Organ zertrümmern?
An den Jagdpartien meines Vaters durfte mein Bruder vorerst noch nicht teilnehmen. Zuerst sollte er lernen, auf unbewegliche Ziele zu schießen.
Gilles’ Aussehen hatte sich weiter verändert. Nichts an ihm erinnerte mehr an den kleinen sechsjährigen Sonnenschein. Er war nun fast neun Jahre alt und seine innere Chemie hatte sich komplett gewandelt. Ich war mir sicher, dass es am Geschmeiß in seinem Kopf lag, das mehr und mehr Schaden anrichtete. Sogar sein Geruch war nicht mehr derselbe. Als wäre sein kindlich-süßer Duft gekippt. Er roch nun nach etwas Bedrohlichem, ganz leicht nur, aber ich nahm es wahr. Er verströmte es mit seinem Lächeln. Seinem »neuen Lächeln«, einer grinsenden Grimasse, die einem sagte: »Komm noch einen Schritt näher und ich reiß dich in Stücke.«
Ja, das neue Lächeln meines Bruders stank.
Und trotzdem bewahrte ich sein düsteres Geheimnis .
An dem Tag suchte ich eine alte Kassette, auf der ich ein Album von den ›Cranberries‹ aufgenommen hatte. Als ich sie nicht in meinem Zimmer fand, schaute ich bei Gilles nach. Sie lag versteckt in einer Schublade seines Schreibtischs. Ich legte sie in meinen Walkman und lief mit Dowka nach draußen.
Ich ging jeden Tag mit meiner Hündin Gassi. Ich streifte gern mit ihr über die Felder und durch den Wald. Und sie jagte gern hinter den Hasen her. Das war das Erbe des Jack Russell Terriers in ihr.
Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanien rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde. Das Bühnenbild wechselte zwar je nach Jahreszeit, aber jedes Jahr kehrte der Sommer wieder mit seinem Licht, seinem Duft und den Brombeeren, die an den Dornenzweigen am Wegrand wuchsen.
Oft begegnete ich bei meinen Runden der Feder, die ihren kleinen Sohn Takeshi im Buggy spazieren fuhr. Dann gingen wir ein Stück zusammen. Sie roch immer noch nach Kuchenteig und sie redete viel. Ich hörte ihre Stimme gern, sie hatte einen ganz leichten Akzent, der mich an Ratatouille und Lavendel denken ließ.
Mit der Zeit lernte ich ihre Gewohnheiten kennen und passte die Zeit meiner Spaziergänge entsprechend an, um meine Chancen auf ein Treffen zu erhöhen. Ohne dass es mir wirklich bewusst wurde, waren mir die gemeinsamen Momente mit der Feder unendlich kostbar geworden.
Sie erzählte mir, dass sie als Erzieherin an einer der umliegenden Schulen arbeitete und der Karate-Champion dort Sportlehrer war.
»Er war mal wirklich ein Champion, weißt du. Vor ein paar Jahren kam er sogar in die Auswahl für die Weltmeisterschaft in Sidney. Aber am Abend vor der Abreise stürzte er in der Dusche und brach sich das Steißbein. Damit war seine Karriere vorbei. Er hat es nie wirklich verwunden.«
Auch an jenem Samstagnachmittag ging ich mit Dowka zunächst in der Demo spazieren in der Hoffnung, der Feder zu begegnen.
Je strahlender draußen die Sonne schien, desto grauer wirkten die Hausfassaden unseres Viertels. Wie bei einer schonungslosen Röntgenaufnahme offenbarte das helle Licht das ganze Ausmaß seiner Tristesse. Selbst bei so optimalen Wetterbedingungen würde es immer abgrundtief hässlich bleiben.
Ich kam an einem winzigen Garten vorbei, in dem ein dickbäuchiger Mann auf einem schmuddeligen Plastikliegestuhl schlief. Er hatte nur eine Badehose an und von deren Oberkante an aufwärts war seine Haut rot, die Beine dagegen weiß, sodass ich unwillkürlich an Himbeer-Panacotta denken musste. Ein Stück weiter wusch ein anderer Fleischberg mit nacktem Oberkörper sein Auto. Und da plötzlich kam mir wieder der Karate-Champion in den Sinn und ich fragte mich, wie es möglich war, dass sich innerhalb der Spezies Mensch zwei so unterschiedliche Körperbautypen herausgebildet hatten. Durch das viele Lernen hatte ich offensichtlich einen Hang zu wissenschaftlichem Denken entwickelt.
Ich begegnete einem kleinen Mädchen, das in Gilles’ Alter sein musste, vielleicht auch etwas jünger. Es klebte einen Zettel mit dem Foto einer Katze an den Pfosten eines Verkehrsschilds. Ich schlug die Augen nieder und beschleunigte meine Schritte.
Ich erreichte ihr Haus in dem Moment, da sie den Buggy nach draußen schob. Sie lächelte mich an.
Wir ließen die Demo hinter uns, um gemeinsam in Richtung Felder zu gehen. Takeshi war ruckzuck in seinem Buggy eingeschlafen und ich dachte, dass es zu den tollsten Dingen auf dieser Welt gehören musste, in der Sonne friedlich schlafend in einem Buggy spazieren gefahren zu werden.
Die Feder strich mit einer sanften Kopfbewegung ihr langes Haar zurück.
»Ich bin schwanger. Es wird ein Mädchen«, sagte sie lächelnd, und etwas in ihrer Stimme verwandelte mein Herz in eine Schneekugel, in der nun tausend glitzernde Partikel herumwirbelten. Dieses Kind war noch nicht einmal geboren und es hatte in seiner Mutter bereits mehr Liebe hervorgerufen, als ich in meinen beiden Eltern zusammen in zwölf Jahren Lebenszeit. Doch ich empfand keine Bitterkeit deswegen. Im Gegenteil: Der Gedanke hatte etwas Tröstliches, gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Genau in dem Augenblick wurde mir klar, dass ich für die Feder große Zuneigung empfand.
Plaudernd gingen wir noch eine knappe Stunde weiter, bevor wir uns vor ihrem Haus in der Demo wieder verabschiedeten und Dowka und ich uns auf den Weg nach Hause machten.
Der Dickbäuchige schlief noch immer auf seinem Liegestuhl, inzwischen allerdings auf dem Bauch. Seine Rückseite war rot von oben bis unten. Ich dachte an ein bösartiges Melanom.
Dann fiel mir ein, dass ich meinen Walkman dabeihatte. Ich setzte die Kopfhörer auf und drückte auf »Play«.
Was ich hörte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Das war nicht die Stimme von Dolores O’Riordan von den ›Cranberries‹.
Es waren markerschütternde Schreie.
Schreie von gequälten Katzen .
Ich riss die Kopfhörer herunter und unterdrückte ein Würgen.
Ich wusste schon lange, dass Gilles jedes Mal, wenn der Eiswagen vorbeifuhr, seinen Walkman aufsetzte. Ich wusste, dass er das tat, um nicht mehr den ›Blumenwalzer‹ zu hören. Aber ich hatte geglaubt, dass er stattdessen andere Musik eingelegt hatte.
Was sollte ich mit der Kassette nun tun?
Mein erster Gedanke war, sie zu zertrümmern, damit sie das Geschmeiß in seinem Kopf nicht länger nähren konnte. Die furchterregende Szene in ›Jurassic Park‹ kam mir in den Sinn, als mithilfe einer Stahlwinde eine Kuh in das Gehege eines Velociraptor-Sauriers hinabgelassen wurde. Man sah nur, wie sich das Gebüsch bewegte, hörte dann einen ohrenbetäubenden schrillen Schrei und kurz Gemampfe, und einen Augenblick später wurde die Stahlwinde wieder hochgezogen, leer und vollkommen verbogen. Und das Geschmeiß im Kopf meines Bruders war mindestens so gefräßig und gierig wie diese Velociraptoren.
Andererseits, was passierte, wenn er die Kassette nicht mehr fand? Gut möglich, dass er einfach eine neue aufnehmen würde. Und mein Schweigen machte mich auch so schon genug zur Mittäterin, da wollte ich nicht noch weitere gefolterte Tiere auf dem Gewissen haben.
Als ich nach Hause kam, schaffte ich es gerade noch, die Kassette an ihren Platz zurückzulegen, bevor er mit meinem Vater vom Schießstand zurückkam .
Die Annäherung zwischen meinem Vater und meinem Bruder verstärkte mehr und mehr mein Gefühl der Einsamkeit.
Meine Beziehung zu Gilles war im Eimer, solange ich es nicht schaffte, die Zeit zurückzudrehen und die Vergangenheit zu ändern. Und ich wusste ebenso, dass von meinem Vater niemals Nähe zu erwarten war – denn ich war ja nur ein Mädchen.
Selbst wenn ich mich interessiert gezeigt hätte an Waffen und der Jagd, sie hätten mich nicht in ihrem Club aufgenommen. Manchmal versuchte ich zwar noch, mich in ihre Gespräche einzumischen, doch das Einzige, was ich zu hören bekam, war ein »Das verstehst du nicht«.
Ich regte mich nicht darüber auf. Ich nahm es damals als gegeben hin, dass ein Junge mehr wert war als ein Mädchen und es Bereiche gab, zu denen ich keinen Zutritt hatte. Das war normal, so war es eben, wahrscheinlich war es genetisch vorbestimmt, sagte ich mir. Marie Curie konnte ich mir schließlich auch nicht mit einer AK -47 in den Händen vorstellen.
Und es war auch ganz klar, der Erbe, den mein Vater sich wünschte, konnte nur ein Junge sein. Nicht umsonst hatte er meiner Mutter nach mir noch ein zweites Kind gemacht: Er musste einfach einen Jungen haben. Wenn Gilles ein Mädchen geworden wäre, hätte meine Mutter sicher noch eine dritte Schwangerschaft über sich ergehen lassen müssen.
Was mich allerdings verblüffte, war die Tatsache, dass mein Vater sich erst für Gilles interessierte, nachdem die Hyäne sich in dessen Kopf eingenistet hatte.
Mein Vater mochte folglich das Geschmeiß und tat, was er konnte, um es zu füttern.
Nicht zuletzt deshalb ging ich immer mehr auf Abstand und war immer öfter allein.
Hinzu kam, dass sich in den vergangenen Monaten mein Körper stark verändert hatte. Alles hatte sich merklich gerundet, meine Brüste natürlich, aber auch meine Schenkel, meine Hüften und mein Hintern.
Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, und ich schenkte dem zunächst auch keine große Beachtung, aber ich bemerkte sehr wohl, dass sich gleichzeitig mit meinem Körper auch die Blicke der anderen verändert hatten. Vor allem die meines Vaters. Ich war von einem unbedeutenden kleinen Etwas zu einem abstoßenden kleinen Etwas geworden. So, als hätte ich irgendetwas Böses angestellt.
Und manchmal ertappte ich auch Gilles dabei, wie er mir auf die Brüste starrte, die sich unter meinem T-Shirt abzuzeichnen begannen, und in seinem Blick meinte ich fast etwas Vorwurfsvolles zu sehen. Er gab mir das Gefühl, mich in eine widerwärtige Kreatur verwandelt zu haben.
Angesichts dieser Entwicklung wäre es logisch gewesen, wenn ich mich meiner Mutter angenähert hätte. Nur: Wie baute man eine Beziehung zu einer Amöbe auf ?
Ich versuchte es – aber die Unterhaltungen mit ihr kamen nie über Banalitäten hinaus. »Iss dein Püree auf«, »Du brauchst neue Schuhe«, »Die Sonne wird Muskats Schuppenflechte guttun«.
Trotzdem half ich ihr von Zeit zu Zeit gern im Garten. Denn wenn wir einen Nachmittag lang schweigend zusammen Unkraut ausrissen, hatte ich das Gefühl, dass so was wie stilles Einverständnis zwischen uns herrschte.