A ls ich eines späten Nachmittags von Professor Paw- lović zurückkam, spürte ich, während ich auf un- ser Haus zuging, ein leises Unbehagen.
War es die Stille? Die Wellensittiche zwitscherten nicht. Sogar der Wind schwieg. Oder war es das Verhalten von Dowka, die nah bei mir blieb, mit eingeklemmtem Schwanz, obwohl sie sonst immer weit vorauslief? Ich wusste es nicht. Aber die Hyäne streifte ganz in der Nähe umher, dessen war ich mir sicher.
Eigentlich fühlte ich mich gut an diesem Tag. Sehr gut sogar. Eben war ich dem Champion begegnet, vor seinem Haus. Er war gerade aus seinem Golf gestiegen.
Als er mich sah, lächelte er mir zu und kam näher, legte seine Hand auf meinen unteren Rücken und küsste mich zur Begrüßung auf die Wange. Die Berührung verwandelte mich in eine lebende Fackel, ich kam mir vor wie eine dieser Zeichentrickfiguren, wenn sie zwei Finger in eine Steckdose hielten. Sie hinterließ in meiner Nierengegend eine Spur auf der Haut, von wo aus kleine pulsierende Wellen zu meinen Oberschenkeln gingen.
In dieser Verfassung war ich also, als ich unser Haus betrat, und wenn sich die Hyäne nicht einmischte, würde dieser Zustand noch mehrere Stunden andauern, das wusste ich.
Meine Mutter bügelte im Wohnzimmer. Ich ging nach oben. Gilles spielte im Zimmer der Kadaver mit seinem Gameboy. Alles schien normal.
Ich setzte mich in meinem Zimmer auf die Fensterbank und dachte an den Körper des Champions, an seinen Blick, an seine Hand auf meinem Rücken und spürte wieder die heiße Kugel in meinem Bauch. Stundenlang hätte ich so verharren können. In meine Gedanken versunken, erfüllt, in vollständigem Einklang mit meinem Körper und meinen Empfindungen …
Da hörte ich meine Mutter im Garten gellend schreien. Ich konnte sie durch die Äste der Eiche nicht sehen, aber es kam vom Ziegengehege. Ich kannte ihre Schreie, wenn Wut und Whisky meinen Vater ausrasten ließen. Aber das waren die spitzen Schreie einer durchsichtigen Amöbe. Nicht zu vergleichen mit denen, die die Stille dieses Spätnachmittags zerrissen.
Ich rannte hinunter in den Garten. Meine Mutter kniete mit dem Rücken zu mir im Morast und beugte sich über etwas, das ich vom Gatter aus nicht gleich erkannte. Ich trat näher.
Kümmel .
Der Bock lag in seinem noch frischen Blut. Meine Mutter hatte ihre Lippen auf das Maul des Tieres gepresst und versuchte vergeblich, es wiederzubeleben.
Anstelle der Augen starrten mir zwei blutige Höhlen entgegen. Die Ohren waren abgerissen und lagen ein Stück entfernt im Dreck. Die Kehle war so tief durchgeschnitten, dass der Kopf nur noch durch die Wirbelsäule mit dem Rumpf verbunden war. Und der Leib war an so vielen Stellen aufgeschlitzt, dass kein Zentimeter Fell blieb, das nicht blutverschmiert war.
Trotzdem ließ meine Mutter nicht von der Mund-zu-Mund-Beatmung ab. Ich schaute ihr einen Augenblick lang zu und fragte mich, ob sie mit der gleichen Energie auch um Gilles’ oder mein Leben gekämpft hätte.
Ich fasste sie an den Schultern und zog sie hoch.
»Komm, du kannst nichts mehr für ihn tun.«
Sie stieß ein durchdringendes Heulen aus. Dann brach sie in Schluchzen aus, drehte sich zu mir, stürzte in meine Arme und begann zu weinen. Eine trostsuchende Geste, aber nicht nur: Ich spürte Liebe darin. Ja, ich glaubte sogar, so etwas darin zu erkennen wie: »Was, wenn dir so etwas zustößt, mein Schatz?«
Aber vielleicht irrte ich mich auch. Wir blieben ein paar Minuten lang so, hielten uns in den Armen und weinten. Ich weinte, weil ich einmal mehr das Lachen der Hyäne hörte, das mich in Angst und Schrecken versetzte. Aber auch, weil mir meine Mutter auf einmal so nah war und ich tiefe Liebe für sie empfand. Und ich weinte um den Verlust meines kleinen Bruders. Indem das Geschmeiß ihn dazu gebracht hatte, Kümmel umzubringen, hatte es der letzten Bastion des Widerstands in seinem Kopf, dem Dorf der unbezwingbaren Gallier, einen weiteren harten Schlag versetzt und ich bezweifelte, dass es dort noch Überlebende gab.
Eine Welle der Müdigkeit schwappte über mich und ich fragte mich, ob das alles die Mühe wert war. Ob ich nicht noch viel zu klein und zu schwach war, um diesem gruseligen Chaos die Stirn zu bieten, das entschlossen schien, mein Leben auf unheilvolle Weise zu durchdringen. Ich hatte eine Riesenlust, auf der Stelle einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen.
Doch dann wurde mir kalt. Es klingt bescheuert, aber so einfach war das. Mir wurde kalt und ich wollte nur noch rein ins Haus. Ich packte meine Mutter am Arm und zog sie mit. Sie folgte mir bereitwillig. Auch sie war sterbensmüde, und das sicher noch mehr als ich. Und ich fragte mich einmal mehr, wie sie das alles überhaupt aushielt.
Ich brachte sie zum Sofa, schaltete den Fernseher ein, damit er ihr Gesellschaft leistete, und ging hoch zu Gilles in den Raum mit den Jagdtrophäen.
Er hockte neben der Hyäne auf dem Boden. Er musste das markerschütternde Geheul meiner Mutter gehört haben, es war gar nicht anders möglich.
»Warum hast du das getan?«
Er wandte den Blick nicht von seiner Spielkonsole ab.
»Warum habe ich was getan? «
»Das weißt du ganz genau.«
Er antwortete nicht.
»Hast du Mamas Schreie nicht gehört?«
»Ich hatte meinen Walkman auf.«
Er war über seinen Gameboy gebeugt. Ich versetzte ihm einen Tritt gegen den Oberschenkel. Mit aller Kraft, der ich fähig war. Ein dumpfes Geräusch war zu hören.
Er lachte.
Er war groß geworden. Seine hagere Gestalt erinnerte an einen großen Vogel. Einen Aasgeier.
Auch sein Haar war dunkler geworden. Er ließ es wachsen, was ihm einen spießigen Siebzigerjahre-Look verlieh. Trotz allem war er noch ein hübscher Junge. Vor allem seine übernatürlich grünen Augen waren schön. Er glich einer Figur aus einem Buch von Stephen King. Ich fragte mich, was für ein Junge er wohl heute wäre, wenn damals der Unfall mit dem Eismann nicht geschehen wäre.
Ich blickte auf die ausgestopften Tiere um uns herum. Er war einer von ihnen geworden. Eine Trophäe der Spezies Mensch inmitten all der Exemplare aus der Tierwelt. Versunken in sein Spiel, schien er meine Anwesenheit bereits vergessen zu haben.
Ich ging wieder hinunter zu meiner Mutter. Sie saß immer noch auf dem Sofa. Aber sie hatte mit dem herzzerreißenden Schluchzen aufgehört. In sich zusammengesunken, die Beine zur Brust hochgezogen, schaukelte sie wimmernd vor und zurück. Im Fernsehen pries ein Werbespot die Vorzüge einer Frikadellenmarke an.
Ich schaltete aus.
In dem Moment kam mein Vater von der Arbeit nach Hause. Ich erklärte ihm, was geschehen war.
»Pah, das war bestimmt ein Hund. Die Deppen hier im Viertel haben nicht die geringste Ahnung, wie man einen Köter erzieht.«
»Das war kein Hund! Ein Hund reißt einer Ziege nicht die Ohren aus und quält auch kein Tier. Und vor allem schlitzt ein Hund keinem mit einem sauberen Schnitt die Kehle auf.«
Es war das erste Mal, dass ich meinem Vater widersprach – und sein Gesichtsausdruck zeigte mir, dass ich damit einen schweren Fehler beging.
Meine Mutter tauchte kurz aus ihrem tiefen Schmerz auf.
»Dein Vater weiß, was er sagt. Er kennt sich aus, er sieht ständig Tierkadaver.«
»Aber er hat Kümmel noch nicht mal gesehen!«
»Es war ein Hund, sage ich dir. Ende der Diskussion.«
Nach dem Abendessen verbuddelte mein Vater Kümmels Leiche im Galgenwäldchen.