Der letzte Tote
Die kleinen Rädchen quietschten leise, während der Sarg langsam in das Erdloch hinuntergelassen wurde. Lara fragte sich, warum sie nicht geölt worden waren. Seltsam, welche Kleinigkeiten einen störten. Vermutlich lenkten diese Gedanken sie von der Tatsache ab, dass ihr Vater in dem Sarg lag.
Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, als Jo und Karin ihr von Peters Tod erzählt hatten. Man hatte seine Leiche am Spreeufer gefunden. An dem Ort, an dem auch sein Laptop gelegen hatte. Todesursache war laut Polizei Herzversagen. Doch das erklärte nicht, warum Peter tagelang verschwunden gewesen war, um dann tot am Ufer des Flusses aufzutauchen. Spuren von Fremdeinwirkung hatte es nicht gegeben. Genauso wenig wie Fußabdrücke, die seinen Weg durch das dichte Gras hätten nachweisen können. Es war, als hätte ihn jemand tot vom Himmel geworfen. Was für die Polizei Anlass genug war, ein Verbrechen nicht auszuschließen.
Die ganzen Umstände gaben den Beamten Rätsel auf, die sie durch Laras Rückkehr zu lösen hofften. Aber sie war ihnen keine große Hilfe.
Jo und Karin hatten sie erwartungsvoll angesehen. Sie hatten damit gerechnet, dass Lara emotional zusammenbrechen würde. Schließlich hatte sie die Reise in den Schwarzwald nur angetreten, um Peter zu finden. Aber sie war nicht zusammengebrochen. Sie war nicht einmal überrascht gewesen. Mein Vater kommt nicht zurück.
Das hatte sie zu Timo gesagt, kurz
nachdem sie im Mummelsee aufgetaucht waren. Sie empfand eine Gewissheit wie das Gefühl nach einem Traum, an den man sich nicht mehr erinnern konnte, der aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.
Woher kam dieser Eindruck? Wo doch alles andere, was ihr Verschwinden betraf, nichts weiter war als ein großes Fragezeichen?
Mit einem leisen Poltern erreichte der Sarg den Grund des Bodens. Jemand stöhnte. Als Mila ihre Hand drückte, wurde Lara bewusst, dass sie es selbst war.
Ihre sechsjährige Cousine stand neben ihr und starrte auf das frisch ausgehobene Grab. Angespannt und grübelnd. Lara war erstaunt, dass der Tod ihres Vaters das Mädchen so sehr mitnahm. Mila hatte Peter nie kennengelernt. Auch Lara kannte sie erst seit einem Monat. Und von diesem Monat war sie zehn Tage verschwunden gewesen. Milas Mutter Karin hatte betont, dass ihre Tochter schon immer sehr sensibel gewesen war. Und dass sie wahrscheinlich nach einer Möglichkeit suchte, Lara aufzuheitern. Aber sie wurde den Verdacht nicht los, dass mehr hinter der ständigen Grübelei des Kindes steckte. Es wirkte auf sie ohnehin nicht wie eine typische Sechsjährige, sondern fast wie eine Erwachsene, die schon viel mehr gesehen hatte als die meisten anderen.
Sie schielte zu Milas anderer Hand, die eine weiße Lilie festhielt. Unter dem Blumenstengel linste das Auge hervor, das Mila sich immer noch auf die innere Handfläche malte. Obwohl Lara wusste, dass es gezeichnet war, wirkte es erstaunlich lebendig. Manchmal
hatte sie den Eindruck, dass es sie mit seinem Blick verfolgte.
Als sie Mila kennengelernt hatte, hatte diese behauptet, mit dem Auge in andere Welten blicken zu können. Inzwischen betonte sie jedoch ständig, dass das alles nur Einbildung gewesen wäre. Dass sie natürlich nicht in andere Welten blicken konnte. Dass es diese anderen Welten gar nicht gab. Aber wenn Mila wirklich die Fantasiewelt eines Kindes hinter sich gelassen hatte, warum malte sie sich dann weiterhin das Auge auf die Hand?
Begüm trat an Lara heran. »Bist du in Ordnung?«
Ihr Anblick trieb Lara die Tränen in die Augen.
»Ach, Schätzchen. Blöde Frage.« Begüm drückte sie an sich und schluchzte ebenfalls. Sie hatte Peter besser gekannt als jeder andere hier auf dem Friedhof, von Jo und Karin einmal abgesehen. Dennoch wusste Lara, dass ihre Tränen nicht Peter galten. Sondern Ayse.
Begüm räusperte sich und rückte ihr Kopftuch gerade. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und mühte sich um ein Lächeln. Lara war unendlich dankbar dafür, dass Ayses Mutter hier war. In Berlin hatte sie die Rolle der Ersatzmama übernommen, da ihre eigene Mutter schon seit Langem tot und Lara aufgrund der langen Arbeitszeiten ihres Vaters viel allein gewesen war.
»Ich weiß, es klingt abgedroschen. Aber ich glaube fest daran. Dein Vater ist jetzt an einem besseren Ort. Genau wie Konrad. Und Frau Meier.«
Laras Patenonkel und die Hausverwalterin in Berlin, die Lara schon seit ihrer Kindheit gekannt hatte. Beide waren sie in den zehn Tagen ihres Verschwindens gestorben. Frau Meier war an einem Muffin erstickt. Man hatte
ihre Wohnung aufgebrochen, nachdem sie für zwei Tage nicht aus ihr herausgekommen war. Anscheinend war die ganze Wohnung voll mit Müll gewesen. Die Frau, die ständig hinter Lara her gefegt hatte – ein Messie.
Konrad war vom Katzenbuckel gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen, als er versucht hatte, Lara das Computerprogramm Styx
abzunehmen. Man hatte seinen Leichnam zurück nach Berlin gebracht und ihn dort beerdigt.
Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie besessen Konrad von dem Programm gewesen war. Er hatte sie deswegen sogar bedroht. Das Geheimnis um Styx
hatte er mit ins Grab genommen.
Sie drückte kurz Milas Hand und ließ sie dann los. Langsam trat Lara an das tiefe Loch heran, neben dem ein Erdhügel aufgetürmt war, in dem eine kleine Schaufel steckte. Den ganzen August über war es heiß und trocken gewesen. Heute, am ersten September, lag dichter Nebel über dem kleinen Friedhof. Es war ein kalter Morgen. Genau wie Lara sich fühlte. Sie warf die weiße Lilie auf den Sarg aus Pinienholz. Ihr schwindelte, wie so oft in den letzten zwei Wochen. Einen Moment lang schloss sie die Augen und wartete, bis der Schwindel vorüber war. Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie auf das schlichte Holzkreuz, das vor ihr neben dem Erdhügel stand.
Peter Feingeist
10.10.1975–12.08.2015
Nichts ist für immer
Nicht einmal
der Tod
Lara hatte die gleiche Inschrift wie auf dem Grabstein ihrer Mutter gewählt. Ihr Onkel Jo hatte veranlasst, dass die Überreste ihrer Mutter in einer Woche von Berlin hierher überführt werden würden, damit die beiden nach ihrem Tod wieder vereint waren. Er hatte auch die ganze Beerdigung organisiert. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie die Feier im kleinsten Kreis abgehalten. Nur Jo, Karin, Mila und Begüm. Und Timo vielleicht. Aber Jo hatte Lara klargemacht, wie wichtig diese Beerdigung war. Der Kreislauf von Leben und Tod wurde zelebriert und würde für einen Tag so etwas wie Normalität in das Dorfleben zurückbringen.
Lara fragte sich, warum ausgerechnet ihr Vater dafür herhalten musste. Aber als sie den Blick über die Gesichter der Dorfgemeinde schweifen ließ, verstand sie, was Jo gemeint hatte.
Der Pfarrer hob segnend die Arme. »Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der darauf saß; vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und es wurde keine Stätte für sie gefunden. Und ich sah die Toten, groß und klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten heraus, die darin waren, und der Tod und sein Reich gaben die Toten heraus, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken.«
Eine Frau schluchzte. Sie sah aus, als wäre sie mindestens hundert Jahre alt. Ein kleiner Mann trat neben
sie und legte den Arm um ihre schmalen Schultern. Lara wusste, dass auch diese Dame nicht um ihren Vater weinte, den sie vermutlich nur als jungen Mann gekannt hatte. Schließlich hatte Peter das Dorf mit Lara kurz nach Majas Tod verlassen. Das war jetzt 12 Jahre her.
Nein. Die alte Frau weinte nicht um Laras Vater. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was in den letzten Wochen passiert war. Oder was eben nicht
passiert war. Schließlich war dies die letzte Beerdigung, die es seit drei Wochen in diesem Dorf und der Umgebung gegeben hatte. Denn seit dem Tag, an dem Lara und Timo aus dem Mummelsee aufgetaucht waren, war niemand mehr gestorben.
Pro Sekunde starben im Schnitt zwei Menschen. Das waren 120 Menschen pro Minute, 7.200 Menschen pro Stunde und 172.800 Menschen am Tag. Lara hatte es nachgerechnet. Nach zwei Wochen sprangen auf der Erde also plötzlich 2.419.200 Menschen mehr herum, als es statistisch der Fall sein durfte.
Das lag allerdings nicht daran, dass die Menschen plötzlich nicht mehr krank oder alt wurden, keine Unfälle hatten oder sich gegenseitig umbrachten. Die menschlichen Körper gaben weiterhin den Geist auf. Aber anstatt tot umzufallen, blieb der Funken des Lebens, die Seele, das Ich, oder wie auch immer man es nennen wollte, am Körper haften. Die Personen konnten weiterhin sprechen und handeln, auch wenn kein Herzschlag mehr zu verzeichnen war. Sie liefen als lebende Tote umher. Verzweifelt und verwirrt über ihren Zustand. Und voller
Schmerzen.
Erst gestern war eine solche Gestalt bei Jo in der Apotheke aufgetaucht. Friedhelm Lichtlein aus dem Pflegeheim im Ort. Eine ältere Frau hatte ihn begleitet und mehr Morphium verlangt. Sie war ziemlich forsch gewesen. Denn das Pflegeheim hielt sich an die vorgeschriebene Dosis, die Herrn Lichtlein aber schon seit Tagen nicht mehr gegen seine Schmerzen helfen konnte.
Lara hatte nicht aufhören können, den Mann anzustarren. Die Haut grau, Arme und Beine hatten gezittert. Obwohl die Dame ihn offensichtlich parfümiert hatte, hing der Geruch der Verwesung an ihm.
Lara hatte gehört, dass die meisten Verstorbenen einfach weitermachten. Sie gingen ihrem Tagesgeschäft nach und versuchten zu ignorieren, was mit ihnen geschah. Manchen sah man den Tod nicht einmal an. Andere lagen unter unermesslichen Schmerzen in ihren Betten und flehten mit stummen Blicken, dass ihr Leben endlich ein Ende fand. Aber das tat es nicht. Und keiner verstand, warum.
Angesichts dieser Tatsache waren die Menschen völlig überfordert. Dieser Zustand war gegen alle Logik. Gegen alles, was man kannte. Die Grundprinzipien von Leben und Tod waren auf den Kopf gestellt. Und es gab keine Erklärung dafür.
Laut den Nachrichten hatten Wissenschaftler und Ärzte längst begonnen, das Phänomen zu untersuchen. Offizielle Stellungnahmen blieben jedoch aus. Offenbar fand niemand die passenden Worte für diese Angelegenheit. Die Menschen mutierten nicht wie in zahlreichen Hollywoodfilmen zu grotesken Zombies.
Der Verstand blieb, der Herzschlag nicht. In den großen Städten machte sich die zunehmende Anzahl an lebenden Toten natürlich viel deutlicher bemerkbar als hier, in diesem 2.500-Seelen-Dorf.
Begüm telefonierte jeden Tag mit ihren Söhnen und ihrem Mann, die in Berlin geblieben waren. Sie hatten erzählt, dass immer mehr Verstorbene verwirrt durch die Straßen liefen. Auf der Flucht vor dem Leben. Sie begriffen einfach nicht, was mit ihnen geschah.
Das Phänomen ging um die ganze Welt. Es machte keine Ausnahme vor Kultur, Alter oder Reichtum. Jeder kannte irgendwen, der eigentlich unter die Erde gehörte und immer noch mit klarem Verstand herumlief. Die Welt hatte ein globales Problem. Nie zuvor hatten die Nationen so regen Kontakt gehabt wie im Moment. Alle anderen Probleme oder Streitigkeiten traten in den Hintergrund.
Aber in keinem anderen Land brachte die neu errungene Unsterblichkeit so viel Chaos mit sich wie in Israel. Lara hatte die Berichte im Fernsehen verfolgt. Die Anhänger der drei großen Religionen sahen die Ereignisse als die Ankündigung der bevorstehenden Rückkehr des Messias und versammelten sich um den Tempelberg, um den jeweiligen Erlöser willkommen zu heißen. Die Stimmung war aufgeheizt, und die Tatsache, dass keiner der Erlöser sich blicken ließ, machte es nicht besser. Manche Juden warfen den Muslimen vor, ihre Moschee sei schuld daran, dass ihr Messias den Weg zum Tempelberg nicht fände. Manche Muslime wiederum warfen den Juden vor, die Rückkehr Jesu zu verhindern, der nicht als Sohn Gottes, wie die
Christen glaubten, sondern als Imam der Muslime zurückkehren würde. Dazwischen versuchten die Christen, sich einen Weg zu bahnen. Sie alle waren verunsichert.
Denn während sie stritten und zankten, blieb der Tod aus.
Lara konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, welche Ironie das Ganze barg. Ihr Leben lang hatte sie Angst vor dem Tod gehabt. Die Menschheit hatte alles unternommen, um das Leben so lange wie möglich zu verlängern. Den Tod auszutricksen. Doch jetzt, da er ausblieb, herrschte Chaos. Angst verbreitete sich. Wie sollte es weitergehen, wenn niemand mehr starb?
Deshalb hatte Jo der Gemeinde mit dieser Beerdigung die Möglichkeit geben wollen, für einen Tag wieder so etwas wie Normalität zu empfinden.
Laras Blick wanderte zurück zum Sarg ihres Vaters, auf den der Pfarrer nun etwas Erde warf. Warum, fragte sie sich. Warum war ihr Vater der Letzte im Ort gewesen, der gestorben war? Warum hatte er nicht der Erste sein können, der nicht mehr starb? Hätte er nur vier Tage länger gelebt …
Jo und Karin gingen Hand in Hand zu dem Erdhügel. Beide sahen zu Lara, ehe sie mit der kleinen Schaufel etwas Erde aufnahmen und ins Loch fallen ließen. Jo hatte tiefe Ringe unter den Augen, die seine große Nase noch mehr betonten. Auch Karin sah mitgenommen aus. Um ihre braunen Augen, die sonst immer vor Lebensfreude leuchteten, hatten sich tiefe Schatten gebildet.
Lara wusste, dass Karin sich Vorwürfe machte. Sie hatte mit Cem gesprochen. Und geahnt, dass er noch eine Kopie des Programms besaß. Aber sie
hatte nichts unternommen. In der Hoffnung, dass Cem von selbst zu ihr kommen würde. Dafür war es jetzt zu spät.
Laras Gedanken überschlugen sich. Es waren nicht nur der Tod ihres Vaters oder der Umstand, dass seit ihrer eigenen Rückkehr von wo auch immer niemand mehr gestorben war, die sie in der Nacht wach hielten. Es war auch nicht allein Ayses und Cems Verschwinden. Oder der Fakt, dass Lara und Timo absolut keine Erinnerung daran besaßen, wo sie selbst zehn Tage lang gewesen waren. Was Lara am meisten beschäftigte, war das dumpfe Gefühl, dass all diese Ereignisse zusammenhingen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie sah auf und blickte in Begüms freundliches Gesicht. Die ehrwürdige Dame
, wie ihr Name bedeutete. Selten hatte ein Name so gut zu einer Person gepasst, fand Lara.
»Du musst die Erde werfen.«
Erst jetzt wurde sie sich bewusst, dass sie alle anstarrten. Sie nahm ebenfalls die kleine Schaufel und stieß sie in die dunkle Erde.
Nie wieder. Sie würde ihn nie wiedersehen.
Ein erneuter Schwindel setzte ein, als die Erde auf den Sarg niederprasselte.
Rumms!
Eine weitere Schaufel Erde landete auf dem hellen Pinienholz. Der Sarg war mittlerweile fast komplett überdeckt von Erde und Lilien. Die alte Frau, die bei der Predigt geweint hatte, griff nach Laras Hand und drückte sie fest. Sie spürte die Schwielen an ihrer Haut, während sie in die trüben Augen starrte.
»Du bist jetzt eine von uns.« Die Frau ließ sie los und humpelte gebückt weiter zu Jo und Karin, die neben ihr standen
.
Jo hielt Mila an den Schultern fest. Entweder, um sie zu trösten, oder um selbst Halt zu finden. Lara sah der Frau hinterher. Sie wusste, was sie ihr damit sagen wollte; dass sie nicht allein war.
Aber sie kannte den Zusammenhalt eines Dorflebens nicht. Es war ihr sogar zuwider, dass so viele Menschen an ihrem Unglück teilhatten. Während sie die zahlreichen Hände schüttelte und etliche Beileidsbekundungen entgegennahm – von Menschen, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen hatte, in einem Dialekt, den sie teilweise nicht einmal verstand –, verspürte sie eine Einsamkeit, die alles übertraf, was sie bis dahin gekannt hatte. Sie sah den an einem steilen Hang gelegenen Friedhof entlang. Die Masse an Menschen wollte kein Ende nehmen. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis sie hier fertig waren. Und dann ging die Trauerfeier in Jos und Karins Haus neben der kleinen Waldapotheke weiter.
Allein der Gedanke daran machte sie nervös. Bisher war da immer nur Ayse gewesen. Sie hatte gereicht. Völlig. Mit ihr zusammen hätte Lara diesen Tag überstanden. Doch die Abwesenheit ihrer Freundin machte alles nur noch schlimmer.
Während sie schon überlegte, wie sie am elegantesten aus der Nummer herauskam, ohne Jo und Karin vor den Kopf zu stoßen, wurde sie auf einen Mann aufmerksam. Er war noch gut zehn Personen von ihr entfernt und trat gerade einen Schritt näher, während eine Frau mittleren Alters Laras Hand ergriff.
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Peter und ich. Und deine Mutter, die habe ich auch gekannt.
«
Lara lächelte höflich, während sie erneut zu dem Mann blickte. Groß und hager, sein Kopf war wie ein Ei geformt und stieß regelrecht aus der Menschenmasse heraus. Er war bestimmt zwei Meter groß, hatte einen kahlen Schädel und dunkle Augen, die Lara anstarrten. Irgendetwas an diesem Mann war seltsam, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Auffällig war auf jeden Fall, dass Mila nervös von einem Bein auf das andere trat, während sie ebenfalls zu ihm blickte.
»Wer ist das?«, raunte Lara ihrer Cousine zu.
Mila schnaubte, anstatt eine Antwort zu geben. Was war los mit ihr? Mittlerweile waren es nur noch zwei Personen, die den riesigen, hageren Mann von Lara trennten. Während sie weiter die Mitleidsbekundungen der ihr unbekannten Leute annahm, sah sie im Augenwinkel, dass der Mann etwas aus seiner Tasche zog. Ein gefaltetes Stück Papier.
Vor Schreck blieb ihr schier das Herz stehen, als Mila plötzlich neben ihr aufschrie: »Nein!«
Alle Blicke richteten sich auf das kleine Mädchen, dessen Kopf rot anlief. Sie bebte vor Wut. Während Karin sich zu ihrer Tochter hinunterbeugte, beobachtete Lara den Mann, der sie unverwandt anstarrte. Er hob das gefaltete Papier in ihre Richtung, als Lara ein vertrautes Geräusch hörte.
Sie sah zum Haupteingang des Friedhofs, der mit einem verschnörkelten Gittertor verschlossen war. Sie konnte gerade noch die Umrisse eines Jungen im Nebel erkennen, der von einer Vespa stieg und sich den Helm vom Kopf zog. Mit einer einzigen Bewegung
verwuschelte er seine Haare, ehe sein Blick den Friedhof absuchte und an ihr hängenblieb.
Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Da stand er. Timo. Und lächelte sie an. Mit einem Schlag wurde es Lara wärmer. Sie atmete tief ein, als würde sie heute das erste Mal richtig Luft bekommen. Wenn Timo ihr den Rest des Tages beistand, würde sie es schaffen.
Doch er öffnete den Sitz der Vespa und zog einen zweiten Helm hervor. Ihr Herz schlug schneller. Er war nicht hier, um der Beerdigung beizuwohnen. Er war hier, um sie abzuholen. Also hatte er eine Spur.
Sie warf einen Blick auf den mit Blumen und Erde übersäten Sarg. In Gedanken gab sie ihrem Vater einen Kuss und entschuldigte sich. Dann wandte sie sich an Jo und Karin. »Sorry. Ich muss los.«
»Was? Aber Lara …«
Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Eilig lief sie über den Friedhof, öffnete das Tor und drehte sich einer Ahnung folgend noch einmal um. Sie sah zu der Stelle, an der der riesige Mann zuletzt gestanden hatte. Er war verschwunden.