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Timo versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Was schwierig war. Zum einen konnte er aufgrund des dichten Nebels kaum fünf Meter weit sehen. Sie hatten gerade das Ortsschild von Brandmatt passiert. Es kam vor, dass man auf dieser Höhe die Nebelwand durchbrach und von einer Sekunde auf die andere von grellem Sonnenlicht geblendet wurde. Doch heute schienen die Wolken am Berg festzukleben. Zum anderen erschwerte Laras feste Umarmung Timo die Fahrt.
Seit sie aus dem Mummelsee wieder aufgetaucht waren, hatten sie keinen Tag getrennt voneinander verbracht. Es waren die zwei miesesten und gleichzeitig schönsten Wochen seines Lebens gewesen.
Direkt nach ihrem Auftauchen waren sie von der Polizei aufgegabelt worden. Man hatte sie ins Krankenhaus gebracht, wo bereits seine Eltern, Karin und Jo und Ayses Mutter voller Sorge auf sie gewartet hatten. Timo hatte eine Weile gebraucht, um die ganze Aufregung zu verstehen. Im Gegensatz zu seiner Annahme, dass Lara und er lediglich eine Nacht untergetaucht waren, waren sie zehn Tage fort gewesen. Zehn Tage!
Er hatte ihnen nicht geglaubt. Bis er von der Polizei das Datum bestätigt bekommen hatte. Er las die Berichte über groß angelegte Suchaktionen nach ihnen. Er hielt seine Mutter im Arm, die mit dem Weinen nicht mehr aufhören konnte. Und stellte sich dem Zorn seines Vaters, der ihm unterstellte, mit dem Mädchen aus Berlin auf einem Drogentrip gewesen zu sein. Timo konsumierte keine Drogen. Aber er konnte den Verdacht sogar nachvollziehen. Denn wie konnte man zehn Tage lang verschwinden und sich an nichts erinnern?
Diese Frage beschäftigte auch zwei Psychologen, die direkt auf Timo und Lara angesetzt worden waren. Sie sollten herausfinden, was zur Hölle passiert war. Die Begriffe Trauma und Entführung wurden genannt. Die Polizei vermutete, dass die beiden denselben Personen zum Opfer gefallen waren wie Laras Vater. Und es ein Wunder war, dass sie überhaupt noch lebten.
Timo bezweifelte diese Theorie. Das Computerprogramm, das Laras Vater programmiert hatte, schien zwar die ganze Nerdgesellschaft in helle Aufregung zu versetzen, aber hatte das wirklich ausgereicht, damit jemand hinter ihnen her war? Vielleicht waren wirklich irgendwelche Typen auf Styx so scharf. Und möglicherweise hatten diese Typen sie entführt. Aber wie zur Hölle konnte man exakt zehn Tage Erinnerung einfach löschen? Gab es irgendeine Pille, die man ihnen gegeben hatte? Und warum hatte man sie ausgerechnet am Mummelsee entsorgt? Der Platz an der Schwarzwaldhochstraße, der selbst bei schlechtem Wetter von Touristen überschwemmt wurde. Es gab im ganzen umliegenden Bereich wahrlich genug Orte, an denen man allein war und unentdeckt zwei Teenager loswerden konnte.
Nein, diese ganze Entführungstheorie ergab für Timo keinen Sinn. Und dafür gab es noch einen anderen Grund. Auch wenn er keine Erinnerungen an die letzten Tage besaß, hatte er sich doch verliebt. In Lara. Er wusste nicht, wann und unter welchen Umständen. Was er allerdings wusste, war, dass ihr Anblick ihm weiche Knie bescherte, er zu stottern begann und sich wie ein totaler Idiot benahm. Vor ihrem Black-out hatten seine Gedanken immer wieder um Sazan gekreist. Cems verstorbene Schwester. Kein anderes Mädchen hatte ihn interessiert. Das war nun anders.
Vor dem Verschwinden hatte er vor seinen Schuldgefühlen fliehen wollen und war stets zornig auf Cem und dessen Vater gewesen. Doch auch dieses Gefühl der Wut war wie weggeblasen. Wie war das möglich?
Der Psychologe hatte ihm erklärt, dass ein Trauma dann entstand, wenn das Erlebte so schlimm war, dass die eigene Psyche damit nicht klarkam. Also ging man davon aus, dass Lara und Timo etwas wirklich Schlimmes zugestoßen war. Abgesehen davon, dass die komplette Auslöschung von exakt zehn Tagen bei zwei Personen gleichzeitig Rätsel aufgab und sehr unwahrscheinlich war, hatte Timo einfach nicht das Gefühl, dass ihm etwas Schlimmes passiert war. Im Gegenteil. Er war davon überzeugt, an einem guten Ort gewesen zu sein.
»Selbstschutz«, behauptete sein Psychologe.
»Sie können mich mal«, hatte er ihm geantwortet.
Sie konnten ihm erzählen, was sie wollten – wo auch immer Lara und er gewesen waren, es war nicht in der Hand von irgendwelchen Verbrechern gewesen. 
Trotzdem ließ sich Timo auf die Praktiken des Arztes ein, denn nun waren auch Cem und Ayse verschwunden. Spurlos. Genau wie Lara und Timo einen Monat zuvor. Er wollte alles tun, um sie zu finden. Deshalb probierte er alles aus, was der Arzt vorschlug. Selbst Hypnose und Traumtagebücher, da sich viele Erinnerungen angeblich in Träumen bemerkbar machten. Ganz gleich, ob das bedeutete, jeden Morgen vier Din-A4-Seiten vollzuschreiben. Vier! Er quälte sich schon nach zwei Zeilen! Doch durch seine diffusen Erinnerungen, die er jeden Morgen zu Papier brachte, kam er kein Stück weiter.
Ein weiterer Therapieansatz bestand darin, die Orte aufzusuchen, die mit ihrem Verschwinden in Verbindung standen. Um sogenannte Trigger auszulösen, die wiederum einen Flashback erzeugten und so vielleicht ein Stück der verschollenen zehn Tage zurückbrachten. Ein Anblick, ein Geruch … irgendetwas. Anscheinend konnte eine Erinnerung mit einem gewaltigen Knall zurückkommen. Oder sich langsam anschleichen. Bisherige Ausbeute: nichts.
Da Lara jedoch bei dieser Methode anwesend sein musste, damit sie Wirkung erzielte, war es Timos beliebtestes Therapiemittel. Nur in ihrer Gegenwart fühlte er sich ganz. Was sie erlebt hatten – auch wenn sie sich nicht mehr erinnerten –, verband sie. Machte sie zu Komplizen.
Aber Lara war auch extrem beschäftigt. Die Wohnung in Berlin musste aufgelöst werden, und Jo und Karin unternahmen ständig etwas mit ihr. Um die Familienbande zu stärken und Lara den Wechsel in ein neues Leben so leicht wie möglich zu machen, hatte Karin ihm erklärt. Sie wollten, dass Lara blieb. Da Timo auch wollte, dass sie blieb, funkte er nicht dazwischen.
Er hatte die Lara-freie Zeit genutzt, um auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Von der Polizei wusste er, dass Cem eine Kopie von Styx besessen hatte. Natürlich hatte er das. Wenn Cem einmal Zugriff auf dieses Meisterstück gehabt hatte, hätte er lieber seine linke Hand geopfert, als es wieder herzugeben. Und Cem war Linkshänder. Bisher hatte er sich immer aus allen Schwierigkeiten herausprogrammieren können, doch diesmal steckte er offensichtlich in Schwierigkeiten. Wie Timo die Arbeitsweise seines ehemaligen Kumpels kannte, hatte Cem nicht allein versucht, das Programm zu knacken. Vermutlich hatte er sich an die virtuelle Gemeinde von Hackern gewandt. Timo hatte sich in den betreffenden Foren eingeloggt und eine entsprechende Anfrage formuliert. Heute war endlich eine Antwort gekommen. Von MagicMarc666. Ausgerechnet! Cem hatte sehr verzweifelt sein müssen, dass er Marcs Hilfe in Anspruch genommen hatte.
Eigentlich war Timo froh gewesen, dass er mit diesem arroganten Penner nichts mehr zu tun gehabt hatte. Jetzt hatte er allerdings keine Wahl mehr. Cem und Ayse zuliebe.
Er hatte die Schwarzwaldhochstraße erreicht und bog nicht wie sonst immer rechts zum Mummelsee ab, sondern nach links Richtung Sand. Er sah, dass sich Lara kurz die Hände rieb. Sie fror! Wie hatte er vergessen können, Handschuhe für sie einzupacken? Zum Glück war es nicht mehr weit. Gern hätte er ihre Hände genommen und sie mit seinen gewärmt. Aber abgesehen davon, dass er die Vespa lenken musste, hätte sie garantiert seinen viel zu schnellen verräterischen Herzschlag bemerkt, der sich genau dann beschleunigte, wenn er sie ansah oder gar berührte, weshalb er dies tunlichst vermied. Ihr Verhalten ließ nämlich keine Rückschlüsse auf ihre Gefühle zu. Er konnte nicht mal sagen, ob sie um ihren Vater trauerte. Da er sich nicht daran erinnerte, wie er sich selbst verliebt hatte, konnte er nicht davon ausgehen, dass sie seine Gefühle erwiderte. Alles, was er mit absoluter Sicherheit wusste, war, dass Ayses Abwesenheit sie wahnsinnig machte.
Lara machte sich Vorwürfe. Und er hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen konnte. Bestimmt nicht mit einer Liebeserklärung, die ihre Gefühlswelt noch mehr durcheinanderbrachte. Im Moment brauchte sie einen Freund. Dieser Freund wollte er für sie sein.
Trotzdem hatte er einen MP3-Player in der Tasche, den er eigens für Lara gekauft und bespielt hatte. Schließlich war Musik seiner Meinung nach immer noch die beste Therapie, wenn es einem schlecht ging. Beim Laden seiner Lieblingssongs war ihm aufgefallen, dass verdächtig viele Lieder von Liebe und einem tollen Mädchen handelten. Also hatte er sich für eine love message via Musik entschieden. Irgendwann, zum richtigen Zeitpunkt, würde er Lara den Player schenken und ihr auf diese Weise seine Gefühle zeigen. Das schien ihm die perfekte Vorgehensweise.
Als er die Umrisse des heruntergekommenen Hotels im Nebel erkannte, verlangsamte er das Tempo und bog rechts in die Straße Richtung Herrenwies ein, um kurz darauf direkt vor dem Hotel zu parken.
Hoffentlich war der Weg nicht umsonst gewesen.