Laniakea
Nur ungern löste sich Lara aus der Umarmung. Ihre Hände waren steifgefroren. Ihr Rücken tat weh. Trotzdem hätte die Fahrt noch Stunden weitergehen können. In Timos Nähe zu sein bedeutete, dass ihr Kopf wenigstens mal für ein paar Minuten die Klappe hielt. Bei allen Entspannungsmethoden ihrer Psychologin, die dazu beitragen sollten, ihre Erinnerungen ins Rollen zu bringen, hatte die Frau das Offensichtliche übersehen: Der einzige Ort, an dem sich Lara entspannen konnte, war der Platz neben Timo. An seiner Seite fühlte sie sich nicht wie das heimatlose und verwaiste Wesen, das sie nun war. Er gab ihr das Gefühl, wieder irgendwo hinzugehören. Etwas, das Jo und Karin versuchten, indem sie Lara ein Zimmer in ihrem Haus einrichteten. Sie konnte sich zwar immer noch nicht vorstellen, wirklich bei den Hinterwäldlern zu leben, aber nach den Fahrten mit Timo auf der Vespa wurde dieses Leben wenigstens eine Möglichkeit.
Sie hatte schon mehrfach überlegt, ihm zu sagen, wie sie sich bei ihm fühlte. Aber dann kam sie sich jedes Mal wie eine Idiotin vor. Hey, ich habe gerade meinen Vater, meine beste Freundin und zehn Tage meines Lebens verloren. Aber dich finde ich echt super. Lara war nicht gut darin, Gefühle zu äußern. Wie Ayse immer wieder festgestellt hatte. Lara schob Gefühlsbekundungen gern vor sich her oder umging sie im Idealfall völlig. Ganz im Gegensatz zu Ayse, die kitschige Liebesromane schrieb. Sie fand immer die richtigen Worte, und Lara brauchte sie dann nur abzulesen. Aber das war im Moment nicht möglich. Ayse war verschwunden, also schwieg Lara. Sie hatte das Gefühl, dass ihr komplettes Leben erst dann wieder weitergehen konnte, wenn sie mit Ayse redete. Und wusste, dass es ihr gut ging.
Timo zog sich den Helm ab und sah sie an. »Der Typ heißt Marc. Ich kenne ihn von früher. Habe ihn aber lange nicht mehr gesehen. Er ist auch in dem Forum unterwegs, in dem Cem die Infos wegen des Eyecodes gesucht hat.«
Sie nickte nervös und starrte auf das heruntergekommene Gebäude. »Und der wohnt hier?«
Er folgte ihrem Blick. »Das war mal ein richtig schickes Hotel. Ich war hier oft als Kind mit meinen Eltern essen.« Für einen Moment lang wirkte er völlig in Gedanken versunken.
»Und da hast du diesen Marc kennengelernt?«
»So ungefähr.«
Was bedeutete, dass die beiden sich seit ihrer Kindheit kannten. Warum der abweisende Tonfall? »Das ist doch gut, oder? Dann gibt er dir bestimmt alle Infos, die wir brauchen?«
Er lachte trocken. »Vielleicht gibt er uns, was wir brauchen. Aber bestimmt nicht, weil er helfen will. Er wird etwas dafür verlangen.« Timo sah sie nun direkt an. »Marc tut nichts, ohne irgendwas dafür zu bekommen. Wir haben eine gemeinsame Bekannte und … haben uns irgendwann gefetzt. Cem und ich haben den Kontakt zu ihm abgebrochen.«
Offensichtlich neigte Timo dazu, sich gern mit Jungs zu fetzen, die mal seine Freunde gewesen waren. Mit Cem hatte er auch seit einem Jahr kein Wort mehr geredet .
»Wenn Cem seine Hilfe angenommen hat, dann muss er echt verzweifelt gewesen sein.«
»So verzweifelt wie wir jetzt?«
»Mindestens.« Timo nahm ihren Helm und packte ihn in die Vespa.
»Wenn du nicht glaubst, dass er uns hilft, warum geben wir dann nicht der Polizei Bescheid? Wenn er etwas über Styx weiß, dann muss er es ihnen sagen.«
Er zögerte. »Mit Bullen redet der erst recht nicht. Ist so ein Ehrenkodex in diesem Forum.«
»Aber mit uns wird er reden?«, hakte sie zweifelnd nach.
»Wenn wir haben, was er will. Dann schon. Und deshalb …« Er zögerte erneut. Aber dann sah er Lara entschlossen an. »Ich habe behauptet, dass wir Styx haben. Sonst hätte er gar nicht erst mit uns gesprochen.«
»Aber wir haben das Programm nicht.«
»Das darf er erst erfahren, wenn er uns alles gesagt hat.«
Ihr gefiel diese Methode überhaupt nicht. »Er weiß doch, dass zwei Leute verschwunden sind. Vielleicht hilft er freiwillig? Ich meine … wenn du ihn lange nicht gesehen hast. Vielleicht hat er sich geändert?«
»Ja, klar.« Er lachte noch einmal trocken und ging dann die brüchigen Stufen zum Hotel hoch. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um. »Glaub mir. Der ändert sich nicht.«
Sie folgte ihm in die Eingangshalle des Hotels. Über ihnen schwebte ein riesiger Kronleuchter, auf dem halb heruntergebrannte Kerzen steckten. An den Wänden hingen Bilder des Schwarzwalds, die durch Spinnweben miteinander verbunden waren. Beliebte Ausflugsziele wie der Mummelsee oder die Hornisgrinde waren darauf abgebildet. Auf der linken Seite ging es durch eine Tür in einen Speisesaal, in dem die Stühle auf den Tischen standen. Offensichtlich rechnete hier niemand mit Gästen. Das Highlight dieser Bruchbude war jedoch der Mosaikboden.
Lara betrachtete das Muster, das an vielen Stellen kaputt war. Sie trat einen Schritt zurück, um das ganze Bild erfassen zu können, und erkannte verschiedene Kreise, die Sonne, Mond, Erde und weitere Planeten darstellten. Das Sonnensystem.
»Marc?« Timo war an den Empfangstresen getreten und sah durch eine Tür in ein angrenzendes Hinterzimmer.
Ein Bellen antwortete.
Lara konnte nur noch beobachten, wie ein riesiger Fellknäuel aus eben dieser Tür sauste, um den Tresen herum rannte und an Timo hochsprang. Als der Hund Timos Gesicht abschleckte, musste sie lachen.
»Susi, aus!«, rief Timo halbherzig, streichelte den Hund dabei aber, der ihn zu kennen schien.
Lara stutzte. Wenn Timo diesen Marc wirklich das letzte Mal vor langer Zeit gesehen hatte, dann hatte dieser Hund ein gutes Gedächtnis. Oder war sehr vertrauensselig. Jetzt nahm er Lara ins Visier und ging in geduckter Haltung auf sie zu. Der Schwanz wedelte zaghaft, während die Schnauze Laras Hand beschnüffelte.
»Na, du?«, fragte sie leise. Sie tätschelte den Kopf des Hundes, während Timo ungeduldig in den hinteren Bereich blickte.
»Ich gehe ihn suchen. Wartest du hier?«
Sie nickte und setzte sich auf den Boden, um den Hund ausgiebig streicheln zu können. Als ihr Gesicht auch abgeschleckt wurde, musste sie lachen.
»Kann sein, dass er dich gleich anrammelt.«
Erschrocken zuckte Lara zusammen und sprang auf. Jemand lachte. Suchend sah sie sich in der Empfangshalle um, während der Hund an ihr hochsprang. Ein Junge war eingetreten. Groß, schwarze Locken. Mit blauen Augen musterte er sie.
»War ein Scherz«, sagte er mit tiefer Stimme. »Susi ist viel zu faul, um irgendwas anzurammeln. Außerdem ist sie eine Dame.« Er kam näher und streichelte den Kopf der Hündin, die sich sofort hingebungsvoll auf den Boden warf. »Falls du ein Zimmer willst … Wir renovieren gerade.«
Lara sah sich ungläubig um. »Das Ding braucht eine Generalsanierung.«
Er grinste.
»Außerdem will ich kein Zimmer. Ich bin mit Timo hier.«
Da verschwand das Grinsen. »Er hat nicht erwähnt, dass er jemanden mitbringt.«
»Also bist du Marc?«, fragte Lara.
»Und du bist …?«
»Lara. Lara Feingeist.«
Interessiert horchte er auf. »Die Tochter vom Feingeist? Wird der nicht gerade beerdigt?«
Sie schwieg aufgewühlt.
Der Junge sah aus, als würde ihm sein Vorstoß leidtun. »Ja, ich bin Marc.« Er reichte ihr die Hand, die sie zögernd ergriff. »Warum lässt Timo dich alleine in diesem Geisterhaus?«
»Er sucht dich.«
Marc hielt Laras Hand noch einen Moment länger gedrückt und sah ihr tief in die Augen. »Ihr wart zehn Tage weg. Es heißt, ihr habt keine Erinnerungen mehr daran?«
Lara wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an seiner Berührung und seinem Blick gab ihr das Gefühl, durchsichtig zu werden. Schnell entzog sie ihm die Hand. Das Gefühl wich augenblicklich.
»Das trifft es so ziemlich.« Sie sah sich nervös um. Wo steckte Timo?
»Und ohne diese Erinnerungen habt ihr keinen Plan, wo eure Freunde sind? Muss echt scheiße sein. Immerhin wollten sie euch retten.«
Sie musterte ihn verwundert. Seine direkte Art war erfrischend und verstörend zugleich.
»Sorry«, grinste er. »Man sagt mir nach, dass ich nicht besonders taktvoll bin.«
»Wäre mir gar nicht aufgefallen«, gab sie ironisch zurück.
»Als Cem mit der Tussi hier war, war er ziemlich entschlossen, euch zu finden.«
Sie horchte auf.
»Aber ich glaube, er wollte nur dem Mädel imponieren.«
»Ayse war hier? Du hast sie kennengelernt?«
»Nicht sonderlich gesprächig.«
Was bedeutete, dass sie Marc nicht gemocht hatte.
»Aber echt hübsch. Cem hat kaum ein vernünftiges Wort rausgebracht.«
»Du meinst, er war …«
»Total verknallt.«
Das wunderte sie nicht. Es gab eigentlich kaum Jungs, die sich nicht in Ayse verliebten. Mit ihr befreundet zu sein, bedeutete gleichzeitig, ein bisschen unsichtbar zu werden.
Marc sah sie unverwandt an. Als würde er wesentlich mehr in ihr entdecken, als sie preiszugeben bereit war. »Schon seltsam. Ihr verschwindet. Am Tag eurer Rückkehr lösen sich eure Freunde in Luft auf. Und die Menschheit hört auf zu sterben. Alles Zufall?«
Sie wich seinem Blick aus. »Das will ich herausfinden. Timo meinte, du kannst uns helfen?«
»Habt ihr das Programm?«
Sie zögerte. Die vereinbarte Lüge kam jetzt ins Spiel. Es fühlte sich nur so verdammt falsch an. Sie hasste Lügen. »Timo hat es«, behauptete sie vage.
Ein skeptischer Blick. »Du gibst Styx aus den Händen? Musst ihm ja ziemlich vertrauen.«
Endlich trat Timo aus dem hinteren Raum heraus. »Da bist du ja.«
Marc sah Lara noch einen Moment lang an, bevor er sich an Timo wandte. »Sie sagt, du hast das Programm?«
Ungerührt nickte Timo. »Du kriegst es, wenn wir alle Infos haben, die wir brauchen.«
»Dann legen wir mal los.« Marc ging an Timo vorbei ins Hinterzimmer. Susi, die die ganze Zeit ruhig am Boden gelegen hatte, sprang auf und flitzte hinterher.
Lara ging langsam auf Timo zu. Der musterte sie kurz, bevor er Marc folgte .
Was sie im Hinterzimmer erwartete, verschlug Lara die Sprache. Es war, als würde sie eine andere Welt betreten. Die abbruchreife Kulisse wurde abgelöst durch ein komplett renoviertes Zimmer. Eine Wand war durch eine Glasfassade ausgewechselt worden, die den Blick in einen wunderschönen, leicht verwilderten Garten freigab. Das Grundstück grenzte direkt an den Wald. Der Raum war allein durch das Tageslicht erhellt. Einzige Einrichtung: ein riesiger Schreibtisch, auf dem drei Rechner um die Wette liefen. Und eine Kaffeemaschine.
Hier also hatte Marc Infos gesammelt. Doch was sie noch mehr faszinierte, war die Wand hinter dem Schreibtisch. Auf einem dunklen Untergrund war mit goldener Farbe eine Art Struktur von unendlich vielen Fäden gezeichnet. Zwei dickere Stränge, die sich an einer Stelle trafen, und etliche kleinere Fäden, die jeweils davon abgingen. Der Anblick erinnerte sie an explodierende Feuerwerkskörper. Die Struktur leuchtete golden, und ganz rechts außen in dem Fadengewirr war ein roter Punkt eingezeichnet.
»Der rote Punkt ist die Milchstraße.« Marc trat neben sie.
Lara musterte ihn verwundert. Sie kannte Bilder der Milchstraße. Eine Spiralgalaxie, von außen betrachtet eine flache Scheibe – und bestimmt kein Feuerwerkskörper. »Und was soll dieses Fadengewirr sein?«
»Stell dir vor, die Milchstraße ist … Deutschland. Unsere Heimat. Aber Deutschland liegt in einem Kontinent. Europa. Genau wie unser Land ist auch unsere Ga laxie in ein größeres Ganzes eingebettet. Einen Galaxienhaufen. Er heißt Laniakea.«
Staunend betrachtete sie das Konstrukt.
Er deutete auf den roten Punkt. »Das hier ist unsere Adresse.«
»Rechts außen?«
»Hängt von der Perspektive ab.« Er grinste sie frech an. »Wie viele andere Galaxienhaufen werden wir alle von dem massereichsten Zentrum des Universums angezogen. Dem großen Attraktor.« Er lächelte selbstgefällig.
Versuchte er etwa gerade, mit ihr zu flirten? Sie erwiderte kurz seinen Blick, um dann wieder fasziniert das Gemälde zu betrachten. »Es ist wunderschön.«
»Ein Superhaufen mit einem Umfang von fünfhundert Millionen Lichtjahren. Laniakea ist hawaiianisch und bedeutet unermesslicher Himmel.«
Wieder dieser Blick, den sie nicht deuten konnte. Was sie jedoch ziemlich gut deuten konnte, war Timos schlechte Laune, als er sich zu Wort meldete.
»Super. Können wir dann?«
Sie sah das Schmunzeln auf Marcs Gesicht. Es schien ihm zu gefallen, Timo zu reizen, und langsam begriff sie, warum Timo sie vor ihm gewarnt hatte. Der selbst ernannte große Attraktor schien ihr eher ein großer Provokateur zu sein.
»Also. Cem war bei dir. Wie hast du ihm geholfen?«, wollte Timo direkt wissen.
Marc ließ sich Zeit und einen Kaffee aus der Maschine raus. Er sah Lara dabei an. »Auch einen?«
Sie schüttelte den Kopf. Timo bot er nichts an.
»Cem konnte den Eyecode nicht knacken. Ich habe ihm ein entsprechendes Programm gegeben. Das war allerdings erst, nachdem ihr verschwunden seid.« Sein Blick wanderte zu Timo. »Ihr müsst den Eyecode also selbst geknackt haben. Wie?«
»Wieso glaubst du, dass wir das Programm gestartet haben?«
Marc lächelte lediglich.
Ziemlich überheblich, wie Lara fand.
»Erzählst du es mir?«, fragte er sie. »Timo ist immer so unkommunikativ.«
Sie erinnerte sich, wie Styx, die dicke Katze von Jo und Karin, in den Bildschirm gestarrt und das Programm so zum Laufen gebracht hatte. Alles, was danach geschehen war, lag im Dunkeln. Waren tatsächlich irgendwelche Entführer aufgetaucht und hatten sie mitgenommen? Lara wusste es nicht.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Timo, bevor sie etwas erwidern konnte.
»Für mich schon.«
Die Jungs maßen sich mit Blicken.
»Du hast gesagt, dass Cem einen Verdacht hatte, was das Programm kann.«
Diese Info war neu für sie. Cem hatte ihr gegenüber nichts erwähnt, als er mit dem Programm zu ihr gekommen war.
»Was glaubst du denn, was es kann?«, konterte Marc, der Fragen offensichtlich gern mit Gegenfragen beantwortete.
Timo zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Klar.« Marc glaubte ihm kein Wort. Das war mehr als offensichtlich. »Du schleppst das Programm seit Wochen mit dir rum und hast keine Idee, was es ist oder kann? So bescheuert bist nicht einmal du.«
»Wäre ich hier, wenn ich eine Idee hätte?«
»Vermutlich nicht«, erwiderte Marc. Dann sah er Lara an. »Ihr habt Styx gar nicht. Oder?«
Sie warf Timo einen unsicheren Blick zu.
Genug für Marc. »Dachte ich mir.« Er setzte sich mit dem Kaffee an den Tisch. »Also habt ihr nichts, was ihr mir als Gegenleistung bieten könnt.«
»Was macht dich da so sicher?«, hakte Timo wenig überzeugend nach.
»Cem hatte die einzige Kopie. Und eure Kopie ist im Mummelsee ersoffen. Unser Deal ist damit geplatzt.«
»Woher willst du wissen, dass wir nicht doch noch …«
»Nein«, unterbrach sie Timo.
Überrascht sahen die Jungs sie an.
»Wir haben tatsächlich keine Kopie.«
Timo atmete hörbar durch. Und Marc nahm entspannt einen Schluck Kaffee. Lara ging auf ihn zu. Sie hatte genug von seinen Spielchen.
»Zwei Menschen sind verschwunden. Vielleicht sind sie in Gefahr. Du bist die einzige Möglichkeit, etwas herauszufinden. Du musst uns einfach helfen.«
»Klingt nach einem schlechten Deal für mich«, fand er und wollte erneut einen Schluck Kaffee nehmen, als sie ihm impulsiv die Tasse aus der Hand schlug. Es klirrte laut, als sie auf dem Boden zersplitterte.
»Es klingt vor allem nach einem schlechten Deal für Ayse und Cem!«
Er sah sie baff an und war wenigstens für eine Sekunde lang aus dem Konzept gebracht.
»Sie sind irgendwo. Und das ist meine Schuld. Wenn ich nicht mit dem Programm hierher gefahren wäre. Wenn ich meinen Onkel nicht gefunden hätte. Dann wäre ihnen nie etwas passiert! Keinem wäre was passiert! Außer meinem Vater. Aber dem war ja eh alles egal!« Sie wusste nicht, wann sie mit dem Weinen angefangen hatte. Sie spürte nur, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. »Ich muss sie wiederfinden. Es muss ihr gut gehen! Es muss!«
Timo kam näher. Doch ehe er sie tröstend in den Arm nehmen konnte, griff Marc nach ihrer Hand.
Einen Moment lang hielt er sie fest und sah Lara in die Augen. »Sie kommt zurück. Genau wie ihr.«
Aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm.
»Wir sollten jetzt gehen.«
Sie hörte Timos eisige Stimme und trat von Marc weg. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah verstohlen zu Timo, der sie mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck musterte.
»Er hilft uns sowieso nicht.«
Sie wusste, dass er recht hatte, und wollte ihm aus dem Zimmer folgen.  
»Ein Beamer«, sagte Marc plötzlich.
Lara und Timo drehten sich um.
»Cem hat geglaubt, dass Styx ein Beamer ist. Mehr weiß ich auch nicht. Er wollte mir eine Kopie vorbeibringen, sobald er es gestartet hat.«
Ein Beamer?
»Hatte er eine Theorie, wohin Styx einen beamt?«, hakte Timo wenig überzeugt nach.
»Nein. Das wollte er ja unbedingt herausfinden.«
Genau wie Marc. Das konnte ihm Lara an den Augen ablesen.
»Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich meine … Ein Beamer! Das wäre …« Marc fand keine Worte dafür.
Ein Durchbruch. Das wäre das. Unmöglich – aber eine ziemlich gute Erklärung, warum ihr Vater so ein Geheimnis um das Programm gemacht hatte.
»Ihr müsst nicht so tun, als hättet ihr keine Ahnung«, unterbrach Marc ihre Überlegungen. »Ich kaufe euch die Amnesie-Nummer nämlich nicht ab.« Abschätzig musterte er sie. »Zehn Tage Gedächtnisverlust. Wie soll das funktionieren?«
»Das versuchen wir ja rauszufinden«, rief sie aufgebracht.
»Ihr seid hergekommen, weil ihr gehofft habt, dass ich auch eine Kopie besitze. Weil ihr Styx noch einmal benutzen wollt.«
»Nein!«
»Hast du?«, fragte Timo direkt.
Marc sah ihn triumphierend an. »Selbst wenn. Dann ist da immer noch der Eyecode.«
»Den Cem dank dir geknackt hat. Also könntest du das auch.«
»Der Eyecode wäre unser kleinstes Problem«, mischte sich Lara ein. »Ich weiß, wie er geknackt werden kann. Styx. Die Katze von Jo und Karin. Es sind ihre Augen.«
Es folgte ein Moment der Stille.
Dann lachte Marc herzlich. »Ja. Klar.«
»Es stimmt!«, beharrte sie. »Ich habe den Laptop oben auf dem Katzenbuckel getestet. Der Stick mit dem Programm war eingesteckt. Die Katze ist auf meinen Schoß gesprungen. Hat mit ihrer Pfote auf Enter gedrückt und direkt in das grüne Licht gestarrt.« Wieder und wieder waren sie diese Erinnerung durchgegangen. Die Letzte, die Lara hatte.
»Verarschen kann ich mich selbst.«
»Kannst du das?«, konterte Timo gereizt.
»Wie sollte ihr Vater an die Katze von Jo und Karin gekommen sein? Um deren Augen für seinen Eyecode zu nutzen?«
»Die Katze war in Berlin!«, platzte es aus ihr heraus.
Marc sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Bisher hatte sie das außer Timo niemandem erzählt. Weil sie genau wusste, wie es sich anhörte. Die Einzige, die ihr geglaubt hätte, wäre Mila gewesen. Denn ihre Cousine hatte ihr bei der ersten Begegnung erzählt, dass Styx zwischen den Welten reisen könnte.
»Ich habe die Katze in Berlin gesehen. Auf einem Friedhof. Timo hat sie in der Rheinebene getroffen. Das sind alles Orte, an denen sie eigentlich nicht sein konnte. Mit der Katze stimmt etwas nicht. Hat Timo auch gesagt.«
Marc musterte sie wieder mit diesem seltsamen Blick. Was auch immer er dachte, ob er ihr glaubte oder nicht, er würde seine Gedanken nicht mit ihr teilen.
»Lass uns abhauen«, sagte sie resigniert.
Das ließ sich Timo nicht zweimal sagen. Eilig ging er voraus, und Lara folgte ihm. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Marc musterte sie noch immer. Nachdenklich .
Draußen sagte Timo kein Wort zu ihr. Er wirkte sauer. Auf Marc? Oder auf sie?
Auf dem Rückweg fror sie mehr als zuvor.