Flashback
Timo brachte die Vespa auf dem schmalen Waldweg vor Jos und Karins Haus zum Stehen. Überall waren Autos geparkt. Der Leichenschmaus dauerte also noch an. Lara hatte jetzt noch weniger Lust, sich unter die Leute zu mischen. Sie wollte vor allem eins: allein sein. Und mit Ayse reden.
Sie stieg von der Vespa und reichte Timo den Helm. »Kannst du mir mal sagen, was jetzt plötzlich los ist?«
Er stieg ebenfalls herunter, nahm den Helm ab und sah sie an.
»Ich meine, du …« Weiter kam sie nicht, denn er zog sie zu sich und küsste sie.
Sie war regungslos, spürte, wie ihr die Knie weich wurden und ihr Herz schneller schlug. Er umfasste ihre Taille und küsste sie weiter. Unsicher, vorsichtig. Sie klammerte sich an ihn und erwiderte den Kuss. Ihre Gedanken setzten aus. Ihr Atem ging schneller.
Und dann sah sie es. Ein riesiges Auge. Schwebend. In einem weißen Raum. Direkt vor ihrer Nase. Es war verwirrt und konnte sich nicht mehr an seine Bestimmung erinnern. Dauernd rief es: »Erschaffe! Erschaffe!« Sie hörte seine Stimme nicht von außen. Sondern als würde sie jemand in ihrem Inneren kitzeln.
Von dieser Erinnerung war sie so überrumpelt, dass sie Timo von sich stieß und einen Schritt zurückwich. »Wow!« Fassungslos sah sie ihn an.
Er erwiderte ihren Blick ähnlich verwirrt wie das Auge. Auch wenn sie wusste, dass es keine schwebenden Augen gab, so wusste sie doch, dass sie es gesehen hatte. Sie war bei diesem Auge gewesen. Die Erinnerung war so deutlich wie jede andere auch. Es war, als hätte sie es nie vergessen.
All die Hypnosetechniken und Entspannungsübungen waren völlig überflüssig. Ein Kuss von Timo. Und plötzlich war ein Teil wieder da! Sie wollte ihm diese Erkenntnis gerade mitteilen, als er sich den Helm aufsetzte und so schnell seine Vespa startete, dass Lara ihn nicht mehr aufhalten konnte.
Natürlich. Er musste denken, dass sie den Kuss nicht gewollt und ihn deshalb zurückgestoßen hatte. Sie musste sofort hinterher, um dieses Missverständnis aufzuklären, als eine kleine Hand die ihre umfasste. Mila war neben sie getreten.
»Komm. Sie warten alle auf dich.« Rigoros zog das Mädchen sie mit sich.
Lara wehrte sich nicht. Denn sie betrachtete das Auge in Milas Hand, das sie unverwandt anstarrte. Zum ersten Mal erkannte sie, dass dieses Auge keine Zeichnung war. Es war so lebendig wie sie selbst.
Die Trauergemeinde hatte sich in das kleine Wohnzimmer gezwängt, das nun aus allen Nähten zu platzen drohte. In der Mitte stand ein Tisch mit Kuchen und belegten Broten. Wenn man genau hinsah, erkannte man auf der Tischplatte etliche Farbstriche, die Mila beim Ausführen ihrer Kunst auf dem Holz hinterlassen hatte. Im Kamin prasselte ein Feuer.
Mila führte Lara an der Hand in das überfüllte Zimmer. Für einen Moment lang verstummten alle und starrten sie an. Hauptsächlich die ältere Generation hatte sich eingefunden. Jo zwängte sich lächelnd zwischen zwei älteren Damen durch und schaufelte ein Stück Kuchen auf einen Teller. Irgendetwas mit Kirschen und viel Sahne. Es sah aus, als könnte es einen für zwei Tage satt machen und wäre trotzdem nicht genug.
»Lara. Da bist du ja.« Er drückte ihr den Teller in die Hand und sprach leise weiter. »Sie gehen erst, wenn sie dich gesehen haben. Schaffst du das? Eine halbe Stunde?«
Sie sah sich um und fragte sich, was ihr Vater von dieser Veranstaltung gehalten hätte. Er hatte Menschen nicht sonderlich gemocht. Außer Konrad und sie. Außerdem hatte er die wenigsten dieser Leute hier gekannt, genauso wenig wie sie. Am liebsten wäre sie einfach wieder gegangen. Aber auf seltsame Weise hatte diese Gesellschaft auch etwas Tröstliches. Als würde sie nicht nur das Feuer im Kamin wärmen. Sie nickte Jo zu. Bei dieser Gelegenheit könnte sie sich auch noch mal mit dem Auge in Milas Hand beschäftigen. 
Ihre Cousine hatte gesagt, Styx könnte zwischen den Welten reisen. Sie wusste etwas!
Doch bevor sie dazu kam, war Mila aus dem Zimmer gelaufen und Lara wurde von einer kleinen Frau in Beschlag genommen. Sofia Durlach, 79, wie sie sich vorstellte. Teil einer vierköpfigen Gruppe von Rentnern, die bis auf einen im örtlichen Pflegeheim untergebracht waren. Lara erkannte in der Frau die Dame, die bei Jo in der Apotheke nach mehr Morphium gefragt hatte. Herrn Lichtlein hatte sie diesmal nicht dabei. Es wäre wohl auch seltsam gewesen, einen Toten auf eine Beerdigung mitzunehmen .
»Ich habe deine Mutter noch gekannt. Hatte damals einen kleinen Laden, in dem sie immer Bonbons gekauft hat. Schrecklicher Unfall …«
»Sofia, diese ollen Kamellen interessieren das Mädchen doch nicht!« Eine weitere Dame war neben sie getreten. Auf einem Teller balancierte sie ein riesiges Stück Torte. Sie war größer als Sofia und recht korpulent. Ihre Stimme donnerte durch den kleinen Raum. »Da stirbt ihr Vater, und du erinnerst sie an ihre tote Mutter. Sehr taktvoll.«
Lara hätte gerne nach ihrer Mutter gefragt. Schließlich wusste sie so gut wie nichts über sie. Informationen waren bei ihrem Vater sehr spärlich gesät gewesen. Aber die Dame ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
»Mathilda Fromm mein Name. Nenn mich ruhig Mathilda. Fühlst du dich denn wohl hier? Hast du alles, was du brauchst?«
»Doch. Ja.« Sie warf einen hilflosen Blick zu Karin, die sie aufmunternd anlächelte.
»Unser Lichtlein ist ja auch bald dran. Wenn ihr mich fragt, dann ist diese ganze Nummer mit dem ausbleibenden Tod nämlich bald gelaufen.«
»Und wenn nicht?«, hakte Sofia besorgt nach. »Wie lange geht das jetzt schon?«
»Na, zwei Wochen. Seit das Schätzchen hier wieder aus dem Mummelsee aufgetaucht ist.«
Plötzlich wurde es still im Zimmer. Lara sah sich um. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.
»Ja. Natürlich«, donnerte unvermittelt Mathildas Stimme durch den Raum. »Deshalb seid ihr doch alle hier, oder? Es geht euch gar nicht um ihren Vater. Ihr wollt wissen, ob sie etwas mit dem ausbleibenden Tod zu tun hat!«
Niemand widersprach.
Erschrocken sah Lara in die misstrauischen Gesichter. Gerade noch war ihr die Gesellschaft wie eine trostspendende Wärmequelle vorgekommen. Dabei schienen sie alle zu glauben, dass sie für das Ausbleiben des Sterbens verantwortlich war. Natürlich gab es eine zeitliche Parallele, die auch Marc kommentiert hatte. Und natürlich hatte sie auch dieses dumpfe Gefühl einer Ahnung –, aber sie hatte nicht gedacht, dass es den anderen genauso ging.
Mathilda legte ihr die großen Hände auf die Schultern. »Seht sie euch an. Wirkt dieses Mädchen wie ein göttliches Überwesen, das den Tod aufhalten könnte? Wie dumm kann man denn sein?« Sie lachte laut, und die meisten sahen nun leicht betreten auf den Boden.
Karin hingegen funkelte alle wütend an. Die kleine Frau hatte bereits einen ziemlich roten Kopf. Lara bemühte sich um ein Lächeln und wünschte sich an einen fernen Ort.
»Heute Morgen hat es einen Unfall gegeben. Ein Reh wurde angefahren«, plauderte Mathilda weiter, als wäre nichts gewesen. »Maike Brandt ist verbrannt.« Bei diesem Wortspiel kicherte sie. »Maike Brandt verbrannt. Entschuldigt. Aber das ist doch wirklich komisch.«
Ein größerer Mann trat hinzu und boxte sie unsanft mit dem Ellbogen in die Seite.
»Au!« Sie rieb sich die schmerzende Stelle.
Lara beobachtete, wie Sofia den Mann verklärt anlächelte, der mit tiefer Stimme sagte: » Mein Enkel hat sie gefunden. War kein schöner Anblick. Das kann ich dir sagen. Er war danach völlig durcheinander.«
Lara erfuhr, dass der Mann Gustav Janson hieß und in einem heruntergekommenen Hotel an der Schwarzwaldhochstraße lebte.  
»Ihr Enkel heißt aber nicht zufällig Marc?«, fragte sie verblüfft.
»Natürlich heißt er so!«, erwiderte Gustav gereizt, als müsste sie das eigentlich wissen.
»Den habe ich heute kennengelernt.«
Sie bemerkte, wie Jo interessiert aufhorchte, als er mit einem Tablett voller belegter Brötchen neben sie getreten war.
»Was hast du da getrieben?«, wollte Gustav wissen. 
»Marc hat Timo und mir … bei einer Sache geholfen.«
»Aha. Sieht ihm gar nicht ähnlich.«
»Also, Gustav«, schimpfte Mathilda liebevoll. »Dein Enkel ist noch nicht ganz so menschenfeindlich wie du. Für ihn besteht noch Hoffnung.«
Da war Lara sich nicht so sicher.
»Hmpf.« Marcs Großvater stand auf, nahm sich ein Schinkenbrötchen von Jos Tablett und verließ das Zimmer.
Sofia sah ihm einen Moment lang nach.
»So ist er immer«, beruhigte Mathilda Lara. »Seit sein Sohn und dessen Frau bei einem Flugzeugabsturz gestorben waren, hat er sich mit dem Leben angelegt. Dabei kann man nur den Kürzeren ziehen. Ist doch so. Nicht wahr?«
Lara wunderte sich. Wenn Marc diese Maike gefunden hatte und er deswegen durcheinander gewesen war, hatte sie ihm das bei ihrem Besuch nicht angemerkt. Aber die Tatsache, dass er genau wie sie keine Eltern mehr hatte, berührte sie auf seltsame Weise.
»Hier, Kind. Du musst etwas essen.«
Als Mathilda ihr ein Schinkenbrötchen hinhielt, lehnte sie höflich ab. Aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, konnte Lara kein Tier mehr essen, seit sie von den mysteriösen zehn Tagen zurückgekehrt war. Allein beim Anblick des toten Fleischs wurde ihr schlecht. Ganz plötzlich kam es ihr falsch vor. Diese Anwandlung hatte sie noch nie verspürt.
In diesem Moment stapfte Mila an ihr vorbei und setzte sich mit einem Stück Kuchen auf den Hocker vor dem brennenden Kamin. Lara bemerkte, dass einige Gäste das Mädchen verstohlen musterten. Sie entschuldigte sich bei Mathilda und Sofia und ging zu ihr.
»Hey.«
Ihre Cousine sah nicht einmal auf. Konzentriert kaute sie und schien dabei nachzudenken.
»Ich hab Styx ewig nicht gesehen. Wo steckt sie?«
Auch jetzt sah das Mädchen nicht auf. »Sie ist unterwegs.«
»Wo unterwegs?«
Schweigen.
»Mila …« Lara setzte sich neben sie. Und schielte dabei immer wieder zu dem Auge in der Hand. Es war geschlossen. Als würde es schlafen. Das verblüffte Lara. Ihr war vorher nie aufgefallen, dass das Auge sich überhaupt schließen konnte. Oder waren ihr einfach nur die Augen geöffnet worden? »Was ist passiert? Du bist so ernst.«
Endlich sah Mila sie an. »Ist nicht dein Problem.«
»Ich weiß, dass das Auge echt ist.«
Mila starrte sie an. »Welches Auge?«
»In deiner Hand.«
»Das ist nicht echt. Ich male es einfach nur drauf.«
»Bei der Beerdigung war es geöffnet. Jetzt ist es geschlossen.«
Das Mädchen ballte die Hand zur Faust.
Aber im letzten Moment hatte Lara gesehen, dass sich das Auge bei ihren Worten geöffnet hatte. »Hör zu … ich hatte gerade … eine Erinnerung.« Sie war sich unsicher, ob sie die Kleine damit belasten konnte. Doch was wäre, wenn Mila eben nicht verrückt war, wie alle im Dorf glaubten. Sondern als Einzige den Durchblick hatte? »Ich habe mich an ein Auge erinnert. Ein schwebendes Auge. Hast du das schon mal gesehen?«
Mila stand so plötzlich auf, dass Lara fast der Kuchen runterfiel, den sie immer noch unangetastet mit sich herumschleppte. »Er hätte die Flasche niemals mitnehmen dürfen!«, rief sie wütend.
Alle im Raum verstummten erneut.
Lara sah ihre Cousine verblüfft an. »Was meinst du? Welche Flasche? Und wer hat sie mitgenommen?«
Mila gab einen Laut der Frustration von sich und lief davon. Einen Augenblick lang sahen ihr alle nach, ehe die Gespräche leise wieder einsetzten. Jo ging seiner Tochter hinterher, während sich Karin zu Lara setzte.
»Was war das denn?«
Lara zögerte. Mila auf das Auge anzusprechen, war das eine. Aber Karin? Sie konnte absolut nicht einschätzen, wie sie zu den angeblichen Fantasien ihrer Tochter stand. Und wie sie dazu stand, dass Lara eben diese Fantasien gerade durch ein schwebendes Auge bereichert hatte.
»Keine Ahnung. Entschuldige. Ich wollte Mila nicht aufregen.«
Karin musterte sie. »Warte hier.« Sie stand auf, holte zwei Tassen Tee und setzte sich zurück zu Lara, der sie eine Tasse in die Hand drückte. »Ich habe mit deiner Mutter gerne Tee getrunken. Wusstest du das?«
Lara schüttelte den Kopf.
»Maja hat immer gesagt, dass Tee jedes Problem ertränkt.«
Lara musste lächeln. Da sah sie plötzlich ein Bild vor sich: eine Kinderhand, die eine Tasse Tee festhält. So klar wie zuvor das schwebende Auge. Erschrocken zitterte sie, und etwas Tee schwappte über.
»Alles in Ordnung?«
Sie starrte Karin an. »Habe ich als Kind auch mit ihr Tee getrunken?«
Karin schien verwirrt. »Nun, ich denke schon.«
Sie trank schnell einen Schluck. Die Psychologin hatte ihr von plötzlichen Flashbacks erzählt. Aber warum sie sich an eine Kinderhand erinnern sollte, die eine Tasse in den Händen hält, war ihr ein Rätsel. Vor allem da sie spürte, dass es ihre eigene Hand war.
»Als du weg warst«, erzählte Karin, »hat Mila Bilder gemalt. Sie hat behauptet, sie könnte sehen, wo du bist.«
Lara bekam eine Gänsehaut.
»Wir haben es erst nicht ernst genommen. Ich dachte, sie verarbeitet auf ihre Weise, dass du verschwunden bist. Aber dann …« Karin trank, um sich zu sammeln. »Du hattest eine Schachtel dabei, als du gekommen bist. Mit Fotos. Und einer CD. Entschuldige. Als du weg warst, habe ich die Schachtel nach Anhaltspunkten durchsucht.«
»Kein Problem.«
»Als du die Sachen im Büro deines Vaters gefunden hast, war da auch ein Schmuckstück dabei? Eine Elfe, die in einem Halbmond sitzt?«
»Ja! Ich hatte sie an meine Kette gemacht. Aber ich habe sie verloren.« Sie erinnerte sich gut an die Elfe. Sie war mit kleinen, grünen Strasssteinen besetzt.
Karin schwieg eine Weile. Dann fuhr sie fort. »Das letzte Bild, das Mila gemalt hat, war dieses Schmuckstück. Und dich mit … deiner Mutter. Sie hat gesagt, dass du bei ihr bist.«
Die Gänsehaut breitete sich über Laras ganzen Körper aus.
»Mila hat den Anhänger nie gesehen«, flüsterte Karin. »Wie kann sie von ihm gewusst haben? Ich habe ihr also das erste Mal geglaubt. Auch wenn das bedeuten würde, dass du … bei Maja … also …«
»Dass ich bei meiner toten Mutter war?« In ihrem Bauch kribbelte es.
»Ich weiß, wie das klingt. Aber wie gesagt, Mila kannte das Schmuckstück nicht.«
Ein Besuch bei ihrer toten Mutter. Wie sollte das möglich sein? Doch vor zwei Wochen war auch das Ausbleiben des Todes für unmöglich gehalten worden.
Da fiel Lara etwas ein. »Ich habe das Schmuckstück an dem Tag getragen, als ich zu euch kam.«
Karin stutzte.
»Mila hat es bestimmt gesehen und es dann gemalt. Und dass sie Mama gemalt hat, ergibt ja auch Sinn. Meine Rückkehr hat die ganze Geschichte wieder hochgeholt. Sie war dabei, als ihr mir von allen erzählt habt. Mama, Konrad und diesem Fred …«
»Ja, das wird es sein«, sagte Karin abrupt und sah mit einem Mal richtig traurig aus.
Warum hatte Lara das Gefühl, etwas Gutes zerstört zu haben?
»Dann hat das Auge in ihrer Hand eben keine Bedeutung.«
»Vielleicht ja doch? Ich habe keine Ahnung«, gestand Lara.
Karin sah sich um. »Man wird noch ganz konfus. Früher habe ich das alles immer nur für Spinnereien meiner Kleinen gehalten. Ich meine … ich weiß, dass sie anders ist. Sie konnte viel früher als andere Kinder reden und laufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Arzt sie als hochbegabt bezeichnet. Dann hat sie angefangen, mit ihrer Hand zu reden, und plötzlich war sie verrückt. Jetzt stehen sie hier, dicht gedrängt wie eine Schafherde, weil sie glauben, dass Mila irgendwas über die Toten weiß. Und mit dir unter einer Decke steckt.«
Lara musterte sie überrascht.
»Ja, auf einmal ist meine Tochter nicht mehr verrückt, sondern eine Wahrsagerin!« Karin atmete tief durch und schien sich zur Ruhe zu zwingen. »Für mich war sie nie verrückt. Sondern immer ein Wunder.«
Lara lächelte. Sie kannte Karin noch nicht lange, da ihr Vater ihr die andere Hälfte ihrer Familie verschwiegen hatte. Aber in diesem Moment sah sie so viel Liebe in ihren Augen, dass es schwer nachvollziehbar war, warum man einen solchen Menschen verheimlichen wollte.
Ihre Tante stand entschlossen auf und sah in die herumstehende Menge. »Die Show ist vorbei. Nehmt euch alle noch ein Stück Kuchen, und dann hätten wir gerne unsere Ruhe.«
Empörtes Gemurmel war zu hören. Nur Mathilda grinste.
Die Gesellschaft löste sich bald auf, und Lara half Jo und Karin, aufzuräumen. Sie wollte so schnell wie möglich zu Timo. Er musste von ihrer Erinnerung erfahren. Vielleicht hatte er das Auge auch gesehen?
Während Jo und Karin in der Küche den Abwasch machten, ging Lara in das kleine Wohnzimmer und wollte die letzten Teller abräumen. Eine Person war noch da, stand mit dem Rücken zu ihr am Kamin und blickte in das ausgehende Feuer. Im ersten Moment glaubte Lara, dass es Marcs Großvater war.
»Die Damen sind schon weg.«
Der Mann drehte sich um und sah sie mit dunklen Augen an. Es war nicht Gustav. Es war der Mann vom Friedhof.
»Ich wollte zu dir«, sagte er ruhig und setzte sich auf den Hocker vor dem Kamin. »Du warst vorhin so schnell weg.«
Lara ging langsam näher. Wieder holte der Mann diesen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche.
»Wer sind Sie?«, fragte sie vorsichtig .
Er klopfte auf den freien Platz neben sich. »Das tut nichts zur Sache. Was immer ich bin, ich werde es nicht mehr lange sein.«
Sie setzte sich. »Sind Sie einer der Wandelnden?«
»Nein.«
Jo kam ins Zimmer. »Lara, magst du noch Kuchen?«
»Nein, danke.«
Er lächelte und räumte weiter ab. Sie wandte sich wieder an den Mann.
»Ich möchte dir das hier geben.« Er reichte ihr den Zettel.
»Was ist das?« Sie nahm ihn entgegen. Es war ein altes Papier. Bereits vergilbt und an den Ecken eingerissen.
»Es wird dir den Weg weisen.«
Sie faltete ihn auseinander. Der Zettel war leer. Sie drehte ihn um. Auch auf der Rückseite stand nichts geschrieben. »Es ist leer.«
»Das Papier ist ungeheuer wichtig«, betonte der Mann, ohne auf ihre Aussage einzugehen. »Es wird sich offenbaren, wenn du es brauchst. Verlier es auf keinen Fall. Wenn du damit fertig bist, kannst du es Mila geben.«
»Mila?«
»Aber bis dahin sag ihr besser nichts. Sie ist im Moment etwas bockig.« Er stand auf.
Lara sah ihm irritiert hinterher. »Wer sind Sie? Was soll das alles?«
In der Tür drehte er sich noch einmal um und musterte sie ernst. »Ihr müsst das wieder in Ordnung bringen. Und zwar schnell.« Mit diesen Worten verließ er den Raum .
Sie wollte ihm gerade hinterherlaufen, als Jo zurück ins Zimmer kam. »Lara, ich dachte, du hilfst uns?«
»Wer war der Mann?«
»Welcher Mann?«
»Na, der Typ. Der gerade raus ist.«
»Hier war niemand.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Ich saß neben ihm. Auf dem Hocker. Als du reingekommen bist und mich nach dem Kuchen gefragt hast.«
»Du warst alleine.« Wieder dieser Blick.
Sie dachte darüber nach, Jo den Zettel zu zeigen. Doch was würde ein leerer Zettel beweisen? Verwirrt faltete sie ihn zusammen und steckte ihn ein.
»Ist alles in Ordnung?«
Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Alles okay.« Schnell eilte sie unter Jos prüfendem Blick aus dem Zimmer nach draußen. Es war niemand zu sehen.
An diesem Tag erreichte sie Timo nicht mehr. In der Nacht schlief sie kaum. Und wenn, dann träumte sie von einem Auge, das seine Bestimmung vergessen hatte. Anschließend wachte sie mit dem Gefühl auf, dass sie ihm helfen musste, seine Erinnerung wiederzufinden.