Die Flasche
Lara trat hinter Isabel und Marc aus dem Haus. Er hatte ihr angeboten, sie zum Termin bei ihrer Psychologin zu fahren, was Karin sehr recht war. Jo und sie mussten zum Baden Airpark und wollten danach Begüm aus dem Hotel holen, um sie bei sich einzuquartieren.
Vor der Tür stand ein alter, blauer Mercedes. Das Fenster des Rücksitzes stand offen, und Susis Kopf hing heraus. Als der Hund sie sah, stand er auf und bellte erfreut, was den Wagen zum Wackeln brachte.
Marc ging auf das Auto zu und streichelte Susis Kopf, während Isabel sich zu Lara umdrehte.
»Du bist also mit Timo befreundet?«
Lara wunderte sich nicht nur über die Frage, sondern auch über den verhörähnlichen Tonfall. Warum bildete dieses Model sich ein, dass Lara ihr wegen irgendetwas Rechenschaft schuldete? »Warum fragst du?«
»Weil ich mit ihm befreundet bin. Und ich habe mir Sorgen gemacht, als er verschwunden war.«
»Komisch. Er hat deinen Namen nie erwähnt.«
Marc öffnete die Fahrertür und sah zu den beiden. »Kommt ihr?«
»Damit das klar ist«, Isabel baute sich vor Lara auf, »ich glaube eure Amnesienummer keine Sekunde. Aber ich weiß genau, dass Timo keinen Scheiß baut. Er hätte seine Eltern niemals dieser Sorge ausgesetzt. Oder mich. Also lass ihn in Ruhe! Er hat schon genug durchgemacht.« Sie wartete nicht mal eine Antwort ab und ging einfach zum Auto .
Lara konnte es nicht fassen. Was bildete die sich eigentlich ein? Wütend stapfte sie hinterher. »Was weißt du denn von mir?«
Isabel blieb an der Beifahrertür stehen und musterte sie abschätzig. Marc, der mittlerweile am Steuer saß, sah interessiert auf.
»Du kennst mich nicht. Du hast keine Ahnung, was ich erlebt habe. Ich übrigens auch nicht. Aber ich lasse mich von dir bestimmt nicht eine Lügnerin nennen!«
Isabel verdrehte die Augen. »Zwei Menschen verlieren für die exakt gleiche Zeit ihr Gedächtnis? Wie soll das funktionieren?«
Lara konnte es nicht mehr hören. »Genau das wollen wir herausfinden«, rief sie wütend.
»Und deshalb steigt ihr jetzt ein!«, kam es aus dem Auto heraus.
Isabel setzte sich auf den Beifahrersitz, und Lara öffnete die hintere Wagentür. Susi drehte sich auf der Rückbank um und begrüßte sie schwanzwedelnd. Lara zwängte sich neben die riesige Hündin, die sich mit den Vorderpfoten auf ihrem Schoß breitmachte und versuchte, ihr Gesicht abzuschlecken. Schlagartig ging es ihr besser.
Marc startete den Wagen und fuhr den Waldweg rückwärts raus. Dabei drehte er sich um und warf Lara einen intensiven Blick zu. Als hätte Isabel es gespürt, legte sie die Hand erneut auf seinen Oberschenkel. Doch das hinderte Marc nicht daran, Lara anzusehen. Was war das zwischen den beiden eigentlich für eine Beziehung? Glaubte er wirklich, mit Lara flirten zu können? Wenn es das war, was er versuchte.
Trotz allem machten seine Blicke sie nervös.
»Ich habe gestern deinen Opa kennengelernt«, plapperte sie deshalb, als er das Auto aus dem Wald herausgefahren hatte und sich wieder auf die Straße konzentrieren musste.
»Hat er erwähnt. Er fand dich nett.«
»Echt? Hat man ihm nicht angemerkt. Er ist mit einem Schinkenbrötchen geflohen.«
Marc lachte. »Kann ich mir vorstellen. Er kann nicht so gut mit Menschen.«
»Dann hast du das also von ihm?«
Er schmunzelte, während Isabel ihn von der Seite musterte.
»Er hat erzählt, dass du diese Maike Brandt gefunden hast.«
Einen Moment lang sagte er nichts dazu.
Bis Isabel ihn fragend anschaute. »Davon hast du mir nichts erzählt.«
»Ich habe den Knall gehört. Susi hat es schon gewittert, bevor es passiert ist. Ich bin mit ihr hin und … Maike lag neben ihrem Auto. Oder das, was von ihr übrig war. Sie hat mich angesehen … ohne Augen. Aber ich wusste, dass sie mich trotzdem sieht. Sie wollte, dass ich ihr helfe.«
Schweigen. Bis Isabel leise nachhakte. »Und?«
»Ich bin weg. Das war mir zu krass.«
»Du hast sie da liegen lassen?«, fragte Lara ungläubig.
»Die sah aus wie ein Zombie!«, verteidigte sich Marc.
»Aber sie sind keine Zombies. Sie sind bei klarem Verstand. «
»Ja. Bis sie unsichtbar und zu kleinen Kindern werden«, konterte Marc genervt.
Lara hatte das Gefühl, dass ihm seine Flucht im Nachhinein leidtat und er sein Handeln jetzt umso stärker verteidigen musste.
»Wo sie jetzt wohl ist?«, grübelte Isabel.
»Kennst du sie?«, fragte Lara.
»Sie war mit mir in einer Klasse. Wir haben vor zwei Jahren zusammen das Abitur gemacht. Wir kannten uns kaum. Ich konnte sie nicht mal besonders leiden. Aber so ein Unfall, das ist … das wünsche ich niemandem.« Isabels Stimme brach bei den letzten Worten ab.
Marc lenkte den Wagen ins Tal hinunter.
Isabel räusperte sich. »Am Flughafen haben sie erzählt, dass die Regierung die Wandelnden in Quarantäne stecken will. Falls es ein Virus ist oder so. Habt ihr davon was mitgekriegt?«
»Eine Krankenstation. Am Flughafen«, erklärte Lara. »Jo und Karin fahren gleich dort hin.«
»Eine Krankenstation? Für Tote?«, stutzte Marc. »Wie soll das funktionieren? Wollen sie alle Wandelnden auf der ganzen Welt einsammeln? Da kommen doch täglich Tausende dazu.«
»Keine Ahnung. Vielleicht finden sie ja eine Möglichkeit zu helfen?« Lara beugte sich interessiert vor. »Sie haben erzählt, Maike hat ein Reh angefahren. Was war mit dem Reh? Hast du es an der Unfallstelle gesehen?«
»Was meinst du damit? Es ist tot. Es lag im Graben.«
»Also können die Tiere sterben«, stellte Lara fest .
Marc schwieg.
»Es stimmt. Es betrifft nur Menschen«, mischte sich Isabel wieder ein. »Viele sehen darin die Bestätigung, dass Tiere einen anderen Himmel haben. Oder was auch immer.«
Lara dachte darüber nach und streichelte Susis Kopf, die glücklich hechelte. Sie hatte immer geglaubt, dass alle Lebewesen nach dem Tod dasselbe erwartete. Was auch immer es sein würde. Davon hatte sie sich nie eine konkrete Vorstellung gemacht. Was bedeutete es nun, dass die Tiere gehen konnten, während die Menschen als Wandelnde zurückblieben? Gab es wirklich so etwas wie den Himmel und hatten die Menschen es einfach nur gründlich verbockt und mussten nun in der eigenen Hölle zurückbleiben?
»Warum ist Susi heute eigentlich bei dir?«, durchbrach Isabel die Stille. »Sie klebt doch sonst immer an Gustav. Zumindest seit seiner OP.«
»Er hat einen Arzttermin. Außerdem ist Susi immer noch mein Hund.«
Lara musste lächeln, als sie eine gewisse Eifersucht in seiner Stimme wahrnahm. Es war das erste Mal, dass er so etwas wie Verletzlichkeit zeigte.
»Hat die OP geholfen?«, wollte Isabel wissen.
»Angeblich haben sie alles rausgekriegt. Aber er ist immer noch völlig verballert.«
»Was hat er denn?«, fragte Lara.
»Gehirntumor.«
Sie sah, wie seine Hände sich fester um das Lenkrad klammerten. Man musste kein Psychologe sein, um zu ahnen, was ihn beschäftigte. Was würde mit Gustav geschehen, wenn er starb? Sein Großvater war schon älter und offenbar in angeschlagenem Gesundheitszustand. Die Situation war vermutlich weder für den alten Mann noch für seinen Enkel einfach. Er würde auch ein Wandelnder werden. Und irgendwann ein unsichtbares, nicht zu beherrschendes Kleinkind, wenn niemand eine Lösung für das Problem fand.
Lara spürte Nervosität in sich aufkommen. Das Gefühl, dass sie mehr wusste, als ihr im Moment klar war, machte sich erneut bemerkbar. Aber wie konnte ihr Verschwinden und Auftauchen mit dem nicht mehr eintretenden Tod in Zusammenhang stehen?  
Sie hatten das Dorf halb durchquert, als Marc den Wagen am Straßenrand vor dem Einhorn parkte, dem Restaurant von Timos Eltern.
»Hey, ich muss runter nach Achern«, erinnerte Lara ihn, doch er drehte sich zu ihr um.
»Wir suchen Timo. Und dann reden wir über das Programm.«
»Nein. Ich muss zum Arzt.«
»Was willst du dem erzählen? Dass das Programm deines Vaters ein Beamer ist? Dass eine dicke Katze diesen Beamer offensichtlich benutzt und in der Weltgeschichte herumgondelt?«
»Was redest du da?«, fragte Isabel dazwischen. »Das mit dem Beamer war doch ein Scherz.«
Marc reagierte nicht auf sie. Er sah Lara an. »Keiner glaubt dir. Diese Therapie bringt in deinem Fall nichts. Deine Psyche ist nicht das Problem.«
»Das, also …«, stammelte Lara überfordert. »Das hast du nicht zu bestimmen.«
»Es ist reine Zeitverschwendung. Und wenn ich mich richtig erinnere, hast du es verdammt eilig, deine Freundin wiederzufinden.«
Sie musterte ihn gereizt. Er wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste. Abgesehen davon hatte sie diese Gedanken schon selbst gehabt. Das Wichtigste war für sie im Moment, sich zu erinnern. Um herauszufinden, wo Ayse war. Diese Erinnerungen konnten nur von einer Person wieder zurückgebracht werden. Und diese Person war nicht ihre Psychologin. Nach einigem Zögern stieg sie aus. Marc und Isabel taten es ihr gleich.
»Was redest du da? Was soll das mit dem Beamer?«, wollte Isabel erneut wissen.
Marc ging auf das Restaurant zu.
»Marc! Ich rede mit dir!«
Was ihm herzlich egal zu sein schien. Er hatte das Restaurant bereits betreten.
Als Lara und Isabel ihm folgten, kam Timos Mutter sofort auf sie zugelaufen. Die Gaststube war noch leer und wurde für den Mittagstisch eingedeckt. Timos Mutter war eine kleine, runde Frau, deren Gesicht milde Freude ausdrückte, als sie Isabel entdeckte.
»Du bist zurück!« Sie stapfte auf das Mädchen zu, um sie mit ihren dicken Armen zu umfassen.
Isabel schien alle Menschen magisch anzuziehen. Jeder schien sie zu mögen. Im Gegensatz zu Lara.
Timos Mutter ließ Isabel los und sah Lara an. Ihre Augen funkelten böse. »Wo steckt er?«
»Wer? «
»Timo! Er ist schon wieder die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Was hast du mit ihm gemacht?«
»Gar nichts«, protestierte Lara und war aufgrund dieser Nachricht mehr als beunruhigt. »Er hat mich gestern nach Hause gebracht und ist dann weggefahren.«
»Nachdem du ihn mit Drogen vollgepumpt hast!«
Lara verdrehte die Augen. Sie war es leid, sich diese Vorhaltungen anzuhören. Drogen schienen für Timos Eltern die einzige logische Schlussfolgerung, warum Lara und er zehn Tage verschollen gewesen waren. Und wer war schuld? Sie natürlich. Das Mädchen aus Berlin. »Ich habe Ihnen doch schon tausend Mal gesagt, dass Timo und ich keine Drogen genommen haben!«
»Du kannst mir viel erzählen.«
»Sie hat gestern ihren Vater beerdigt«, meldete sich Marc zu Wort.
Timos Mutter schien einen Moment lang verlegen. »Ja, das … mein Beileid.«
»Sie müssen nicht so tun, als hätten Sie dafür Verständnis«, erwiderte Marc entspannt. »Oder so was wie Mitgefühl.«
Die Frau schnappte empört nach Luft.
»Aber als ich Lara gestern kennengelernt habe, hat sie auf mich sehr nüchtern gewirkt.«
Timos Mutter murmelte etwas Unverständliches. Lara hatte keine Lust mehr auf diese albernen Vorwürfe, drehte sich um und ging hinaus.
Timo war verschwunden. Nachdem er sie geküsst und sie ihn weggestoßen hatte. Sie musste ihn suchen. Und ihr fiel nur ein Platz ein, wo er sein könnte. Sie ging bereits die Straße hoch, als Marc sie einholte.
»Hey, Goldi. Wo willst du hin?«
»Kannst du mal aufhören, mich so zu nennen?«
»Wo willst du hin?«
»Zum Mummelsee. Vielleicht ist er dort.«
»Und da willst du hinlaufen? Hast du eine Ahnung, wie weit das ist?«
Hatte sie. Zwanzig wundervolle Minuten auf der Vespa. Angelehnt an Timos Rücken.
»Ich fahre dich.«
Er nahm sie an der Hand und zog sie mit sich zum Wagen. »Ich habe nämlich auch noch ein paar Fragen an ihn.«
Als sie sich bereits ins Auto setzte, kam Isabel aus dem Restaurant gelaufen.
»Wo wollt ihr hin?«
Marc gab ihr keine Erklärung, und Isabel stieg hektisch ein. Als hätte sie Angst, dass er sie vergessen könnte. Zu Recht, wie Lara dachte. Denn dafür, dass die beiden zusammen waren und Isabel gerade von einer abenteuerlichen Reise zurückgekehrt war, schien ihre Anwesenheit für ihn nebensächlich.
Mit Höchstgeschwindigkeit lenkte er den Mercedes den Berg hoch. Warum hatte er es so verdammt eilig?
Als sie Brandmatt durchquerten, schrie Isabel mit einem Mal auf. »Achtung!«
Marc stieg in die Eisen und brachte das Auto zum Stehen. Lara sah nach vorn. Auf der Straße stand eine ältere Dame, die fluchend ihren Wanderstock in die Höhe hielt. Marc wartete ungeduldig ab, bis die Frau die Straße überquert hatte, und gab dann erneut Gas.
»Kannst du mal langsamer fahren? Was ist denn los?« Ihre Stimme zitterte.
So knapp war es nun auch wieder nicht gewesen.
»Er will es ohne uns machen«, erwiderte Marc, sauste am Ortsausgang vorbei und weiter die kurvige Straße hoch. »Und wenn dir mein Fahrstil nicht passt, dann steig aus.«
Susi jaulte leise, und Lara kraulte sie beruhigend. »Was will er ohne uns machen?«
Keine Antwort. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Als Marc auf den Parkplatz des Mummelsee-Hotels einbog, entdeckte Lara zwischen den wenigen Touristenautos Timos Vespa.
Eilig stieg sie aus und wollte direkt zu dem kleinen Waldweg, der hoch zum Katzenbuckel führte.
»Wo willst du jetzt wieder hin?«, fragte Marc.
Sie drehte sich genervt um. »Er geht da hoch, wenn er alleine sein will.« Sie wollte bereits weiter, als sie erneut seine Stimme hörte.
»Diesmal nicht.«
Sie drehte sich um. Marc blickte Richtung See, genau wie Isabel, die ebenfalls ausgestiegen war. Eine Gestalt kam ihnen entgegen. Klitschnass und nur in Shorts. In den Händen Klamotten.
Lara wollte Timo entgegenrennen, als sie sah, dass Isabel mit besorgtem Gesichtsausdruck bereits zu ihm lief.
»Timo!«, rief sie und nahm ihn sofort in die Arme.
Die Berührung war so vertraut und selbstverständlich, dass Lara verblüfft stehen blieb .
»Hey! Was machst du denn hier?«, fragte Timo und zitterte dabei vor Kälte.
»Die haben mich aus dem Land geschmissen.«
»Das schaffst auch nur du.«
»Was geht bei dir? Du gehst schwimmen? Im September? Deine Eltern suchen dich!«
»Ich habe etwas gefunden.« Dabei sah er zu Lara.
»Du ziehst dich jetzt erst mal an!«, forderte Isabel besorgt und rubbelte seine Oberarme.
In diesen wenigen Sekunden hatte Lara zwischen den beiden mehr Vertrautheit beobachtet als zwischen Marc und Isabel. Die doch scheinbar ein Paar waren.
Timo ließ die Klamotten bis auf ein T-Shirt auf den Boden fallen, die sogleich von Isabel sortiert und ihm hingehalten wurden. Doch er wickelte etwas aus dem Shirt und ging damit auf Lara zu. Er hob eine kleine Flasche in die Höhe. Klein, mit dickem Bauch und schmalem Flaschenhals, der mit silbernen Ornamenten verziert war. Sie wirkte antik und war mit einem kleinen Korken verschlossen. Innen waberte eine silberne Flüssigkeit hin und her. Schwerfällig wie Quecksilber.
»Erinnerst du dich?«
Lara saß neben Timo auf einer Bank direkt am Seeufer. Das schwarze Wasser plätscherte sanft vor sich hin. Dunkel und zu schwefelhaltig für Fische, da es direkt aus dem Moor der Hornisgrinde in den See floss. Laut Jo fühlten sich nur Molche in diesem sauerstoffarmen Wasser wohl. Und Susi, die hechelnd durch das Wasser sprang. Timo hatte sich zwar angezogen, war aber immer noch völlig durchgefroren .
Lara starrte auf die Flasche in ihrer Hand. Timo war gestern hochgefahren, um auf Tauchstation zu gehen. Die ganze Nacht hatte er gesucht. War immer wieder auf den Grund des Sees abgetaucht und hatte ihn systematisch abgetastet.
»Nette Story. Und wozu das Ganze?«, wollte Marc wissen, während er Steinchen ins Wasser warf.
Lara beobachtete, wie Isabel ein Tablett balancierend aus dem Hotel kam. Dampfende Tassen standen darauf.
»Ich habe mich erinnert. Als wir uns …« Er sah sie nervös an.
»Als ihr rumgemacht habt. Super. Und weiter?« Marcs Stimme klang ungeduldig.
Aber Timo sah sie weiterhin schweigend an. Als würde er auf eine Antwort warten. 
»Du hast es auch gesehen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja. Als hätte ich es nie vergessen.«
Lara hätte am liebsten betont, dass sie den Kuss genossen hatte. Aber vor Marc würde sie sich eher auf die Zunge beißen, als dieses Detail zu erwähnen. Isabel, die in diesem Moment wieder zu ihnen trat, reichte Timo und Marc jeweils eine Tasse und nahm sich selbst die dritte.
Sie lächelte Lara betont entschuldigend an. »Ich wusste nicht, wie du deinen Kaffee trinkst.«
Lara verdrehte die Augen. Isabel konnte ihr gar nicht genug zeigen, wie wenig sie ihrer Meinung nach dazugehörte. Was hatte sie ihr eigentlich getan? Timo nahm einen Schluck und reichte seine Tasse dann ganz selbstverständlich an Lara weiter .
»Und du hör auf, Steinchen zu werfen«, sagte Isabel zu Marc, der demonstrativ einen weiteren Stein ins Wasser warf.
»Warum nicht?«, fragte Lara.
»Es ist diese Legende«, erklärte Timo.
»Schwachsinn«, fand Marc.
»Im Mummelsee lebt ein Geist«, erwiderte Isabel überzeugt. »Er bewacht den magischen Durchgang. Überall in dieser Gegend gibt es magische Orte , die unterirdisch miteinander verbunden sind. Wenn man einen Stein wirft, blockiert er den Durchgang. Also wirft der Geist vom Mummelsee ihn zurück und beschwört ein Unwetter herauf.«
Zweifelnd sah sie Isabel an. »Du glaubst also nicht, dass Timo und ich zehn Tage unserer Erinnerung verloren haben. Aber diese Legenden glaubst du?«
Da spürte sie einen ersten Regentropfen auf der Hand.
»Das hat nichts mit dem Stein zu tun«, beharrte Marc, während auch er sich einen Regentropfen aus dem Gesicht wischte. »Außerdem haben wir grad echt andere Probleme. Timo, was soll das mit der Flasche?«
»Ich habe nicht alle Gegenstände gefunden. Aber das Wichtigste war sowieso sie.«
»Moment. Von welchen Gegenständen redest du?«, hakte Lara nach.
»Na, diese Brosche, ein Blatt, ein Stock und …«
»Hast du das Auge nicht gesehen?«, unterbrach Lara ihn verwundert.
»Welches Auge? «
»Ein riesiges, schwebendes Auge. Das vergessen hat, wer es ist. Und das immer Erschaffe! Erschaffe! ruft.«
Timo sah sie verständnislos an.
»Was habt ihr eigentlich geschmissen?«, wollte Isabel wissen. »Und wie kommst du dazu, deine Eltern schon wieder ohne eine Nachricht von dir zu lassen? Die machen sich Sorgen.«
Der Regen nahm zu. Außerdem donnerte es jetzt. Mit einem mulmigen Gefühl blickte Lara zum See. Marc warf weiter Steine, während es nun richtig regnete. War an der Legende etwas dran? Diese Gegend machte einen wirklich verrückt.
»Isa, du kapierst das nicht.«
Timo hatte sogar einen Spitznamen für das Model. Der Tag wurde immer besser.
»Ich habe keine Drogen genommen. Wir wissen wirklich nicht, was mit uns passiert ist.«
Ihr Blick zeigte deutlich, dass sie auch ihm nicht glaubte.
Marc kam näher. »Aber an irgendwas habt ihr euch ja jetzt erinnert.«
»Nicht richtig«, gestand Timo. »Nur an diese Gegenstände und … die Flasche. Ich weiß, dass sie wichtig ist.«
»Er hätte die Flasche niemals mitnehmen dürfen!«, rief Lara plötzlich und verschüttete vor Aufregung etwas von dem Kaffee, der heiß auf ihren Oberschenkel tropfte. Sie bemerkte es kaum. »Das hat Mila zu mir gesagt.«
Timo starrte sie entgeistert an.
»Mila? Die verrückte Tochter von Jo und Karin?«, fragte Marc. »Was hat die denn jetzt damit zu tun?«
»Sie ist nicht verrückt!«, erwiderte Lara ungeduldig. »Sie weiß irgendwas. Aber sie wollte es mir nicht sagen. Nur, dass du eine Flasche mitgenommen hast. Und jetzt hast du eine gefunden. Also …«
»Wo auch immer wir waren, ich habe sie von dort mitgenommen. Und das hätte ich nicht tun dürfen,« schlussfolgerte Timo ernst.
Lara dachte an Milas wütendes Gesicht. »Was ist, wenn das alles zusammenhängt? Unser Verschwinden, diese Flasche und die Wandelnden?«
Er musterte sie. »Den Gedanken hatte ich auch schon.«
»Bin ich eigentlich die Einzige, die erkennt, wie verrückt ihr klingt?«, fragte Isabel.
»Menschen sterben nicht mehr. Wie verrückt ist das?«, konterte Marc und brachte sie so zum Schweigen. Dann wandte er sich an Lara. »Mach sie auf.«
Etwas in ihr mahnte zur Vorsicht. Marc wollte schon nach der Flasche greifen, aber im selben Moment donnerte es laut und Isabel zuckte zusammen.
»Nein«, erklärte Timo bestimmt. »Wir dürfen sie nicht öffnen.«
»Aha, und warum nicht?«
Der Regen nahm weiter zu.
»Wir wissen doch gar nicht, was es ist.« Er nahm Lara die Flasche aus der Hand, als wollte er sie beschützen.
»Und wie sollen wir das rausfinden, wenn du sie nicht aufmachst?«
»Wieso überhaupt wir?«, konterte Timo. »Du hast damit doch gar nichts zu tun. «
»Ihr schuldet mir was«, erwiderte Marc. »Ich habe ein Recht auf Styx . Und diese Flasche ist der einzige Anhaltspunkt. Also …«
»Du hast kein Recht auf irgendwas! Wir wollen unsere Erinnerungen zurück. Und unsere Freunde. Selbst, wenn wir das Programm finden, niemand wird es mehr benutzen!«
»Das ist dann meine Entscheidung«, fand Marc.
»Ich kapier überhaupt nichts mehr«, stellte Isabel fest. »Können wir gehen? Wir werden klitschnass.«
»Keiner macht hier irgendwas«, rief Lara nun dazwischen. »Das Programm ist von meinem Vater. Also bin ich jetzt der rechtmäßige Besitzer. Wenn wir etwas finden, dann entscheide ich, was wir tun! Und jetzt fahre ich zu Mila und zeige ihr diese Flasche.«
Alle sahen sie an.
»Ich fahre«, sagte Marc schließlich.
Timo und Lara hatten sich neben Susi auf die Rückbank gezwängt. Nach seinem Bad im See stank der Hund entsetzlich, sodass Lara das Fenster etwas geöffnet hatte. Einzelne Tropfen drangen von außen in das Auto. Timo wäre lieber mit der Vespa gefahren. Aber da er immer noch vor Kälte zitterte und schon wieder klitschnass geworden wäre, hatte Lara ihn überredet, sich von Marc mitnehmen zu lassen. Isabel hatte er versprechen müssen, sich kurz bei seinen Eltern zu zeigen. Er saß dicht neben Lara – was sie ziemlich nervös machte – und hielt die Flasche beschützend in der Hand.
Marc bog gerade auf die Schwarzwaldhochstraße ab, als Timo etwas aus der Hosentasche zog. »Ich habe noch etwas gefunden. Aber das wollte ich dir alleine zeigen«, flüsterte er ihr ins Ohr, was ihr eine Gänsehaut bescherte. Er drückte es ihr in die Hand.
Eine Brosche. Unter einer dünnen Dreckschicht konnte sie die grünen Strasssteine erkennen.
»Die Elfe!«, rief sie überrascht. Die Brosche ihrer Mutter, die Lara am Tag ihrer Ankunft hier getragen und die Mila auf ihrem Bild gezeichnet hatte. Sie hatte sie also noch um den Hals gehabt, als sie in den Mummelsee gefallen war. Das war die einzige Erklärung, warum sie am Grund des Sees gelegen hatte.
»Und noch etwas«, erklärte Timo und legte Lara einen goldenen Ring in die Hand.
Sie betrachtete ihn ratlos. »Ein Ring, um sie alle zu knechten?«, bemühte sie sich um einen Scherz.
»Lies die Inschrift.« Besorgt sah er sie an. »Ich kann mir das nicht erklären.«
Sie nahm den Ring und hielt ihn hoch. Im Inneren des Rings waren zwei Namen eingraviert: Peter und Maja . Geschockt ließ sie den Ring fallen.
Der Ehering ihrer Eltern. Den ihr Vater bei den Überresten ihrer Mutter auf dem Friedhof in Berlin gefunden hatte. Er hatte ihn bei sich getragen. Wie zum Teufel war er in den Mummelsee gekommen?
Genau diese Frage wollte Lara Timo gerade stellen, als sie Isabels Aufschrei hörte. »Pass auf!«
Seit dem Tag zuvor war Maike durch den Wald geirrt. Sie hatte längst die Orientierung verloren, obwohl sie in dieser Gegend aufgewachsen war. Der Schmerz war mittlerweile erträglich geworden. Er ließ sogar etwas nach. Aber klar denken konnte sie nicht. Blickte sie an sich herunter, so erkannte sie nur verbranntes Fleisch. Die Knochen standen überall heraus.
Sie hatte von den Menschen gehört, die nicht mehr starben. Aber dass sie ohne Augen sah, dass sie mit verbranntem Fleisch laufen konnte, das war zu viel. Sie begriff nicht. Und wollte nur noch eins: es beenden.
Als sie durch die Bäume die Straße entdeckte, beschleunigte sie ihren Gang. Sie hatte das Auto kommen gehört und war im letzten Moment aus dem Wald hervorgesprungen, damit der Fahrer sie auf keinen Fall zu früh sehen und abbremsen konnte.
»Töte mich! Töte mich endlich!«, schrie sie dem Wagen entgegen, ehe sie von ihm erfasst wurde.
Lara spürte den Zusammenstoß. Der Mercedes geriet ins Schleudern. Susi jaulte. Isabel schrie. Ihre linke Hand umfasste Marcs Hand am Steuer. Timo legte beschützend den Arm um Lara und ließ dabei die Flasche los. Lara sah in Zeitlupe, wie diese durch die Luft flog, während der Aufprall ihren Körper nach vorn warf. Sie wollte sich abstützen und bekam Isabels Schulter zu fassen. Der Korken der Flasche löste sich. Ein einzelner Tropfen der silbernen Flüssigkeit glitt durch den Flaschenhals nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte er in der Luft. Als würde er sich umsehen.
Plötzlich hatte Lara das Gefühl, als würde eine Heerschar von Ameisen über ihren Körper laufen. Es kribbelte überall. Bis der Wagen mit einem lauten Knall zum Stehen kam.