Welt Zwei
Frauenpower
Blut. Überall Blut. Sie versuchte, den Fluss zu stoppen, tauchte ihre Hände in Timos Wunde. Jemand schrie.
»Es wird alles gut.«
»Lara.«
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie schmeckte das Salz ihrer Tränen.
»Alles wird gut.«
Der Blutfluss war nicht zu stoppen. Jemand schluchzte.
Sie drückte die Hände tiefer in die Wunde.
Und erinnerte sich: ihre eigenen Hände. Tief in einem Hügel aus Sand. Und das Gefühl, ihn für immer verloren zu haben. Der größte Verlust, den sie sich vorstellen konnte. So klar war die Erinnerung, als hätte sie nie vergessen.
»Nein!«, schrie sie.
»Lara! Es ist zu spät.«
Sie sah auf. Neben ihr saß Marc. Sein Blick ernst, erschüttert. Als hätte er gerade etwas verstanden. »Er ist tot.«
»Ist er nicht!«
Er durfte es nicht sein. Und doch war Timo bleich, sein Körper leblos. Das Blut floss einfach an ihren Händen vorbei.
Isabel saß neben Timo im Gras und starrte stumm vor sich hin.
»Wir müssen ihm helfen!« Lara weinte. » Helft ihm doch.«
Marc sah sie ruhig an. »Du kannst ihm nicht mehr helfen.«
Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Zu spät. Sie hatte zu spät reagiert. Die Harpune hatte Timo getroffen, bevor sie die Flasche geöffnet hatte. Bevor sie sich schützend auf ihn hatte werfen können. Jetzt war das Wurfgeschoss weg. Verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Nachdem es Timo durchstoßen hatte.
Das Blut sickerte ins Gras. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich ihre Umgebung verändert hatte. Sie befanden sich auf einer Wiese. Sonnenstrahlen beleuchteten die Umgebung. Der Himmel war blau. Das Meer fort.
Aber Lara hatte für ihre Umgebung keinen Sinn. Unter ihr lag Timo, und sie spürte, wie mit seinem Leben all ihre Hoffnung, all ihre Gefühle verblichen.
»Wir können doch gar nicht sterben! Warum kann er denn jetzt plötzlich sterben?«, rief sie verzweifelt.
Hände legten sich auf ihre Schultern, die sie ungeduldig abschüttelte.
»Ihr müsst hier schon mal gewesen sein. Denk nach!«
»Leg deine Hände auf seine Wunde!«, schrie sie Marc an.
Er erwiderte ihren Blick und legte die Hände auf Timos Bauch. »Und jetzt sag mir, ob du hier schon mal gewesen bist.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, keuchte sie, während sie ihre Hände auf Marcs presste, um den Druck auf Timos Wunde zu verstärken. Sie spürte, wie ihr Körper zitterte.
»Weil wir nur dann wissen können, wie wir hier wieder rauskommen.«
Ihr schwindelte. Da war ein Summen in ihrem Kopf. Würde sie gleich in Ohnmacht fallen? Reiß dich zusammen. Ohnmächtig nutzt du ihm nichts! Sie atmete tief durch, doch das Summen in ihrem Kopf blieb.
»Hörst du das auch?«, fragte Marc und sah sich um.
Das Summen wurde lauter. Waren das wieder irgendwelche Geschosse, die sich näherten?
Marc nahm die Hände von Timos Wunde.
»Lass sie drauf!«, rief Lara.
Aber er hörte nicht auf sie. Er schien sie einfach vergessen zu haben, richtete sich auf und sah in den Himmel. »Wow!«
Während sie die Wunde zuhielt, sah auch sie kurz in die von Marc angezeigte Richtung. Im Blau des Himmels zeichneten sich die Umrisse von etwas ab, das langsam näher kam. Etliche Objekte, die größer und wie die gesummte Melodie immer lauter wurden.
Eine wunderschöne Melodie, wie Lara jetzt erkannte, die sie augenblicklich etwas ruhiger stimmte. Die Angst wich und machte großer Erschöpfung Platz. Sie kauerte sich dicht an Timo und hielt ihn fest, während die Objekte am Himmel nun deutlicher zu erkennen waren. Große vogelähnliche Wesen flogen auf sie zu. Ihre Körper waren flach, und die Flügel hatten eine enorme Spannweite von bestimmt drei Metern. Kleine Köpfe wuchsen aus den flachen Körpern, die mit großen, freundlichen Augen ihre Umgebung erkundeten. Diese Geschöpfe sahen aus wie Flundern. Bestimmt zehn Stück flogen auf sie zu. Auf ihren flachen Rücken saßen Gestalten mit ebenso großen Augen, die alle auf sie gerichtet waren. Je näher sie kamen, desto lauter wurde die Melodie, die diese Gestalten summten. Lara spürte, wie der Boden unter ihr zu beben begann. Wie das Vibrieren eines Lautsprechers. Die Flundern bildeten einen Kreis um sie herum und sanken dann langsam Richtung Boden.
Lara konnte nun die Gestalten auf ihren Rücken besser erkennen. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Menschen. Kunstvoll geflochtene Frisuren hatten sie, ihre großen Augen waren schwarz und ihre Gesichter so zart, als wären sie Puppen. Sie waren groß, ihre Gesichter wirkten weiblich, auch wenn sie sonst nicht als Frauen zu erkennen waren. Sie hatten keine Brüste und trugen keine Kleidung. Aber das Auffallendste war, dass etwas über ihre Körper glitt. Sie sah genauer hin. In kleinen Wellenbewegungen flossen Farben über die Haut der Gestalten hinweg. Rot, grün, blau, gelb … In schneller Abfolge hintereinander schimmerten sie glitzernd wie Wellen.
Für einen Moment lang vergaß Lara, dass Timo unter ihr sein Leben aushauchte. Sie vergaß, Angst zu haben, weil sie an einem Ort war, der gar nicht existieren konnte. Sie vergaß, solche Wesen noch nie gesehen zu haben, weil sie so unendlich schön waren.
Marc schien es ähnlich zu gehen. Er starrte die Gestalten an und lächelte. Verzaubert. 
Nur Susi bellte aufgeregt, als die Flundern in einem Kreis um sie herum landeten. Die Hündin rannte ein paar Schritte vor auf die Flundern zu, dann wieder aufgeregt zurück zu Marc. Die Flundern musterten Susi mit ihren Glubschaugen und zuckten zurück, wenn die Hündin sich näherte. Ihre Körper bestanden aus unzä hligen, bunten Schuppen. Die Gestalten mit ihren wechselnden Farben summten immer lauter ihre Melodie.
Waren das Engel?
Waren sie tot?
Eine der Flundern flog etwas näher heran. Die Gestalt auf ihrem Rücken starrte mit den großen, schwarzen Augen zu ihnen. Erst zu Susi, die schwanzwedelnd vor- und zurücklief, dann zu Isabel, die auf den Boden starrte und nichts mitzukriegen schien. Zu Marc, der wie erstarrt neben Lara stand. Und schließlich zu ihr und Timo.
»Helft ihm!«, flehte sie.
Alle Flundern um sie herum zuckten bei ihren Worten zurück. Bis auf die eine Gestalt, die sich ihnen genähert hatte. Erstaunt erkannte Lara, dass die Farben dieser Gestalt sich veränderten. In schnellerer Abfolge wechselten dunkle Farbtöne aufeinander. Als sei die Gestalt … aufgeregt. Ihr Mund öffnete sich, und ihr Summen wandelte sich zu einem Gesang. Die anderen stimmten in den Gesang ein. Und je lauter sie wurden, desto mehr spürte Lara die Wirkung des Gesangs. Als würden sie die ganze Umgebung in Schwingung versetzen. Der Boden unter ihr bewegte sich. Sanfte Wellenbewegungen, hoch und runter. Als würde er atmen.
Sie hielt sich an Timo fest und sah nach unten. Wie Gummi dehnte sich der Boden aus und zog sich dann wieder zusammen. Sie wurden auf und ab getragen von diesen Wellen, als wären sie Treibholz auf einer Meeresoberfläche.
Lara sah zu Marc, der ihren Blick ernst erwiderte. »Was machen sie?«
Er schüttelte verwundert den Kopf. Isabel sah nun das erste Mal auf. Verblüffung war in ihrem Gesicht zu lesen, als würde sie erst jetzt die Wesen um sich herum wahrnehmen. Da spürte Lara, wie Timos Körper sich zu bewegen begann. Bei der nächsten Welle öffnete sich der Boden unter ihm. Immer weiter sackte Timo nach unten, als wollte der Boden ihn langsam verschlucken.
»Nein!« Lara klammerte sich an ihm fest, doch der Gesang der Wesen wurde lauter, und dadurch, so schien es, wurden die Wellen größer und höher. »Hört auf damit!«
Niemand hörte auf sie. Der Boden öffnete sich mehr und mehr, und schließlich, mit einem einzigen gurgelnden Geräusch, verschluckte er Timo.
Entsetzt versuchte sie, ihn festzuhalten. »Marc! Hilf mir!«
Er wollte zu ihr, doch der sich bewegende Boden verhinderte es.
Sie tastete die Oberfläche ab, die sich gerade über Timo verschlossen hatte. »Wo ist er hin? Was habt ihr gemacht?«
Weg. Er war einfach weg. Verschluckt. Vergraben. Fort.
Panisch sah sie sich um. Dann starrte sie zu den Wesen und sprang auf. »Gebt ihn mir zurück!«, schrie sie und versuchte, eine der Gestalten zu erreichen. Aber sie verlor das Gleichgewicht, denn nun bebte der Boden unter ihr.
Lara stürzte und landete unsanft, während zwei riesige Augen sie neugierig anstarrten. Sie hielt inne und erwiderte verdutzt den Blick. Unter ihr, genau an der Stelle, an der Timo gerade noch gelegen hatte, entstand in diesem Augenblick eine der Flundern. Die flachen Flügel hoben sich deutlich vom Boden ab. Hin und her wiegte sich das Tier, dessen Augen sie nervös betrachteten. Sie erkannte, dass es den anderen genauso erging. Marc, Isabel und Susi, sie alle wurden nun von einer solchen Flunder getragen, die langsam in die Höhe glitt.
»Spring ab!«, hörte sie Marc rufen.
Ein Blick nach unten machte klar, dass an Flucht nicht zu denken war. Die Flunder flog sanft, aber stetig in die Höhe. Ein Sprung wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Vorausgesetzt, man konnte in dieser Welt sterben.
Lara musste durchhalten, wenn sie noch eine Chance haben wollte, Timo zu retten. Also klammerte sie sich an dem Tier fest. Die anderen Wesen bildeten einen Kreis um sie herum. Immer noch sangen sie, und nun setzte sich die ganze Formation in Bewegung und flog in eine Richtung davon.
Festhalten. Einfach nur festhalten, dachte Lara und starrte angestrengt zu Marc. Der erwiderte ihren Blick fassungslos.
Sie sah nach unten. Ihr Mund vor Staunen offen. Von hier oben hatte sie nun einen Blick über die Umgebung. Sanfte Hügelketten erstreckten sich bis zum Horizont. Von Wäldern bedeckt, sodass sie hätte glauben können, im Schwarzwald zu sein. Aber bei genauem Hinsehen war zu erkennen, dass diese ganze Welt sich in sanften Bewegungen auf und ab wiegte. Ein einziger, atmender Ball. Die wechselnden Farben waren nicht nur auf den Körpern der Gestalten zu erkennen. Diese ganze Welt, die Bäume, die Wiesen, sogar der Himmel wechselte die Farbe. Wie ein Regenbogen und doch viel intensiver schimmerte diese Welt. Der Anblick war so unfassbar schön, dass Lara für einen Moment lang ihre Angst um Timo vergaß.
Das Tier unter ihr glitt durch die Luft. Es bewegte kaum die Flügel, und sie begriff, dass es nicht durch eigenen Willen flog, sondern durch den Gesang der Gestalten getragen wurde. Sie betrachtete eines dieser Wesen genauer. Hochgewachsen, schlank. Obwohl sie keine Kleidung trugen, wirkten sie nicht nackt. Es war, als wären die Farben ihre Kleidung. Ihr schwindelte. Von der Höhe und von der Tatsache, dass sie an einem Ort waren, den Lara weder kannte noch begreifen konnte.
Sie warf einen letzten Blick zurück an die Stelle, an der Timo verschwunden war. Nichts deutete darauf hin, dass dort gerade noch ein Mensch gelegen hatte. Außer einer kleinen Flasche mit einer schimmernden Flüssigkeit, die im glitzernden Gras lag.
Der Flug schien endlos. Lara hatte sich, genau wie Isabel und Marc, flach auf das Tier gelegt, das in sanften Bewegungen durch die Luft glitt. Isabel klammerte sich fest an das Tier und starrte ausdruckslos vor sich hin, als stünde sie konstant unter Schock. Marc hingegen sah sich interessiert um. Lara konnte keine Angst mehr von seinem Gesicht ablesen, eher Faszination. Susi tänzelte auf ihrer Flunder herum und versuchte immer wieder, eine perfekte Absprungstelle zu finden, um zu ihrem Herrchen zu gelangen. Aber jedes Mal, wenn ihre Flunder sich der von Marc näherte, strebten sie gleich darauf wieder ein Stück auseinander. Die Hündin winselte aufgeregt.
»Alles okay, Susi«, beruhigte Marc sie.
Lara fragte sich, woher er seine Zuversicht nahm. Sie starrte auf ihre Hände, auf denen Timos Blut getrocknet war. Nichts war okay. Sie waren an einem Strand von Riesen attackiert worden. Timo war von der Erde verschluckt. Sie selbst wurden entführt. Das war alles andere als okay.
Lara wurde auf ein Geräusch aufmerksam. Der stete Gesang der Frauen wurde leise von einer neuen Melodie begleitet. Sie sah nach unten. Gerade überflogen sie ein weites Feld, auf denen einige Frauen mit geflochtenen Körben standen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie sangen gemeinsam. Die Frauen um Lara herum sahen ebenfalls nach unten, und ihr Gesang ging nun für einen Moment in den der anderen über. Wie zuvor schon bewegte sich der Boden in sanften Wellen. Auch an dieser Stelle tat er sich auf, doch er verschluckte keine der Frauen. Im Gegenteil. Lara erkannte, dass aus dem Boden etwas herauswuchs. So schnell, dass sie die Bewegung kaum ausmachen konnte, quollen runde, kürbisähnliche Gewächse aus dem Boden. Einige Frauen sammelten diese Dinger ein, während andere mit geschlossenen Augen weitersummten. Waren das Früchte? Brachten die Frauen mit ihrem Gesang die Erde dazu, Nahrung wachsen zu lassen? Unmöglich, schoss es Lara durch den Kopf. Sie musste träumen.
Einen verdammt realen Traum .
Als sie einen hohen Berg zwischen den Wäldern aufragen sah, verlangsamte sich der Flug. Die Tiere flogen dichter an den Boden heran, immer weiter dem Berg entgegen. Sie konnte einen Wasserfall ausmachen, der genau wie der Rest dieser Welt ständig seine Farben änderte. Erst jetzt wurde Lara bewusst, wie durstig sie war.
Neben dem Wasserfall konnte sie kleine Einbuchtungen in dem Berg ausmachen. Die Eingänge zu Höhlen, aus denen nun, da die Flundern mit ihnen landeten, zahlreiche Frauen gelaufen kamen.
Statt dem eingängigen Summen, an das Lara sich fast schon gewöhnt hatte, war nun ein aufgeregtes Schnalzen zu hören. Die Frauen verteilten sich um sie herum und schienen sich mit ihren Geräuschen zu unterhalten. Und obwohl sie diese Wesen nicht verstehen konnte, war Lara eines klar: Ihre Ankunft sorgte für Unruhe und Angst.
Sanft war die Landung, und Susi sprang sofort von ihrer Flunder herunter und auf Marc zu, den sie winselnd abschleckte. Er streichelte sie und hielt sie am Halsband fest, während er langsam von seiner Flunder stieg. Auch Lara kletterte auf den Boden. Ihre Knie waren weich, und sie konnte kaum aufrecht stehen. Nur Isabel machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Mit großen Augen wurde sie von ihrer Flunder beäugt, die sich nun vorsichtig hin und her bewegte, als wolle sie Isabel abschütteln.
Lara ging zu ihr und nahm sie bei der Hand. »Komm.«
Isabel sah sie an, als hätte sie sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. Wie ferngesteuert stieg sie von dem Tier und blieb dann einfach neben Lara stehen .
»Was passiert jetzt?«, wollte Marc wissen.
»Woher soll ich das wissen?«
Das aufgeregte Schnalzen verstummte. Einen Moment lang herrschte Ruhe. Nur das Rauschen des Wasserfalls war zu hören. Dann setzte eine Frau dazu an, zu singen.
»Nicht schon wieder«, stöhnte Marc genervt. Und auch Susi jaulte leise.
Nach und nach stimmten die anderen Frauen in das Summen ein. Lara spürte, wie dieser Gesang alles um sie herum in Schwingung versetzte. Auch der Boden bewegte sich wieder.
Sie stehen mit dieser Erde in Kontakt, schoss es Lara durch den Kopf. Ihr Herz klopfte schneller, als der Boden sich unter ihr auftat. Würde er sie genauso verschlucken wie Timo?
Da erkannte sie, dass etwas aus dem Boden hervordrang. Eine Art Keimling, der schnell größer und größer wurde und zu einer stattlichen Wurzel heranwuchs. Susi jaulte auf, als eine dieser Wurzeln unter ihr hervorbrach und sie auf diese Art zwang, von Marcs Seite zu weichen. Aus allen Ecken schienen die Wurzeln zu wachsen. Lara zog Isabel zu sich und trat noch näher an Marc heran. Bis zu ihrem Kopf wuchs bereits das Wurzelgeflecht und hatte einen kompletten Kreis um sie gebildet, ineinander verrankt blieben nur kleine Lücken, wie Fenster.
»Sie sperren uns ein«, stellte Marc fest.
Tatsächlich. Das Geflecht wuchs weiter über ihren Köpfen zusammen. Lara wagte nicht, sich zu rühren, während das Gefängnis sich über ihnen schloss.