Der Weltenhüter
Mila war sauer. Er ließ sie warten. Das war klar. Er wusste genau, dass er etwas falsch gemacht hatte.
Nervös lief sie am Ufer des Mummelsees auf und ab. Nur wenige Touristen waren da und spazierten am Ufer entlang. Die Leute hatten Angst, dass ein Wandelnder plötzlich zwischen den Bäumen hervorsprang.
Ein älteres Pärchen sah immer wieder zu Mila herüber. Es war ungewöhnlich, dass ein kleines Mädchen allein am Ufer des Sees stand.
Sie hatten ja keine Ahnung.
Mila blickte noch einmal durch Zwitscher hindurch. Sie hatte Timo die ganze Nacht beobachtet, als er die Flasche gesucht hatte. Wie glücklich war sie gewesen, als er sie endlich gefunden hatte! Er hatte sogar verstanden, dass er sie nicht öffnen durfte. Und was war passiert? Die Flasche öffnete sich von selbst bei dem Unfall. Mila war klar, dass der Korken sich nicht zufällig gelöst hatte. Der Schimmer hatte seinen eigenen Willen. Aber welchen Sinn konnte es haben, Lara, Timo und die beiden anderen samt Hund in die andere Welt zu beamen? Der Schimmer wurde an anderer Stelle benötigt. Dringend!
Mittlerweile waren Lara und ihre Anhängsel eingesperrt. Das war ein Fortschritt. Sie würden nichts anstellen können. Schlimm genug, dass sie überhaupt so weit gekommen waren. Die Flasche hatten sie liegenlassen. Das war Milas Chance. Sie musste jetzt nur schnell sein. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie schon längst dort. Aber ohne Styx Zustimmung wollte sie diese Reise auf keinen Fall antreten. Sie hatte die anderen Welten schon durch Zwitscher beobachtet. Dort gewesen war sie allerdings noch nie. Aufgrund Laras Ausflug in das andere Level hatte Styx Mila verfrüht ihre Bestimmung mitgeteilt. Sobald ein junger Weltenhüter von seiner Bestimmung erfuhr, fand der Wechsel statt, weshalb sie Rasmus eher ablösen würde, als es eigentlich geplant gewesen war. Sie musste alles über die anderen Welten lernen, samt ihrer Sprachen. Und zwar im Schnelldurchgang. Reisen durfte sie erst, wenn sie diesen Prozess hinter sich hatte. Diese Regel galt für alle Welten und ihre Hüter, die sich je nach ihrer Lebensdauer in unterschiedlichen Abständen ablösten.
Jemand zwickte sie ins Bein.
»Au!« Sie drehte sich um.
Auf dem Boden kauerte Styx und putzte sich die Vorderpfote. Hinter der dicken Katze stand Rasmus.
»Warum hast du ihr die Karte gegeben?«, rief Mila. Sie war den Tränen nahe und versuchte, diese hinunterzuschlucken.
»Weil Lara die Karte braucht.« Er blieb völlig ruhig. Wie immer. »Sie müssen reisen, um sich zu erinnern.«
Trotzig biss sie sich auf die Unterlippe. »Die Karte gehört mir.«
»Genau genommen gehört sie mir«, mischte sich Styx ein.
Natürlich. Das Tier war auf seiner Seite. Auch wie immer.
»Rasmus hat ausgedient, und du bist noch nicht so weit. «
»Ich bin so weit!«, rief sie und setzte sich auf den Boden, um Styx in die Augen zu schauen. »Ich weiß, wo die Flasche ist. Ich muss nur hin und sie holen.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Das habe ich dir schon erklärt, als du sie hier aus dem See fischen wolltest.«
»Timo hat sie genommen. Timo muss sie zurückbringen«, erklärte Rasmus, dann nahm er ein Steinchen und warf es in den See. »Du darfst nicht eingreifen.«
»Aber er bringt die Flasche nicht zurück. Er benutzt sie! Außerdem hat sie ihn gerade verschluckt. Falls ihr das nicht gesehen habt.«
»Wir wissen noch nicht, was sie mit ihm vorhat.«
»So, wie der ausgesehen hat, hat sie gar nichts mehr mit ihm vor. Er ist längst weg. Aber die Flasche ist noch da! Lass mich hin.«
»Und dann?«, fragte Styx.
»Ich bringe sie zum Auge.«
»Wenn du dort hingehst, kannst du nicht mehr zurück. Eine Welt ohne Weltenhüter … Unmöglich!«
Mila verstummte. Diesem Argument hatte sie nichts entgegenzusetzen. »Das ist nicht die Erschaffung, die meine Seelen angestrebt haben«, versuchte sie halbherzig, Styx umzustimmen. »Jetzt werden sie auch noch eingepfercht und ruhiggestellt. Ich kann das nicht zulassen!«
»Erschaffungen können sich ändern. Vielleicht finden sie diese Erfahrung jetzt viel spannender.«
»Das ist doch Blödsinn! Sie wollen sterben. Sie wollen weiter. Und es ist meine Aufgabe, ihnen die besten Möglichkeiten zu bieten, das zu erleben, was sie gewählt haben. Hast du selbst gesagt!«
»Deshalb machst du also so einen Aufstand?«, hakte Styx nach. »Weil es dir um deine Seelen geht?«
Sie nickte trotzig, konnte die Katze aber nicht ansehen.
»Es geht dir also nicht darum, dass dir etwas weggenommen wurde? Von dem du glaubst, dass es dir gehört?«
»Ich will ihnen doch nur helfen. Sie sind hier gefangen. Und sie können erst weiter, wenn das neue Auge den Schimmer wiederhat.«
»Schon. Aber Lara und Timo die Flasche wegzunehmen, wird das Problem nicht lösen.«
»Was denn dann?« Sie sah, wie das ältere Pärchen zu ihr schaute.
Was sie sahen, war ein kleines Mädchen, das mit einer Katze stritt. Rasmus war für alle anderen Seelen unsichtbar. So wie sie unsichtbar sein würde, wenn sie seine Aufgabe übernommen hatte. Eine Vorstellung, die sie schnell beiseiteschieben musste. Von niemandem mehr gesehen zu werden, außer von einer Katze, der sie im Moment den Hals umdrehen könnte, jagte ihr manchmal Angst ein. Nicht einmal ihre Mutter würde sie dann noch sehen. Das war nicht in allen Welten so. Es gab Seelen, die weiterentwickelt waren und um die anderen Welten wussten. Bei ihnen war man als Weltenhüter Teil der Gemeinschaft und wurde nicht unsichtbar. Wenn Mila ehrlich war, würde ihr das viel besser gefallen. Aber bis die Menschen um sie herum so weit waren, war bestimmt ein anderer Weltenhüter an der Reihe.
Mila bemerkte, dass das Ehepaar langsam in ihre Richtung ging. Sie riss sich zusammen. Besorgte Erwachsene waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Es war schon schwierig genug gewesen, von zu Hause abzuhauen.
Sie musste eine Lösung finden. Denn sie hörte die Verzweiflung der Seelen. Jeden Tag. Jede Sekunde.
Lass uns gehen. Warum sind wir immer noch da? Ich will nicht mehr hier sein.
Sie schlief kaum noch. Fühlte sich verantwortlich. Auch wenn sie laut Styx noch nicht verantwortlich war. Aber Rasmus hatte auch keine Ideen parat, und nun hatte er auch noch ihre einzige Möglichkeit aus der Hand gegeben, zu reisen.
»Wenn ich die Karte hätte, könnte ich ihnen hinterher. Und es ihnen erklären.«
»Du kannst deine Rolle nicht öffentlich machen. Das weißt du genau.«
»Es ist ein Notfall!«
»Siehst du? Genau deshalb habe ich dir die Karte nicht gegeben. Du würdest unüberlegt handeln.«
»Ich habe Laras Vater nicht die Gabe gegeben, dieses Programm zu erschaffen. Und jetzt, da wir den Ärger haben, dankst du ab!«
»Ich habe Peter die Gabe auch nicht verliehen. Das hat er selbst getan. Das weißt du doch.« Rasmus war nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Rasmus hat nicht abgedankt. Noch nicht. Er weiß nur, dass er nicht eingreifen kann.« Styx erhob sich und machte einen Buckel.
»Er hat auch eingegriffen. Als er Lara die Karte gegeben hat.«
Da! Endlich waren beide ruhig. Weil sie recht hatte .
»Es ist eine Gratwanderung«, gab Styx schließlich zu. »Aber du bleibst hier. Darüber werde ich nicht mehr diskutieren. Wenn du beweisen willst, dass du deines Amtes würdig bist, dann bring deine kleine Welt in Ordnung. Das sollte für den Anfang reichen.«
»Und was ist mit den anderen? Und Susi?«
»Wir müssen warten. Bis sie sich erinnern.«
Mila sprang auf und trat wütend mit einem Bein auf. »Sie können sich nur zusammen erinnern. Aber Timo ist weg!«
»Das weißt du nicht. Du musst ihr vertrauen. So funktioniert das mit euch Weltenhütern.«
»Und wenn mir nicht passt, wie es funktioniert?«
Styx wirkte genervt und wollte gehen. Aber Mila würde sich nicht länger wie ein Kleinkind behandeln lassen.
»Bleib hier!«, rief sie und packte ohne Nachdenken die Katze am Genick.
Da ging alles sehr schnell. Mila hörte das Fauchen. Die Energie floss wie ein Beben durch sie hindurch. Styx verließ ihre Katzengestalt. Ihre wahre Natur bäumte sich in Sekundenschnelle auf und stieß Mila mit einem heftigen Schlag von sich weg. Mila flog ein paar Meter durch die Luft, ehe sie keuchend auf dem Boden aufschlug. Leuchtend hell, sodass es sie blendete, formte sich die Energie zu einem riesigen Ball, der über ihr in der Luft schwebte. Der Anblick nahm ihr den Atem. Die Umgebung schien von ihrem Glanz berührt zu werden. Der See, der Wald, alles leuchtete in einem silbernen Schimmer. Erhaben und in seiner Schönheit durch nichts in der Welt zu vergleichen. Aber genauso mächtig und zerstörerisch, wenn man es verärgerte.
»Fass. Mich. Nicht. An.«
Mila hielt ganz still. Sie hatte die Grenze überschritten. Die Tabuzone betreten. Wie hatte ihr das passieren können? Jetzt hatte sie endgültig bewiesen, dass sie zu jung war.
Der Energieball blieb noch eine Weile über ihr hängen, bis er sich langsam zusammenzog und sich in den Körper der Katze verformte. Ein letzter, böser Blick, dann ging das Tier Richtung Bäume davon.
Mila musterte Rasmus besorgt. »Will sie Lara zur Weltenhüterin machen?«
Der riesige Mann beugte sich zu ihr herunter. »Niemand außer dir kann Weltenhüter sein. Du hast diese Entscheidung getroffen. Es ist lange her, und du erinnerst dich im Moment noch nicht. Aber du allein bist es.«
»Lara konnte dich sehen. Wieso?«
»Ihre Reise auf die andere Seite hat sie verändert. Sie weiß es noch nicht. Aber die Erfahrungen sind nicht ohne Konsequenzen geblieben. Sie wird nie wieder die sein, die sie einmal war. Sie kann jetzt … sehen
»Mit wem redest du?«, hörte Mila eine Stimme hinter sich.
Rasmus ging mit großen Schritten in den Wald davon. Mila drehte sich um. Das alte Ehepaar stand vor ihr.
Sie versuchte ein Lächeln. »Ich glaube, ich habe einen Wandelnden gesehen.«
»Sicher?« Besorgt sahen die beiden sich um .
Mila staunte immer wieder, wie das Spiel funktionierte. Die Energie hatte den ganzen See zum Leuchten gebracht. Wie konnte man so blind sein?
»Was machst du überhaupt so alleine hier? Wo sind deine Eltern?«
»Ich habe mich verlaufen. Können Sie meine Mutter anrufen? Ich wohne in Sasbachwalden.«
Karin würde außer sich sein. Aber da musste sie jetzt durch. Mila trottete neben dem besorgten Ehepaar zum Parkplatz und nahm sich fest vor, niemals wieder so unbeherrscht zu sein. Sie würde Styx beweisen, dass sie ihrer Aufgabe als Weltenhüter gerecht werden konnte. Sie würde einen Weg finden, den Seelen zu helfen.
Und sie würde darauf vertrauen, dass ihre Cousine einen Weg fand, die Flasche zum Auge zurückzubringen.