Kleine Kinder
Mila saß in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Wagens. Sie gaben eine interessante Fahrgemeinschaft ab. Neben Karin am Steuer hielt sich Begüm verkrampft am Griff der Beifahrertür fest. Offensichtlich vertraute sie weder Karins rasantem Fahrstil noch der Serpentinenstraße, die das Tal hinunterführte. Neben Mila auf der Rückbank saß Maike Brandt. Oder das, was von ihr übrig war.
Milas Mutter hatte sie auf der Suche nach ihr im Wald aufgelesen und sie nach dem Anruf des alten Ehepaares kurzerhand mitgenommen. Ihre Mutter hatte die Angewohnheit, jeden bei sich aufzunehmen, der in irgendeiner Form Hilfe brauchte. Das war nur einer der Gründe, warum Mila sie sich als Mutter ausgesucht hatte. Behauptete jedenfalls Styx. Maike hatte sich im Wald versteckt. Aus Angst vor der Polizei, die augenblicklich dabei war, alle Wandelnden einzufangen. Karin hatte ihr von dem Hangar am Flughafen erzählt und versprochen, sie zu beschützen. Sie wollte zu Jo, den sie noch im Pflegeheim bei Lichtlein vermutete. Deshalb waren sie jetzt nach Sasbachwalden unterwegs.
Zu Milas spontaner Wanderung zum Mummelsee hatte Karin noch kein Wort verloren. Das machte Mila nervös. Ihr war es lieber, ihre Mutter ließ einmal gründlich Dampf ab. Dann hatte sie Milas Missetaten nämlich schnell wieder vergessen. Wenn sie jedoch schwieg und ihre Tochter nicht einmal eines Blickes würdigte, steckte Mila in
Schwierigkeiten.
Das war doch lächerlich! Da war sie angehende Weltenhüterin eines ganzen Planeten und hatte Angst vor der Wut ihrer Mutter.
Dabei wusste sie, dass Karin sich einfach nur Sorgen machte. Zu gern hätte Mila ihr erzählt, dass sie die Letzte war, um die sie sich Sorgen machen musste. Dass sie bereits sehr gut allein klar kam und mehr wusste, als Karin jemals begreifen würde. Aber sie musste schweigen. Und die Ratlosigkeit ihrer Mutter ertragen, die sich noch steigern würde, wenn Lara am Abend nicht nach Hause kommen würde.
Es war fraglich, ob sie jemals wieder zurückkommen würde, wie ein Blick durch Zwitscher ihr verriet. Die Vier waren immer noch eingesperrt. Vielleicht würden sie es auch bleiben. Niemand konnte sie
dazu zwingen, sie gehen zu lassen. Nicht einmal Styx.
Mila spürte Maikes Blick auf ihrer Hand ruhen. Selbst wenn sie keine Augen mehr hatte. Mila ballte schnell eine Faust und sah die junge Frau an. Verkohlt, die Knochen mehrmals gebrochen … Es war ein Wunder, dass ihr Körper sich noch zusammenhielt. Ihr ruhiger Blick deutete darauf hin, dass es nicht mehr lange dauern würde; sie hatte keine Schmerzen mehr. Bald würde das Vergessen einsetzen, und dann würde der Rest ihres Körpers einfach von ihr abfallen.
»Du weißt, was hier los ist«, stellte Maike leise fest.
Mila sah angespannt zu ihrer Mutter. Karin hatte nichts gehört.
»Keine Sorge. Ich halte die Klappe.«
Maike sah wieder aus dem Fenster, als Karin plötzlich eine Vollbremsung hinlegte
.
»Mist! Was ist denn hier los?«
Der Wagen blieb mitten auf der Straße stehen. Mila sah nach vorn. Eine Ansammlung von Feuerwehrwagen blockierte den Weg.
»Ist das das Altersheim?«, rief Begüm entsetzt.
Es stand in Flammen.
Karin stieg aus, drehte sich aber noch kurz zu Mila und Maike um. »Ihr bleibt im Wagen!« Dann eilte sie zu den Feuerwehrleuten und redete hektisch mit ihnen. Wie immer würde sie helfen wollen. Begüm folgte ihr.
Mila stieg ebenfalls aus dem Auto und starrte auf das brennende Gebäude. Die Feuerwehr ließ gerade eine Leiter an die Hauswand, und zwei Männer kletterten eilig hoch. Sie wollten retten, wer noch zu retten war.
Mila wusste schon jetzt, dass sie keine Überlebenden finden würden. Wie viele Seelen waren verbrannt? Und was sollte nun aus ihnen werden, da sie die Erschaffung nicht verlassen konnten? Getrennt von ihren Körpern und ohne Erinnerung an sich selbst waren sie außer Kontrolle.
In diesem Augenblick sah Mila, wie einer der Feuerwehrleute von der Leiter heruntergestoßen wurde. Er landete unsanft auf dem Boden. An der Leiter wurde gerüttelt. Von einer für die anderen unsichtbaren Kraft.
Es ging bereits los. Mila war fasziniert. Eine schimmernde Kugel rollte die Leiter hinunter. Direkt auf sie zu. Außer ihr konnte sie niemand sehen. Die reine Energie. Leuchtend und wunderschön. Ein kleines Ebenbild von Styx. Das Göttliche, auf sein Ursprüngliches zurückgesetzt. Es war an dem
Punkt der Entwicklung, an dem es nur seine Kraft verspürte. Aber nichts von seiner Herrlichkeit, nichts von seiner Heiligkeit ahnte. Als wäre das Universum wieder in seinem ursprünglichen Zustand. Verspielt, voller Neugier und Tatendrang. Nichts und niemand würde diese Kraft kontrollieren können.
»Was ist das?«, hörte sie Maike neben sich.
Diese war ebenfalls ausgestiegen und starrte auf die schimmernden Kugeln.
»Du kannst sie sehen?«, fragte Mila verblüfft.
Ein Lächeln umspielte das verbrannte Gesicht. »Sie sind wunderschön.«
Ja, solange sie keinen Unsinn anstellten.
»Werde ich auch dazu?«, fragte sie nun leise.
»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Mila in der Hoffnung, wie eine unwissende Sechsjährige zu wirken.
»Sag schon«, drängt Maike, die sich offensichtlich nicht täuschen ließ.
Mila musterte sie. In Kürze würde sie nicht einmal mehr wissen, wer sie war. Was machte es da schon, wenn sie zugab, mehr Informationen zu haben als andere?
»Ja. Du wirst auch zu so was.«
Maike konzentrierte sich wieder auf die Kugeln, die nun ungelenk vor Milas Augen hin und her trudelten, mal in die eine Richtung sausten, dann wieder in die andere. Eine blieb schließlich vor einem Hund in der Luft schweben. Als sie den kleinen Dackel sanft anstupste, zuckte der Hund zurück. Der Energieball folgte ihm voller Neugier. Die Besitzerin
schimpfte mit dem Hund, da dieser ungestüm an der Leine zerrte und fliehen wollte. Er konnte die Kraft spüren, aber weder sehen noch riechen.
Mila musste sich zusammenreißen. Sie durfte nicht eingreifen. Sie musste beweisen, dass sie ihr Amt als Weltenhüterin übernehmen konnte. Dass sie reif und in der Lage dazu war, ihre Welt zu schützen.
Als der Hund jaulte, kam Mila eine Idee. Sie wusste, dass die Grenze zwischen Eingreifen und Helfen sehr dünn war. Sie musste nur herausfinden, wie dünn.
Karin stürmte voran ins Hotel. Mila, Begüm und Maike folgten ihr. Ihre Mutter hatte Jo nicht erreichen können und wusste nicht, ob er beim Ausbruch des Feuers noch im Pflegeheim gewesen war.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter blieb Mila ruhig. Sie wusste, dass es ihrem Vater gut ging. Aber sie konnte ihr schlecht berichten, dass auch Mathilda und Sofia nicht vom Feuer betroffen gewesen waren. Sie würde erklären müssen, woher sie diese Information hatte.
Karin eilte in das Computerzimmer und blieb atemlos stehen. »Marc?«
Mila trat hinter ihr ein. Sie hörte ein Lachen. Es kam aus dem Garten. Karin folgte dem Geräusch und blieb in der Tür erstaunt stehen. Mila folgt ihrem Blick. Da saßen sie zusammen. Gustav, Sofia, Mathilda und Friedhelm. Sie spielten Karten und sahen erstaunt auf, als die kleine Gruppe zu ihnen trat. Jo stand weiter entfernt im Garten und hielt auf der Suche nach dem Netz sein Handy in
die Höhe.
»Ihr seid hier! Gott sei Dank!«, rief Karin erleichtert und lief zu Jo, um ihn zu umarmen.
»Du hast Lichtlein hier aber nicht gesehen!«, erwiderte Mathilda sofort. »Wir haben ihn entführt! Vor der Regierung!«
»Wieso bist du so aufgeregt?«, fragte Sofia besorgt.
Karin erzählte von dem Feuer und ihrer Sorge um sie alle. Die Alten schwiegen betroffen. Sofia und Mathilda hielten sich an den Händen.
»Sie werden glauben, dass ihr alle verbrannt seid«, betonte Jo mit brüchiger Stimme. »Keiner wird euch hier suchen.«
Gustav räusperte sich. »Und hast du zufällig eine Ahnung, wo mein Enkel steckt?«
»Marc? Nein. Ich wollte auch zu ihm. Er hat heute Morgen Lara zu ihrer Psychologin gebracht.«
»Das hat er nicht«, mischte sich nun Maike vorsichtig ein.
Alle sahen sie fragend an.
»Er hat mich angefahren. Und dann … haben sie sich in Luft aufgelöst.«