Die Trennung
Der Auftritt der Frau hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Sie hatte von Weltenhütern gesprochen. Von einer Karte. Und davon, dass sie hier nichts zu suchen hatten.
»Ihr wisst, was der Riese als Konsequenz darauf gemacht hat.« Seit geraumer Zeit versuchte Marc, die kleine Gruppe zur Flucht zu überreden. Er war sich sicher, dass es ihr Todesurteil war, wenn sie weiter hier verharrten. »Die Frau zieht sich kurz zurück, quasselt mit ihrem Auge in der Hand und kommt zu dem Schluss, dass wir vernichtet werden müssen. Weil wir die Ordnung durcheinanderbringen. Und weil wir und die anderen nichts voneinander wissen dürfen. Was auch immer das heißt.«
»Wir können nicht raus«, betonte Lara. »Ich habe vorhin schon versucht, die Wurzeln auseinanderzureißen. Es geht nicht. Abgesehen davon tut es ihr
weh.«
»Och, es tut ihr weh. Die lassen uns hier verrecken, Goldi!«
Timo musterte Lara, ohne etwas zu sagen.
Sie kannte seine Antwort ohnehin. »Ohne die Flasche geht Timo nicht. Und ich gehe nicht ohne ihn.«
Entschlossen schaute sie ihn an. Er nickte und setzte sich wieder zu Isabel, um ihre Hand zu nehmen. Irritiert wartete Lara auf eine Antwort von ihm, aber die blieb aus. Er schien immer noch sauer zu sein, dass sie die Flasche benutzt hatte.
»Gut. Dann gehe ich eben alleine«, sagte Marc.
»War ja klar«, erwiderte Timo
.
Isabel sah Marc aufgebracht an. »Du gehst ohne mich?«
»Kannst ja mitkommen.«
»Du hast doch nicht mal einen Plan, wo wir hin sollen!«
Marc schwieg dazu, was Lara irritierte. Er hatte doch sonst auf alles eine Antwort parat.
»Wegen dir bin ich überhaupt hier gelandet! Wer wollte denn unbedingt dabei sein, wenn Lara mit dieser bescheuerten Flasche durch die Gegend fährt.«
»Ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen!«
»Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass du mich jetzt
nicht bittest, mitzukommen.«
Irgendwie wäre es Lara lieber gewesen, Isabel wäre in ihrer Schockstarre geblieben. Sie hatte ja recht, aber ihre Streitereien trugen wenig zu einer Lösung des Problems bei.
»Selbst wenn du es schaffst, hier rauszukommen«, mischte sie sich ein, »diese Welt oder sie
würde doch sowieso gleich wieder ein Gefängnis um dich herum wachsen lassen. Oder dich verschlucken.«
Diesem Argument hatte Marc nichts entgegenzusetzen.
»Wir müssen einfach noch mal mit der Frau reden. Wenn sie von einer Karte spricht, dann heißt das doch, dass es eine Möglichkeit gibt, von hier zu verschwinden. Oder nicht?« Sie schaute zu Timo, der mit den Schultern zuckte.
»Es würde uns wirklich mehr helfen, wenn ihr euch erinnert. Könnt ihr nicht noch mal rumknutschen?« Marc grinste über das ganze Gesicht.
Erneuter Blickwechsel, den Lara abbrach. Sie konnte es nicht erklären, aber Timo hatte sich
verändert. Er warf ihr vor, die Flasche benutzt zu haben. Er kümmerte sich mehr um Isabel als um sie. An Küssen war nicht zu denken. Schon gar nicht vor diesem Publikum. Jo hatte Timo einen Moralapostel genannt und so langsam verstand sie, warum. Auch wenn sie den Anblick seines nackten Körpers nicht vergessen konnte.
»Ich kapiere immer mehr, warum alle dich bescheuert finden«, stellte sie deshalb ausweichend in Marcs Richtung fest.
Der ließ sich davon wenig beeindrucken. »Oder wir bringen Timo noch mal fast um. Da hast du dich ja auch an was erinnert.«
»Halt einfach die Klappe«, forderte sie und starrte hinaus.
Susi lag hechelnd in der Sonne, die tatsächlich nicht unterging, wie Marc richtig erkannt hatte. Dennoch spürte Lara mehr und mehr, wie die Zeit verging. Sie hatte noch nie so dringend auf Toilette gemusst. Aber sie würde eher platzen, als sich jetzt um das Problem zu kümmern. Sie mussten hier raus.
»Vielleicht müssen wir singen.«
Sie horchte auf und sah zu Isabel, die ihren Blick ruhig erwiderte.
»Sie hat gesagt: Wir singen, und sie gibt. Warum soll das bei uns nicht funktionieren?«
»Weil wir keine Haut haben, die ihre Farbe ändert?«, konterte Marc.
Aber Lara gefiel die Idee. »Wir können es doch ausprobieren.« Sie setzte sich Isabel gegenüber. »Erinnerst du dich an den Gesang?«
Isabel schüttelte den Kopf. »Ich war … we
ggetreten.«
»Haben wir gar nicht gemerkt.« Marc klang zynisch.
Was hielt die beiden bloß zusammen? Marc schien Isabel regelrecht zu verachten. Wie wenig Selbstwert musste man haben, sich so was gefallen zu lassen? Ayse hatte immer die Theorie vertreten, dass schöne Frauen nicht unbedingt ein hohes Selbstwertgefühl hatten.
Ayse.
Bei dem Gedanken an sie krampfte sich Laras Magen zusammen. War es möglich, dass Ayse und Cem auch in einer dieser Welten herumirrten?
Sie musste die Frau unbedingt fragen. Falls die sich überhaupt noch einmal blicken ließ. Lara konzentrierte sich und versuchte, das Summen nachzuahmen. Es war eine wunderschöne Melodie gewesen, die Lara aber nicht eins zu eins wiedergeben konnte. Sie summte, wieder und wieder. Vergeblich. Der Boden reagierte nicht auf sie.
»Vielleicht summst du in der falschen Sprache.« Marc grinste.
»Ist das für dich alles ein schlechter Witz?«, gab Timo gereizt zurück.
»Du glaubst doch selbst nicht, dass es was bringt.«
Darauf sagte er nichts. Was Lara noch mehr aufregte. Er hätte ruhig auf ihrer Seite sein können. Anstatt immer nur Isabels Händchen zu halten. Sie schloss die Augen. Wenn sie nicht dieselbe Melodie würde summen können, dann summte sie eben ihre eigene.
Sie spürte, wie ihr Brustkorb vibrierte. Irgendwann hörte sie, dass jemand in ihre Melodie einfiel. Isabel begleitete sie mit ihrer wunderschönen, hellen Stimme. Und mit einem Mal spürte Lara das Vibrieren. Ganz
leicht nur. Aber unverkennbar. Sie öffnete die Augen und sah, dass etwas aus der Erde herauskam.
Es war die Flasche!
»Ich raff es nicht! Das ist ja abgefahren.« Marc war sofort zur Stelle, um nach der Flasche zu greifen, aber Timo kam ihm zuvor.
»Wow. Wir haben es echt geschafft.« Ungläubig sah Isabel Lara an, die ihren Blick mit einem Lächeln erwiderte.
»Deine Idee war super.«
Isabel schien sich über das Kompliment zu freuen, während Timo die Flasche in die Hosentasche stecken wollte.
»Du machst das Teil auf. Und zwar sofort!«
Susi bellte, als sie Marcs wütenden Tonfall hörte.
»Nein. Die Flasche bleibt zu.«
»Okay. Wir hängen hier alle mit drin. Also stimmen wir ab. Wer ist dafür, dass wir die Flasche benutzen, um von hier wegzukommen?«
Lara beobachtete nervös, wie Marcs Arm nach oben schoss. Timos natürlich nicht. Isabel sah unschlüssig vom einen zum anderen, hob dann aber zögernd die Hand. Timo sah sie angespannt an.
»Ich will einfach wieder nach Hause.«
»Wer sagt denn, dass uns die Flasche nach Hause bringt?«, konterte er. »Bisher hat sie uns nur von einem Ort zum nächsten gebracht.«
Isabel zögerte. Dann jedoch blieb ihre Hand oben. Nun sahen alle zu Lara. Na wunderbar. Sie hatte große Lust, die Flasche zu öffnen. Ganz egal, wo sie sie hinbrachte. Aber sie wusste, dass Timo ihr das nie
verzeihen würde. Und wenn er so davon überzeugt war, sie nicht öffnen zu dürfen, dann war da vielleicht auch etwas dran? Sie selbst hatte am Mummelsee ja dieselbe Intuition gehabt.
Ihre Hand blieb unten.
»Susi stimmt dafür«, behauptete Marc.
»Sehr witzig.«
»Ihr wollt also lieber verrecken, als euch zu befreien? Ich meine, selbst wenn du jetzt die Flasche nicht anrührst, wenn wir hier verhungern, kannst du sie dem Besitzer auch nicht zurückbringen.«
Timo schüttelte entschieden den Kopf.
Da sah Marc auf. »Sie kommt zurück!«
Alle schauten aus den Gitterfenstern. Tatsächlich kam die Frau zurück. Mit einigen kleineren Frauen im Schlepptau. Ihre Mienen waren ernst.
»Jetzt sind wir dran«, glaubte Marc.
»Das weißt du nicht«, flüsterte Lara.
»Ich lasse es nicht darauf ankommen. War nett, mit euch zu reisen.«
Er stürzte sich auf Timo und versuchte, ihm die Flasche gewaltsam zu entreißen.
»Nein!«
»Ich lasse mich nicht umbringen, nur weil ich angeblich irgendwas durcheinanderbringe. Wenn du einen auf Opfer machen willst, dann ohne mich.«
Seine Faust landete in Timos Gesicht und ließ diesen zurücktaumeln. Er fiel auf den Boden und blieb benommen liegen. Lara eilte zu ihm. Während Marc versuchte, den Korken zu lösen, schoss ihr plötzlich ein Satz durch den Kopf. Aber bedenkt! Nur einen Tropfen
des Schimmers. Der Rest des Schimmers samt der Flasche gehört euch nicht.
Es war die Stimme ihres Vaters, dessen war sich Lara absolut sicher. Wie war das möglich? Wann hatte sie ihren Vater gesehen?
»Nein!«, schrie sie und sprang auf Marc zu, als dieser den Korken löste.
Das Kribbeln setzte ein.
Sie fiel in weiches Gras.