Ein verschwundenes Auto und ein verschwundenes Kind
Karin kletterte den Abhang hinunter. »Und du bist sicher, dass es hier war?« Sie sah hinauf zu Maike, die mit ihrem schwarz verfärbten Haupt nickte. »Aber hier ist nichts. Nicht einmal ein umgeknickter Ast.«
Begüm stand oben am Straßenrand, hob den Rock etwas an und setzte vorsichtig einen Fuß auf den Waldboden. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen. Schließlich lag es auf der Hand, dass Marc samt Auto und Insassen dahin verschwunden war, wo auch Ayse und Cem sich befanden. Karin hatte jedoch nicht geglaubt, dass ein Auto sich einfach in Luft auflöste.
»Begüm, bleib oben. Das ist hier …«
Karin hörte nur noch einen lauten Schrei und sah, wie der lange Rock sich mehrmals überschlug. Begüm rollte den Hang hinunter. Karin wich nicht rechtzeitig aus, sodass sie von Begüm mitgerissen wurde und beide schließlich im Unterholz landeten.
Außer Atem lagen sie nebeneinander. Übersät mit kleinen Ästen und Tannennadeln sahen sie sich an und brachen in hysterisches Lachen aus. Karin lachte so sehr, dass ihr Bauch weh tat. Sie lachte alles aus sich heraus. Den Anblick des Feuers, den Anblick von Maike, Laras erneutes Verschwinden … Dabei hatte Karin sich geschworen, auf sie aufzupassen. Sie erinnerte sich genau, wie eifersüchtig sie gewesen war, als Maja schwanger geworden war. Peter und sie hatten es ein paar Mal probiert, und es hatte sofort geklappt, während sie immer noch gewartet hatten. Maja hatte Karin zu ihrer ersten Ultraschalluntersuchung mitgenommen. Als sie Laras Herzschlag gehört hatte, war jegliche Eifersucht wie weggeblasen gewesen. Sie hatte dieses Kind geliebt. Vom ersten Moment an. Die ersten drei Jahre war Lara nicht nur Majas und Peters Kind gewesen, sondern das von ihnen allen. Das hatte auch Maja immer wieder betont. Als hätte sie geahnt, dass sie nicht lange da sein würde, um Lara eine Mutter zu sein. Sie hatten gemeinsam gegessen, Lara hatte bei ihnen geschlafen, wenn die beiden mal wieder Zeit für sich brauchten, sie hatte sogar ihr erstes Wort in Karins Gegenwart gesprochen: Baum. Ein echtes Schwarzwaldmädel eben.
Dann hatte sich langsam alles verändert. Maja war unglücklich mit Peter gewesen. Karin hatte geahnt, dass sie ihn verlassen wollte. Sie hatte auch gewusst, dass Konrad in Maja verliebt war. Nur ein Sozialnerd wie Peter hatte das übersehen können. Der Unfall und Majas Tod hatten dann alles verändert. Sie hatte nicht nur ihre beste Freundin verloren, sondern auch ihre Tochter.
Als Lara sie wiedergefunden hatte, war Karin außer sich vor Freude gewesen. Auch wenn die Tatsache, dass Lara sie nicht erkannt hatte und sehr misstrauisch gewesen war, sie verletzt hatte. Aber Karin verstand sie auch und bemühte sich darum, wieder eine Verbindung zu dem Mädchen aufzubauen. Sie hatte geglaubt, damit erfolgreich zu sein. Nun war Lara schon wieder in Gefahr, und Karin hatte keine Ahnung, wie sie ihr helfen konnte.
»Hey. Es wird alles gut. «
Karin sah in Begüms gütiges Gesicht. Wann hatte sie angefangen zu weinen? Sie richtete sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Verlierst du eigentlich jemals den Mut?«
Die beiden standen auf. Begüm richtete sich das Kopftuch und strich den Rock glatt. »Also«, begann sie, »wie zum Henker kann sich ein Auto einfach in Luft auflösen? Ist ihnen das Gleiche passiert wie meiner Ayse? Ich verstehe das alles nicht!«
»Ich auch nicht«, gestand Karin. »Aber ich kenne jemanden, der die Antwort darauf weiß. Und dieser Jemand wird uns helfen, unsere Mädchen wiederzufinden.«
Energisch stapfte sie den steilen Hang hoch zur Straße. Es war an der Zeit, mit Mila Tacheles zu reden. Sie war ihre Tochter und erst sechs Jahre alt. Trotzdem ahnte Karin tief in ihrem Herzen, dass die Dorfgemeinschaft recht hatte. Ihre Tochter wusste etwas.
Als sie die Straße erreicht hatte, starrte sie auf das Auto. »Wo ist Mila?«
Maike drehte sich zum Wagen um. Die Türen standen offen. Niemand saß drin. »Gerade war sie noch da.«