Marcs Romantik
Sie liefen seit Stunden. Durch dichtes Gras, das sich nur widerspenstig zur Seite drücken ließ. Über Blumenfelder mit Blüten, die so farbenfroh und wunderschön waren, dass Lara kaum den Blick davon lassen konnte. Sie kam aus dem Staunen über diese wild verwachsene Welt nicht mehr heraus und hatte längst aufgehört, sich zu fragen, wo sie waren. Eines fiel ihr jedoch auf: Außer ihrem eigenen Atmen hörte sie nicht das geringste Geräusch. Es herrschte Windstille, sodass sich die Gräser und Blüten nicht bewegten.
Sie vermisste das gewohnte Rascheln von Tieren im Unterholz, das sie mittlerweile aus dem Wald um Jos und Karins Haus herum kannte. Kein Bienensummen, kein Piepsen von Vögeln. In der ganzen Umgebung schien es keine Tiere zu geben. Es war, als existierte hier nichts außer Pflanzen. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete.
Ein paar Mal drehte sie sich um, in der Erwartung, dass dicht hinter ihr jemand stehen würde. Es war nie jemand zu sehen. Vielleicht war es die Stille, die Lara langsam, aber sicher paranoid werden ließ. Der Berg, auf dem auf der Karte das X markiert war, war immer noch weit entfernt. Sie hätte längst vor Erschöpfung umfallen müssen, schließlich hatte sie seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Vom Schlafen ganz zu schweigen. Aber aus irgendeinem Grund fühlten sich ihre Beine leicht und voller Energie an. Vielleicht war es die Sorge, die sie antrieb
.
Einige Male zog Marc das Handy aus der Tasche, hielt es in die Höhe, um es dann fluchend wieder einzustecken. Auch Lara hatte immer noch keinen Empfang. Wenn sie ehrlich war, kam es ihr sogar logisch vor. Diese Welt um sie herum war so fremd. Es hätte sie fast schon gewundert, wenn sie hier so etwas Normales wie Handyempfang gehabt hätte. Irgendetwas an dieser Reise fühlte sich vertraut an. Als wäre sie schon einmal von einer Welt in die andere katapultiert worden.
Nach einer Weile verließen sie die Blumenwiese und steuerten eine etwas felsige Ebene an. Ein kleines Rinnsal Wasser plätscherte an ihnen vorbei. Das erste Geräusch seit Langem.
Marc ging in die Knie und probierte vorsichtig. Dann drehte er sich zu ihr um. »Süßwasser.«
Gierig trank Lara. Kalt und frisch war das Wasser. Augenblicklich fühlte sie sich gestärkt und hellwach.
Marc ließ sich neben ihr ins Gras fallen und starrte zum Himmel. »Die Blumen. Ist dir aufgefallen, dass sie nicht riechen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur auf die Stille geachtet.«
Er nickte. »Keine Tiere. Deshalb duften die Blumen auch nicht. Ich frage mich nur, für wen sie dann dieses Farbenspektakel veranstalten.«
Nun, da sie saß, merkte Lara doch, wie müde sie war. Außerdem ging die Sonne langsam unter. »Hey, wie war das noch? Mit den zwei Sonnen?«
»Hier gibt es nur eine.« Er betrachtete nachdenklich den Himmel. »Einen Weltenhüter
haben wir auch noch nicht zu sehen bekommen. Wenigstens keinen, der uns umbringen will.«
»Du bist so paranoid. Vielleicht wollte die Frau uns gar nicht umbringen.«
»Dein Vertrauen ist echt süß, Goldi.«
Sie stellte fest, dass ihr der Spitzname nichts mehr ausmachte. Vielleicht weil es inzwischen wichtigere Dinge gab, über die sie sich Gedanken machen musste.
Sie legte sich ausgelaugt neben Marc auf den Boden. »Hast du nicht auch das Gefühl, beobachtet zu werden?« Es war in diesem Moment wieder sehr stark, sodass sie sich umsah.
Er schüttelte den Kopf. »Jetzt bist du paranoid.« Er zog die Jacke aus und legte sie Lara über die Schultern. »Du zitterst.«
Erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt es plötzlich war. Die Sonne ging sehr schnell unter, und mit ihr wich jegliche Wärme. »Hier wird es ganz schön kühl.«
»Und wir wissen nicht, wie lange die Nacht dauert.«
Fragend sah sie ihn an.
»Erkläre ich dir später. Ich brauche noch mehr Anhaltspunkte.«
Sie musterte ihn. Konzentriert war sein Blick in den Himmel gerichtet. Seine Locken fielen ihm ins Gesicht, die blauen Augen leuchteten in der Abendsonne.
»Warum verhältst du dich eigentlich immer wie der letzte Idiot? Obwohl du echt in Ordnung sein kannst.«
»Was hat man davon, nett zu sein?«
»Freunde?«
»Brauche ich nicht.«
»Ach, komm schon! Jeder braucht Freunde.
«
»Du vielleicht, Goldi. Du würdest sogar für deine Freunde sterben.«
Sie schwieg einen Moment, verblüfft über die Direktheit seiner Aussage. »Wenn man für seine Freunde nicht sterben würde, wofür denn dann?«
»Niemand sollte sterben.« Mit einem Mal klang seine Stimme belegt. Er räusperte sich.
»Ich hatte mir auch gewünscht, dass mein Vater einer der Wandelnden ist«, gestand Lara. »Aber mittlerweile frage ich mich, ob das wirklich ein Segen ist.«
Beide schwiegen eine Weile, ehe Marc unvermittelt weitersprach. »Ich hatte noch nie echte Freunde. Und ich habe es nie vermisst.«
»Wenn du wirklich so gern alleine bist, wie du behauptest, warum bist du dann mit Isabel zusammen? Die du offensichtlich hasst?«
Er musterte sie überrascht. »Ich hasse sie nicht.«
»Sie war die ganze Zeit total schräg drauf. Es hat dich null interessiert. Als es darum ging, dass wir mit der Flasche weitergehen, hättest du sie zurückgelassen. Was für eine Art von Beziehung führt ihr eigentlich?«
»Was für eine Art von Beziehung führst du denn mit Timo?«
»Und da! Diese Art, meine Fragen immer mit einer Gegenfrage zu beantworten. Was soll das? Kannst du nicht einfach mal wie ein normaler Mensch antworten?«
Er atmete tief durch. »Ich kenne Isabel seit Jahren. Seit wir Kinder waren. Timo und sie kamen ständig mit ihren Eltern ins Hotel. Zum Essen. Eine Vorzeigefamilie.
«
»Familie?« Vor Staunen sah sie ihn mit großen Augen an.
Er blinzelte amüsiert. »Warst ganz schön eifersüchtig, oder?«
Sie bemühte sich, möglichst unbedarft zu klingen. »Quatsch.«
Er grinste noch mehr. »Isabels Familie hat in der Wohnung über dem Restaurant von Timos Eltern gelebt. Als ihre Eltern damals bei einem Unfall ums Leben kamen, haben Timos Eltern Isabel als Pflegekind aufgenommen. Sie hat über ein Jahr lang kein Wort gesagt. Timo hat sie überallhin mitgeschleppt. Er war davon überzeugt, dass er sie wieder zum Reden kriegt. Und nach einem Jahr hatte sie sich von ihrem Schock erholt.«
Diese Neuigkeit musste Lara erst einmal verdauen. Dann war das Mädchen also so etwas wie eine Schwester für Timo? Allerdings nicht blutsverwandt.
»Zwischen den beiden ist nie was gelaufen. Wird es auch nie. Die könntest du aufeinanderbinden.«
»Und warum hat er sie dann nie erwähnt?«, platzte es aus ihr heraus.
Er grinste wieder. Und wenn schon. Er schien ihre Eifersucht sowieso zu durchschauen.
»Sie ist früh ausgezogen. Erst in ein betreutes Wohnen. Dann war sie ständig bei mir im Hotel. Timo fand das nicht gerade prickelnd.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist. Aber er kann mich nicht besonders gut leiden.«
»Und dafür hat er bestimmt einen guten Grund.
«
Marc musterte Lara. »Meine Eltern sind gestorben, als ich vier Jahre alt war.«
Sie war im selben Alter gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Seltsamer Zufall.
»Ich kam zu meinem Opa. Das war alles okay. Ich habe mich schon bald nicht mehr an meine Eltern erinnert. Aber ich habe früh gelernt, dass es besser ist, so wenig wie möglich Bindungen zu haben. Dann kannst du auch niemanden verlieren.«
Sie kannte das Gefühl. Auch wenn es ihr nie gelingen würde, so gleichgültig zu sein, hatte sie es sich doch so manches Mal gewünscht.
»Mit Isabel war es immer entspannt. Sie war da, und wenn sie nicht da war, war es auch okay. Dann war sie plötzlich schwanger.«
Schwanger? »Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Sie war gerade achtzehn geworden. Erst dachte ich, es war ein Unfall. Aber dann hat sie mir gestanden, dass sie die Pille abgesetzt hat. Sie wollte ein Kind von mir. Wollte mich enger an sich binden. Ich hatte keine Ahnung.« Marcs Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich war stinksauer. Wir hatten einen Riesenstreit. Ich habe ihr gesagt, dass ich gerne zahle, aber mit dem Kind nichts zu tun haben will. Dann hat sie plötzlich Krämpfe bekommen. Und geblutet. Überall war Blut.«
»Sie hat das Kind verloren?«, fragte Lara leise.
»Timo hat mir die Schuld gegeben. Er meinte, ich hätte sie zu sehr aufgeregt. Ich habe ihm gesagt, dass er sich verpissen soll.«
»Wie ging es weiter?
«
»Es tat mir leid. Echt. Ich bin mit Isabel ins Krankenhaus. Irgendeine Komplikation in ihrem Uterus. Es wird für sie immer total schwer sein, ein Kind zu bekommen.«
»Hast du das Timo gesagt?«
»Timo? Nein. Der hat seine Meinung. Und die interessiert mich nicht.«
Nachdenklich sah sie zum roten Abendhimmel auf.
»Als sie mir erzählt hat, dass sie schwanger ist, gab es sogar einen Teil in mir, der sich gefreut hat. Aber ich wusste genau, dass ich mich eingesperrt fühlen würde. Vierundzwanzig Stunden für so einen Winzling da sein. Dem tausend Sachen passieren können. Das ist nichts für mich. Du willst nicht alleine sein, Goldi, ich brauche es.«
Der Horizont war nur noch leicht gerötet. Die ersten Sterne zeigten sich. Keine einzige Wolke war zu sehen.
»Ich will manchmal schon alleine sein«, gestand sie, »aber sobald ich es bin, kommt die Angst.« Sie dachte zurück an die Zeit in der Wohnung in Berlin, in der sie so oft allein gewesen war, wenn Peter mal wieder die Nacht durchgearbeitet hatte. Irgendwann war sie immer runter zu Ayse gegangen. »Ich werde nervös, fange an zu putzen und kann nicht mehr stillsitzen. Keine Ahnung.« Unbeholfen zupfte sie etwas Gras. Sie wusste nicht, warum sie Marc das alles anvertraute. Aus irgendeinem Grund wollte sie, dass er es wusste.
Er hörte schweigend zu.
»Ich habe keine große Familie. Von Jo und Karin weiß ich erst seit ein paar Wochen. Eigentlich
war Ayse meine Familie. Sie ist mehr als eine Freundin, ich kann das kaum erklären. Sie ist … das Beste an mir.«
Er sah sie lange an. »Kann nicht sein. Ich bin jetzt eine Weile mit dir zusammen, und deine Ayse ist nicht da. Aber das Beste an dir kann ich auch so erkennen.«
Sie spürte, wie sie rot wurde.
»Du bist wie die Venus.«
»Wie die Venus?«
»Sie ist wunderschön. Der schönste Stern, wenn du mich fragst. Sie wirkt einladend. Als wäre sie ein perfekter Ort zum Leben.«
»Aber?«
»Unter ihrer Oberfläche brodelt es. Stürme, Hitze, Unwetter. Man kann dort nicht existieren.«
Sie setzte sich empört auf. »Und deshalb bin ich wie die Venus?«
Er nickte. »Unerreichbar. Weil man diese Hülle einfach nicht durchbrechen kann. Du bist wie ich.«
Sie stand auf. »Ich bin nicht wie du!«
Er erhob sich ebenfalls. »Du willst nicht allein sein. Aber du willst auch nicht mit jemandem zusammen sein.«
Sie zögerte.
»Oder weiß Timo, dass du auf ihn stehst?«
Sie wich seinem Blick aus.
»Er hat keine Ahnung. Weil du dann Farbe bekennen müsstest. Aber in Wirklichkeit hast du dich in deinem Alleinsein perfekt eingerichtet.«
»Blödsinn!«
»Wie viele Beziehungen hattest du schon?«
Sie
schwieg.
»Dachte ich mir.« Er setzte sich wieder.
»Nur weil ich noch nie eine Beziehung hatte, bin ich die Venus?«
Sie setzte sich ebenfalls wieder hin. So wütend war sie schon lange nicht mehr gewesen. »Ich bin nicht mit Timo zusammen, weil ich keine Ahnung habe, wann ich mich verliebt habe. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Hast du eine Ahnung, wie bescheuert das ist?«
»Ihr müsstet euch nur weiter küssen.«
Nervös zupfte sie erneut ein paar Gräser. Ein leichter Wind kam auf. Es war kalt. Viel zu kalt. »Ich habe Schiss. Zufrieden? Mein Leben ist ein Chaos. Ayse und Cem sind weg. Mein Vater ist gestorben. Ich irre durch Welten, von deren Existenz ich keine Ahnung habe. Unsichtbare Männer geben mir Karten, die sich selbst zeichnen, und meine Cousine redet mit einem Auge in ihrer Hand. Abgesehen davon stirbt keiner mehr, und ich habe das Gefühl, dass das meine Schuld ist. Das ist doch echt nicht der richtige Zeitpunkt, um …«
»Du denkst also auch, dass es mit eurer Abwesenheit zu tun hat?«
»Ja.«
Der Wind wurde stärker. Lara fröstelte und zupfte weiter Gras.
»Weißt du, was für mich die perfekte Beziehung ist?«, fragte er unvermittelt.
»Es gibt so etwas wie eine perfekte Beziehung für dich?«
Er lächelte. »Man sagt, dass es lange, bevor es auf der Erde Leben gab, einen Zusammenstoß gegeben hat. Zwischen dem Prototyp der Erde und einem Steinbrocken.
So groß wie der Mars. Theia. Theia gab der Erde einen Schub und brachte sie so zum Rotieren. Seine Brocken blieben in ihrer Umlaufbahn und formten sich zu unserem Mond. Der Mond hat die Erde also zum Drehen gebracht. Nur deshalb gibt es Tag und Nacht. Nur deshalb ist unser ganzer Planet bewohnbar.«
Sie sah ihn skeptisch an, während er begeistert weiterredete. »Und wusstest du, dass die Erde von herumfliegenden Steinklumpen und Meteoriten nur so zerstückelt würde? Der Jupiter verhindert es. Er ist ein Gasriese, so groß, dass er mit seiner Anziehungskraft sämtliche Brocken einmal um sich herumschleudert und wieder raus ins All katapultiert.« Er grinste. »Diese Form des Zusammenlebens, der Abhängigkeit, des gegenseitigen Schutzes, das finde ich romantisch.«
Sie schwiegen und starrten in den Nachthimmel. Marcs Vorstellung von einer Beziehung war zwar speziell, aber Lara gefiel sie.
»Die Venus, kann man sie jetzt sehen?«, fragte sie schließlich.
»Man sieht sie im Moment nur am frühen Morgen. Aber«, er blickte ebenfalls nach oben, »ja. Ich hatte recht.«
»Womit?«
»Siehst du die Sterne?« Er wies nach oben.
»Natürlich sehe ich sie.« Wie hätte man sie übersehen können? Unzählige waren mittlerweile zu erkennen. Sie leuchteten so hell, wie Lara es noch nie gesehen hatte. In Berlin bekam man sowieso kaum Sterne zu Gesicht. Zu hell leuchtete die ganze Stadt in der Nacht. Seit sie im Schwarzwald war, hatte sie nachts ein
paar Mal den Himmel betrachtet und gestaunt, wie viel mehr man dort erkennen konnte. Dieser Anblick hier toppte das Ganze noch. Etliche Sterne leuchteten heller als die anderen. Aber selbst im Hintergrund war es nun bereits so hell, wie sie es nur vom Anblick der Milchstraße her kannte. »Es sind nicht unsere Sternbilder.«
Überrascht sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«
»Siehst du den hellen Stern da oben?« Er zog sie etwas dichter zu sich heran. »Die fünf etwas schwächeren Sterne darüber sehen aus wie eine Schultüte.«
»Ja. Sehe ich.«
»Das könnte Herkules sein. Aber dann müsste direkt daneben die Krone zu sehen sein. Und auf der anderen Seite die Leier. Mit Wega, einem der hellsten Sterne an unserem Himmel.«
Die Art, wie er unser Himmel
aussprach, gefiel Lara überhaupt nicht.
»Oder dort.« Er deutete in eine andere Richtung.
Lara erkannte nur einen unübersichtlichen Haufen von leuchtenden Sternen.
»Vier Sterne bilden ein Viereck. Und drei einen Bogen. Der große Wagen im Sternbild Bär. Aber darüber müsste der kleine Bär sein, der uns direkt den Weg zum Polarstern weist. Wo ist der kleine Bär?«
Er sah sie an, als müsste sie die Antwort darauf wissen. »Ich weiß nicht, wo der kleine Bär ist.«
»Ich habe an den Tafelberg gedacht. Oder den fliegenden Fisch.«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Das sind Sternbilder auf der Südhalbkugel. Aber sie passen auch nicht zu hundert
Prozent.«
»Und was bedeutet das?«
»Bei den Frauen gab es zwei Sonnen. Hast du auf unserer Erde schon mal zwei Sonnen gesehen?«
Sie schwieg.
»Hast du bemerkt, wie leicht es ist, hier zu laufen? Die Beine werden kaum schwer. Jetzt ist es saukalt. Die Temperatur fällt nachts wie bei uns nur in der Wüste.«
»Was meinst du damit?«
»Wir sind nicht mehr auf der Erde, Goldi. Wir reisen von einem Planeten zum nächsten.«
Sie wusste nicht, was gerade mehr funkelte. Die Sterne oder seine Augen. »Du spinnst.«
»Dann erklär mir doch mal deine Theorie«, forderte er. »Wo sind wir? Und wo waren wir?«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Keine Ahnung«, gab sie zu. »Aber von einem Planeten zum anderen? Das ist unmöglich.«
»Frauen, die mit ihrem Gesang den Boden dazu bringen, Menschen zu retten. Fliegende Flunderviecher, die aus der Erde entstehen. Eine Welt ohne Tiere, nur mit Pflanzen. Eine Flüssigkeit, die uns von einer Gegend in die nächste beamt. Mit unmöglich
habe ich längst abgeschlossen.«
Lara starrte in den Sternenhimmel. Verzweifelt versuchte sie, irgendetwas zu entdecken, das ihr bekannt vorkam. Womit sie Marc seine bizarre Idee wieder ausreden konnte.
»Dein Vater hat das mit dem Beamen hingekriegt, Goldi. Und ich wette, er hat von diesen Welten gewusst.
«
»Es gibt doch keine anderen Planeten wie die Erde«, entgegnete sie hilflos. »Außerdem hat sich mein Vater null für die Sterne interessiert.«
»Sagt dir das Kepler-Weltraumteleskop etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es wurde 2009 als Raumsonde losgeschickt. Und misst die Helligkeit von Sternen.« Er erhob sich und riss etwas Gras aus, um eine Sandfläche zu erhalten. Anschließend riss er einen der größeren Halme ab und benutzte das dickere Ende, um Kreise in den Sand zu zeichnen.
Lara zog die Jacke enger um sich, als der Wind wieder stärker wurde.
»Hier. Die Sonne. Und die Erde. Siehst du? Wenn man die Sonne von dieser Seite aus betrachtet, wenn man quasi hinter der Erde steht, dann hinterlässt die Erde einen Schatten auf der Sonne.«
»Und genau so einen Schatten suchen sie?«
»Exakt.« Er lächelte sie an. »Sie können berechnen, wie groß der Schatten sein muss. Um einen erdähnlichen Planeten zu vermuten. Das nennt man die habitable Zone. Oder auch«, er musterte sie, »die Goldlöckchenzone.«
»Goldlöckchenzone? Was soll das sein?«
»Kennst du nicht das Märchen vom Goldlöckchen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ein Mädchen haut ab. Findet im Wald eine Hütte, in der drei Schüsseln mit Brei stehen. Der erste Brei ist ihr zu heiß, der zweite zu kalt, der dritte ist genau richtig. Auf diese Weise findet sie noch den perfekten Stuhl und das perfekte Bett. Eine perfekte Welt mit idealen
Bedingungen zum Leben. Das suchen sie. Die Sonne und der Planet müssten eine ähnliche Größe wie unsere haben. Sie müssten die ähnliche Entfernung voneinander aufweisen. Damit es auf dem Planeten nicht zu heiß oder zu kalt ist. Das nennt man eine Goldlöckchenzone. Oder auch goldilocks.« Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen.
Daher kam also ihr Spitzname?
»Ich dachte, ich bin die Venus. Der tödliche Planet. Und nicht die ideale Lebenszone.«
»Kannst du nicht beides sein?« Sein Blick ruhte viel zu lange auf ihr.
Lara zog die Strähne aus seiner Hand. »Und wie viele von diesen goldilocks haben sie gefunden?«
»Nach nur 15 Monaten bereits 700.«
Sie schwieg verblüfft.
»Du darfst dir diese Planeten nicht genau wie unsere Erde vorstellen. Sterne kommen häufig als Doppelsysteme vor. Manche können also zwei Sonnen haben. Manche nur eine. Auf manchen ist auf der einen Seite Leben möglich, auf der anderen vielleicht nicht, weil sich ihre Seite nie zur Sonne dreht. Wir wissen noch so wenig. Die letzte Sensation ist der Exoplanet Wolf 1061 c.« Er sprach den Namen fast zärtlich aus. »Er ist 14 Lichtjahre von der Sonne entfernt. Im Sternbild Schlangenträger. Wolf 1061 ist ein roter Zwerg, eine kleine Sonne. Drei Planeten umkreisen ihn, und der mittlere von ihnen, Wolf 1061 c, liegt in der habitablen Zone. Die anderen beiden Wölfe wären entweder zu nah an der Sonne, also zu heiß, oder zu weit weg, folglich zu kalt, als dass auf ihnen Leben
existieren könnte. Sie haben natürlich auch schon andere erdähnliche Planeten entdeckt. Aber der Wolf ist am nächsten zu uns. Weshalb sie hoffen, sich in den nächsten Jahren die Atmosphäre genauer ansehen zu können.« Er lachte wie ein kleines Kind. »Andere Welten, Goldi! Davon habe ich immer geträumt.«
»Du findest das toll?«
»Du etwa nicht?«
Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. »Nur mal angenommen, es stimmt. Und ich sage nicht, dass ich dir glaube. Wie sind wir hergekommen? Und wie zur Hölle sollen wir wieder zurück?«
»Keine Ahnung.« Er setzte sich wieder neben sie, während Lara in den Himmel sah.
»Wenn du dich mit den Sternen so gut auskennst, kannst du dann nicht erkennen, wo
wir uns befinden?«
Er folgte ihrem Blick. »Das ist nicht so einfach. Die Sterne, die wir sehen, sind ja nicht alle auf einer Ebene. Es kann sein, dass uns einer näher vorkommt, weil er heller leuchtet. In Wirklichkeit ist er aber viel weiter weg als ein schwächerer oder kleinerer Stern. Stell dir vor, du sitzt in einem Restaurant. Du siehst die anderen Gäste an ihren Tischen. Wenn du dich an einen anderen Tisch setzt, siehst du alles von einer anderen Seite. Die Gäste sind in einer völlig anderen Konstellation. Die, die zuvor vorne waren, sind jetzt weiter hinten und so weiter. Mit den Sternen ist es genauso. Die Sternbilder, die wir sehen, sind von der Rückseite nicht einfach nur spiegelverkehrt. Sie sind nicht wiederzuerkennen.«
Lara fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. »Wir könnten also überall
sein.«
»Sieht so aus.«
»Wenn wir nicht mal mehr unsere Sterne über uns haben, dann sind wir … allein.«
Er musterte sie. »Weißt du, woher das Wort Alleinsein kommt?«
»Es ist mir völlig egal, woher es kommt. Ich will wieder nach Hause.«
»Es wird gebildet aus den Worten all
und ein
. Wir sind alle eins, Goldi. Wir alle bestehen aus demselben Material. Unser Körper, alle Elemente, das alles war einmal ein Stern. Du kennst doch den Song? Wir alle sind aus Sternenstaub? Es stimmt. Und aus diesem Grund kannst du gar nicht allein sein.«
Lara betrachtete Marc, bemüht darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine Worte sie berührten. »So viel Kitsch hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Das ist kein Kitsch. Es ist die Wahrheit.« Mit diesen Worten zog er sie zu sich und küsste sie erneut.
Diesmal fühlte sich der Kuss nicht wie eine Provokation an, sondern wie der Wunsch nach mehr. Für einen Moment ließ Lara es zu. Zu überwältigt war sie von seinen Worten.
Doch dann schob sie ihn verwirrt von sich. »Was soll das?« Sie stand auf, um Abstand zwischen sie zu bringen. »Du weißt, was ich für Timo empfinde.« Sie zitterte am ganzen Körper. Wegen der Kälte. Nur wegen der Kälte.
Er wich ihrem Blick aus und stand auf. »Ich mach uns mal ein Feuer.« Eilig ging er fort.
Sie sah gerade noch seine Konturen im dichten, hohen Gras verschwinden. »Marc!« Sie wollte
hinterher. Und dann wieder nicht. Würde er zurückkommen? Sie hörte Blätterrascheln und Äste knacken. Sammelte er wirklich nur Material für das Feuer? Wind kam auf. Sie zog die Jacke enger um sich. Nachdenklich starrte sie noch einmal in den Sternenhimmel. Dann zog sie die Flasche aus ihrer Tasche. Langsam kippte sie sie nach rechts und betrachtete die schimmernde Flüssigkeit darin. Sie funkelte leicht, als wäre auch sie aus dem gleichen Material wie die Sterne. War sie wirklich in der Lage, Lara durch das Universum zu beamen? Sie stellte die Flasche neben sich ins Gras, als Marc mit einer Ladung Halme zurückkam.
»Keine Ahnung, ob das brennt.« Er legte die Halme auf den Boden, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete einen Grashalm an. Der Wind nahm zu.
»Marc, sollten wir nicht darüber reden?«
»Es brennt nicht.« Er hielt die kleine Flamme an einen Grashalm. Doch ein Windstoß blies die Flamme sofort wieder aus. »So ein Mist!«, schrie er und riss wütend einen Halm auseinander. Dann sah er Lara an.
Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht.
»Es bedeutet nichts. Vergiss es einfach.«
In diesem Moment brach das Unwetter über sie herein. Starker Regen setzte ein. Innerhalb weniger Sekunden war Lara klitschnass. Der Wind blies so heftig, dass sie einfach zur Seite gestoßen wurde. Marc erging es genauso. Erschrocken sahen sie sich an, als ein Blitz genau neben ihnen einschlug.
Lara sprang auf und rannte ein Stück zur Seite. Der heftige Regen hatte das kleine Rinnsal bereits zu einem
stattlichen Fluss ansteigen lassen. Und dieser Fluss strömte nun zwischen ihnen.
»Spring rüber!« Marc hielt ihr die Hand hin.
Sie sah die Flasche neben ihm im Gras liegen und wollte gerade springen, als eine riesige Welle wie aus dem Nichts auf sie zukam und sie einfach verschluckte.