Maike und Lichtlein
Maike setzte sich zögernd zu Herrn Lichtlein an den Tisch. Er verzog sein bleiches Gesicht zu einer Grimasse.
»Was ist? Soll ich woanders hin? Erschreckt Sie mein Anblick?«
»Nein! Ich habe versucht zu lächeln.«
»Setz dich, Kindchen. Wir machen Tee.«
Mathilda und Sofia gingen ins Hotel, während Maike den alten Mann musterte. Er schien völlig entspannt zu sein und hatte sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zugewandt.
»Spüren Sie noch was?«, fragte sie. Sie fühlte schon lange nicht mehr, ob es warm oder kalt war.
»Nein. Aber ich fühle die Erinnerungen.«
Sie tat es ihm gleich und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie erinnerte sich, dass sie sich früher Bräunungscreme auf die Haut geschmiert hatte. Was für eine Zeitverschwendung! Ihre Schönheitstrips, die Kuren, das Peeling, der Sport. Warum war sie nicht öfter hier oben gewesen? Im Wald? Als Kind hatte sie das geliebt. Am Wiedenfelsen war sie mit ihren Eltern Schlittschuh gelaufen, an der Unterstmatt hatte sie Skifahren gelernt. Im Sommer waren sie am Ruhestein mit dem kleinen Sessellift hochgefahren, um dann zur Darmstädter Hütte zu wandern. Sie hatte Apfelschorle getrunken, und ihr Vater hatte Witze erzählt, bis ihr vor Lachen das Getränk aus der Nase gelaufen war. Wann war sie das letzte Mal so glücklich gewesen? Jedenfalls nicht mehr seit der Scheidung ihrer Eltern und dem Auszug ihres Vaters
.
»Du hast also versucht, dich umzubringen?«, fragte der alte Mann unvermittelt.
Erschrocken wandte sie sich ihm zu. Sie wusste, dass ihre Augenhöhlen für die anderen leer und schwarz aussahen. Aber für sie war es weiterhin so, als würde sie die Welt mit ihren Augen betrachten.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß, wie unerträglich dieser Zustand ist.«
»Ich wollte mich nicht umbringen! Ich will überhaupt nicht sterben!«
Er musterte sie nur.
Und Maike lenkte ein. »Ich wollte mich umbringen. Aber erst, nachdem ich schon tot war. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich dachte, wenn mich das Auto erwischt, dann ist das alles endlich vorbei. Ich wollte nicht, dass sie verschwinden.«
»Es ist nicht deine Schuld. Da bin ich mir sicher.«
Sie lächelte ihn dankbar an.
»Hast du deinen Freund mal besucht? Seit dem Unfall?«
»Jürgen? Nein. Er ist nicht mehr mein Freund.«
»Ich habe gehört, dass er am selben Tag noch an der Unfallstelle war.«
Sie horchte auf. »Tatsächlich?«
»Mathilda kann ihn herholen. Diese Frau schafft alles, wenn sie will.«
»Vor einer Woche habe ich ihn nicht durch die Tür gelassen, wenn meine Augenbrauen noch nicht gezupft waren«, konterte sie trocken.
Herr Lichtlein prustete. »Ich kann sie dir zupfen, wenn du willst. Sie sehen ziemlich verbrannt aus.
«
Sie lachte. Es tat gut, zu lachen.
»Die Zeit der gesellschaftlichen Normen ist vorbei. Jetzt geht es nur noch um das Wesentliche«, sagte er.
»Und was ist das Wesentliche?«
Er richtete sich auf. Sein rechtes Ohr hing gerade noch so an seinem Gesicht. »Hast du gewusst, dass sie mit dem Krieg aufgehört haben? Es kam gestern in den Nachrichten. Gustav hat uns für eine Viertelstunde gucken lassen. Dann hat er den Strom abgestellt. Er hasst Fernsehen. Aber sie schießen nicht mehr. Keine Bomben. Keine Selbstmordattentäter. Der Krieg ist eingestellt. Ist das nicht unglaublich?« Er lehnte sich wieder zurück. »Sie trinken Tee. In Syrien. Tee!«
»Also glauben Sie, dass es etwas Gutes ist? Dass wir nicht sterben können?«
»Ich fange meistens zu kochen an, wenn ich Hunger habe.«
Verdutzt lauschte sie dem Themenwechsel.
»Ich schneide die Zwiebeln, röste sie, werfe Gemüse dazu und mache eine Soße daraus. Währenddessen wird mein Hunger immer stärker. Ich koche Nudeln und teste sie schon nach vier Minuten, weil ich nicht mehr warten will. Obwohl ich weiß, dass sie noch nicht durch sind. Dann decke ich mir den Tisch, gieße die Nudeln ab und bereite mir alles schön auf einem Teller zu. Ich atme den Duft des Essens, das Wasser läuft mir im Mund zusammen, ich tunke die Gabel in die Soße und will endlich den ersten Bissen nehmen. Ganz egal, ob er noch zu heiß ist. Aber dann kommt jemand und nimmt mir den Teller weg.« Er atmete tief durch. »Genauso fühle
ich mich jetzt.«
Maike war erstaunt über den passenden Vergleich. »Ja. Genauso fühlt es sich an.«
Er nickte.
»Also wollen Sie sterben?«
»Ich habe jemanden, der auf mich wartet. Sie wartet schon lange. Ja. Ich will sterben.«
Plötzlich hatte Maike das Gefühl, dass ihr Tränen kamen. »Ich habe mich so dermaßen gelangweilt«, platzte es aus ihr heraus. »Mit Jürgen, mit meiner Ausbildung, mit meinen Freunden. Wir mussten uns ständig gegenseitig beweisen, wie toll wir sind. Ich hatte vergessen, was mich wirklich glücklich macht. Und jetzt bin ich ein Wrack!«
Herr Lichtlein musterte sie. »Aber langweilig ist dir nicht mehr. Oder?«
Sie starrte ihn verblüfft an. Er grinste zahnlos. Sie musste lachen.
Mathilda und Sofia kamen mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kanne und Tassen standen. Sie deckten den Tisch.
»Habt ihr das Auto eigentlich gefunden?«, fragte Sofia.
Maike schüttelte den Kopf.
»Und das verrückte Kind ist schon wieder verschwunden?«
»Sie ist nicht verrückt.«
»Aber verschwunden.«
»Die arme Karin. Ständig am Suchen«, stellte Sofia mitfühlend fest. Dann tätschelte sie Maikes Hand. »Du bleibst bei uns. Hier findet euch niemand.«
Maike liebte sie für die Tatsache, dass sie ihr eine Tasse Tee hinstellte. Obwohl sie wusste, dass sie ihn als
Wandelnde nicht trinken konnte. Für einen Moment fühlte sie sich wieder lebendig.
»Die Polizei stand also noch nicht auf der Matte?«, hakte Lichtlein nach.
»Nein. Es ist, wie Jo gesagt hat. Sie halten euch für verbrannt.«
»Und sie führen wirklich Versuche durch? Mit den Wandelnden? Ich kann mir das nicht vorstellen!« Maike pulte nervös an ihrer porösen Haut.
»Ich werde jedenfalls nicht vorbeifahren und es überprüfen«, konterte Lichtlein trocken. Er musterte seine Freundinnen. »Nicht mehr lange und wir werden unsichtbar. Und dann vergesse ich, dass ich euch kenne.«
»Keine Sorge«, erwiderte Mathilda trocken. »Ich erkenne dich. Auch wenn du eine ungestüme, unsichtbare Kraft bist. Wenn du mich anrempelst, kriegst du Ärger.«
Maike fragte sich, wer sie noch erkennen würde. Sie hatte die Chance auf solche Freunde verpasst. Wenn sie noch einmal die Gelegenheit auf ein Leben hätte, würde sie es anders machen. Ganz bestimmt.