Eine Idee
Mila stand vor dem Maschendrahtzaun des Geheges. Der Hirsch sah sie mit dunklen Augen an und kaute dabei auf einem Halm Stroh herum. Die Rehe standen etwas abseits, hinter den Bäumen versteckt.
Neben den Rehen waren die Ziegen untergebracht. Darunter einige Babyziegen. Das war gut für ihren Plan. Die Wildschweine, die man bis hierher riechen konnte, waren weniger interessant. Ihr war klar, dass die kleinsten Wesen die meiste Aufmerksamkeit erhalten würden.
In Gedanken entschuldigte sie sich bei den Tieren, denn mit der herrlichen Ruhe, die hier am Gnadenhof des Breitenbrunnens herrschte, würde es bald vorbei sein.
Der Hof war dieses Jahr eingeweiht worden. Vorher hatte es lediglich ein Gehege für Rehe und eines für die Wildschweine gegeben. Das leer stehende Hotel war von einem tierliebenden Millionär aufgekauft worden, der nun nach und nach ausrangierte Tiere herbringen ließ. Gegen eine freiwillige Spende konnte man den ganzen Tag hier verbringen, die Tiere füttern und –wenn sie es zuließen – streicheln. Die Idee war ihr gekommen, als sie die Seele mit dem Dackel beobachtet hatte. Als Karin das Auto an der Unfallstelle geparkt hatte, hatte Mila die Chance genutzt und war abgehauen. Es war nur eine Viertelstunde zu Fuß zum Gnadenhof gewesen. Karin würde ihr den Kopf abreißen. Aber sie musste jetzt handeln.
Mila sah durch Zwitscher und wählte in Gedanken den Mummelsee. Als einer der magischen
Orte
würden sich die Seelen aus dieser Gegend dort versammeln. Das Ursprüngliche, das Urgöttliche wurde immer von magischen Orten
angezogen.
Was Mila zu sehen bekam, bestätigte ihre Annahme: Der See war wie leer gefegt. Keine Touristen spazierten um ihn herum. Sogar die zahlreichen Läden waren geschlossen. Der Parkplatz war leer. Dafür sah sie auf der Wasseroberfläche kleine leuchtende Bälle herumwirbeln. Mittlerweile waren es schon einige Seelen mehr, körperlos, aus reinem Gefühl.
Als ein einzelner Mensch an das Ufer trat, hielt Mila die Luft an. Ihre Mutter! Mist!
Mila erkannte, wie ihre Mutter sich verwundert umsah. Wahrscheinlich vermisste sie die Touristen. Die Seelen konnte sie nicht sehen. Aber Mila erkannte, wie nun eine Energiekugel auf sie zugeflogen kam. Nichts ahnend wurde Karin zur Seite gestoßen und landete im Wasser. Die Kugel blieb in der Luft hängen und hüpfte auf und ab, als hätte sie eine irrsinnige Freude daran, dass Karin nun triefend ans Ufer schwamm. Sie rappelte sich hoch, klitschnass und unsicher um sich blickend.
Der kleine Energieball setzte zu einer weiteren Attacke an. Er flog auf Karin zu, doch die war im selben Moment Richtung Parkplatz gegangen, sodass die Seele sie verfehlte. Bis Karin an ihrem Auto war, würde die Seele keine Ruhe geben. Das war Mila klar. Sie hatte genug gesehen. Gerade wollte sie das Törchen zu den Ziegen öffnen, als etwas um ihre Beine strich
.
Styx.
»Bitte. Es ist eine gute Idee. Und ich greife auch nicht ein. Ich lenke sie lediglich ab, damit sie die anderen in Ruhe lassen.«
»Ich habe nie behauptet, dass die Idee schlecht ist.«
Mila horchte auf.
»Du hast dich also dazu entschieden, deine Aufgabe zu übernehmen«, stellte die Katze schnurrend fest.
»Ja. Das habe ich. Und es tut mir leid, dass ich dich angefasst habe.«
»Wie lange glaubst du, sie hier festhalten zu können?«, fragte Styx, ohne auf ihre Entschuldigung einzugehen.
Mila blickte zu den Tieren, die ihr jetzt schon leidtaten. »So lange, bis der Durchgang wieder frei ist.«
»Das kann noch eine Weile dauern. Lara und Timo sind getrennt worden.«
»Mist!«, entfuhr es Mila. »Und die Flasche?«
»In den falschen Händen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast ja recht. Ich habe die Kontrolle verloren«, gestand Styx ihr in diesem Moment ein. »In all der Ewigkeit hat es eine solche Geschichte noch nicht gegeben.«
»Du meinst, Timo, Lara und die anderen kommen vielleicht nie wieder zurück?«
Styx putzte sich die rechte Vorderpfote.
»Aber wenn der Durchgang für immer verstopft bleibt, was soll dann werden?«
Styx erhob sich und machte einen Buckel. »Nichts bleibt, wie es ist. Es ist nur unangenehm, wenn man nicht weiß, was kommt. Das muss man aushalten
können.« Damit verschwand sie zwischen den Bäumen.
Mila sah ihr einen Moment lang nach. Dann ging sie zu den Ziegen, nahm eine Babyziege auf den Arm und marschierte los. Richtung Mummelsee.