Ein neues Fortbewegungsmittel
Ihre Sachen waren mittlerweile in der Sonne getrocknet, aber ihr war immer noch verdammt kalt. Timo hatte ihr seine Jacke umgelegt und saß dicht neben ihr, um sie zu wärmen. Auf der anderen Seite lag Susi und schleckte ihr die Hand. Nur Isabel hielt gebührend Abstand. Apathisch starrte sie auf die Graslandschaft unter ihnen.
»Es ist ein Wunder, dass du noch lebst«, stellte Timo fest.
»Ich bin irgendwie mit dem Weltenhüter in Kontakt gekommen.«
»Gut. Marla hat uns klargemacht, dass das die einzige Möglichkeit ist, diesen Trip zu überleben.«
»Marla?«
»Die Frau mit dem Auge in der Hand.«
Lara erinnerte sich. »Sie ist zurückgekommen. Und Marc hat geglaubt, dass sie uns umbringen will.«
»Dieser Idiot.«
»Was ist denn passiert? Hat sie euch freigelassen? Ich hatte solche Angst.«
»Sie hat gesungen. Und der Käfig hat sich einfach zurückgezogen. Es war irre. Sie meinte, dass sie uns freigegeben hätte. Aber nur, wenn wir sofort weiterreisen. Dann hat sie uns erklärt, dass sie uns an einen magischen Ort bringt, damit wir von dort aus reisen können, ohne die Flasche zu benutzen. Sie war übrigens gar nicht begeistert davon, dass ihr abgehauen seid.«
»Ich wollte ihn aufhalten.«
»Ich weiß.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Dann sah Lara ihn zögernd an. »Hat Marla erklärt, wo wir sind?«
Timo musterte sie angespannt. »Also, ich weiß, das hört sich jetzt echt abgefahren an. Aber laut Marla ist die Erde nicht der einzige bewohnbare Planet im Sonnensystem. Es gibt sieben davon.«
Lara hatte das Gefühl, dass ihr Herz kurz aussetzte. »So was hat Marc auch gemeint. Also, nicht exakt diese Zahl. Aber er glaubt, dass wir auf anderen Planeten sind. Das ist doch aber unmöglich! Diese Planeten müssen doch viel zu weit weg voneinander sein.«
»Nicht, wenn man durch eine Flüssigkeit herumgebeamt wird.«
»Oder durch einen magischen Ort «, ergänzte Isabel. Ihr Tonfall klang hysterisch.
»Ihr seid also hergebeamt worden?«
»Wir beamen uns die ganze Zeit. Cem hatte recht. Das Programm ist ein Beamer. Aber die Flüssigkeit auch.« Er erwiderte ruhig ihren Blick. »Der Reihe nach. Es gibt angeblich diese sieben Welten, die irgendwie zusammengehören. Auf jeder dieser Welten wird etwas anderes erlebt. Etwas, das wir uns selbst ausgesucht haben. Laut Marla haben wir diese Welten sogar selbst erschaffen.«
Für einen kurzen Moment sah Lara eine Szene vor sich. Es war dunkel. Von einer kurzen Entfernung aus erkannte sie sieben Personen, die in einem Kreis im luftleeren Raum schwebten. In ihrer Mitte drehte sich eine kleine, leuchtende Kugel um sich selbst. Ähnlich wie die Kugeln in den Händen der Riesen. Nur dass diese Kugel nicht zu einer Waffe wurde. Sie war wunderschön und leuchtete golden.
»Lara?«
Sie sah auf.
»Alles in Ordnung? Du warst gerade total weggetreten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Erzähl weiter.«
»Marla hat behauptet, dass es den Moment geben wird, an dem wir voneinander erfahren. Aber dieser Moment ist noch lange nicht gekommen. Weshalb es für große Verwirrung sorgt, wenn wir einfach auf den anderen Erschaffungen rumspringen. Wir dürften gar nicht hier sein.«
»Aber der Weltenhüter schon?«
»Sie wissen als Einzige von den Welten. Das heißt, wir auf der Erde wissen nichts von diesen Welten. Die Frauen auf dem Planeten voller Farben, die wissen es. Sie lernen sogar teilweise unsere Geschichte und unsere Sprachen. Die Aufgabe der Weltenhüter ist es, ihre eigene Erschaffung zu beschützen. Sie können reisen, so viel sie wollen. Mithilfe der magischen Orte . Aber wir nicht.«
Lara musste das Gesagte verdauen. Auch wenn der Schwindel in ihrem Kopf verriet, dass dies ihren Verstand überforderte.
»Und das hier ist ein magischer Ort ? Es sieht wie eine normale Höhle aus.«
»Sie sind nicht zwangsläufig schön. Im Gegenteil. Sie sind sogar unauffällig, damit nicht jeder sofort weiß, dass es sich um einen magischen Ort handelt. Überleg mal. Der Mummelsee, aus dem wir aufgetaucht sind. Das ist garantiert auch einer. Und so besonders schön ist er gar nicht. Er ist eher …«
»Unheimlich«, gab Isabel von sich. »Und wenn ihr da aufgetaucht seid, dann könnte das bedeuten, dass ihr genau diese Reise schon mal gemacht habt.«
Lara sah Timo hilflos an. »Ich kann mich nicht erinnern. Aber irgendwie weiß ich, dass wir hier noch nicht waren. Oder hat diese Marla was gesagt? Hat sie Ayse und Cem gesehen?«
»Nein. Wir waren nicht hier. Sie war sich absolut sicher. Sie müsste es wissen, meinte sie. Weil sie alles und jeden sieht, der ihre Welt betritt. Durch ihr Auge in der Hand.«
»Sie sterben nicht«, drang mit einem Mal Isabels Stimme zu ihnen.
Lara wandte sich ihr zu. »Wer stirbt nicht?«
»Die Frauen. Wenn sie fertig mit ihrer Erfahrung sind, dann – Plopp! – lösen sie sich einfach auf. In Energie. Wir haben es gesehen.« Sie lachte, aber es klang nicht glücklich. »Und dann erschaffen sie etwas Neues. Leben in einer anderen Welt weiter. Ist das nicht abgefahren? Und wenn sie auf die Welt kommen, spuckt die Erde sie einfach aus. Sie werden nicht geboren wie wir. Die Frauen selbst erschaffen kein Leben. Trotzdem sind sie definitiv Frauen.«
Lara musterte Isabel verwundert. Sie schien zwar immer noch mitgenommen, aber diese farbenwechselnde Welt hatte sie offensichtlich fasziniert.
»Lara, wo ist Marc?«, fragte Timo nun ungeduldig.
»Wir haben uns verloren. Da war dieser Sturm, und ich wurde fortgespült. Ich weiß nicht, ob er es gepackt hat. Es war ziemlich heftig.«
Isabels Miene ließ keine Rückschlüsse auf ihre Gefühle zu.
»Okay. Dann müssen wir ohne ihn weiter.«
»Was?«
»Wir können nicht auf ihn warten.«
»Wir können ihn aber auch nicht hierlassen!«
»Er ist doch auch ohne uns weiter. Dass du dabei warst, ist reiner Zufall! Hast du die Flasche?«
Sie antwortete leise: »Ich habe sie verloren. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, bevor die Welle mich erfasst hat, da lag sie neben Marc.«
Mit einem Wutschrei sprang Timo auf. Er schlug mit der Faust gegen die Mauer.
Isabel zuckte zusammen.
»Sie ist bestimmt fortgespült worden. Wenn wir diesen Weltenhüter noch mal treffen, dann …«
»Nein. Er hat sie.« Entschlossen starrte Timo vor sich hin.
»Marc? Das glaube ich nicht. Ich habe den Weltenhüter nach ihm gefragt. Er meinte, dass er fort ist.«
»Natürlich ist er fort. Weil er die Flasche benutzt hat.« Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. »Komm. Wir müssen los.«
Sie kam gar nicht mehr dazu, zu argumentieren, da Timo sie einfach in die angrenzende Höhle zog. Dunkelheit umgab sie, als sie Isabels Stimme hörte.
»Warte! Susi kommt nicht!«
Unwillig blieb Timo stehen. »Susi! Hierher!«
Ein Winseln war zu hören.
»Vielleicht will sie hierbleiben. Weil Marc auch noch hier ist.«
»Nein«, entgegnete er. »Sie hasst es, gebeamt zu werden. «
»Warum?« Lara wurde zunehmend misstrauisch. »Wenn wir wirklich die ganze Zeit herumgebeamt werden, dann kennt sie es doch schon.«
»Mit den magischen Orten verhält es sich anders.«
»Warum? Wie anders?«
Timo ging eilig Richtung Ausgang, ohne ihr eine Antwort zu geben. Verwirrt blieb sie stehen und sah sich um. Nur schwach leuchtete das Licht von draußen herein. Aber wenn sie tiefer in die Höhle hineinsah, erkannte sie, dass diese sich in zwei Richtungen gabelte. Sie hörte ein leises Rauschen und ging etwas näher. Auf den Höhlenwänden waren kleine Zeichnungen. Lara versuchte, mehr zu erkennen. Da waren Symbole, die sie noch nie gesehen hatte. Wie eine uralte Schrift. War das ein Wegweiser?
Schon kam Timo zurück, die winselnde Susi auf dem Arm. »Susi geht als Erste. Du hältst sie fest, Isa. Ich gehe als Letzter.«
Lara beobachtete, wie er Susi auf dem Boden absetzte. Er streichelte sie beruhigend.
»Es ist gleich vorbei. Isa, kommst du?«
Isabel trat zu dem Hund und hielt ihn am Halsband fest. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sich längst selbst weggebeamt hatte: zu ihrem persönlichen Happy Place.
Susi zerrte mit ganzer Kraft und versuchte, zu entkommen. Im selben Moment wurde das Rauschen lauter. So laut, dass Lara nichts anderes mehr hören konnte. Das Rauschen schien Isabel und Susi zu erfassen. Eine schimmernde Wolke glitt einmal um sie herum. Dann lösten sich die beiden einfach vor Laras Augen auf.
»Sie sind wirklich weg!«
Timo sah sie ernst an. »Jetzt du.«
»Ähm … Moment. Was passiert mit mir?«
»Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir.«
Mit diesen Worten schob er sie auf die Stelle, auf der gerade noch Susi und Isabel gestanden hatten. Lara hatte keine Zeit, sich zu wehren, denn schon wurde sie ebenfalls von dem Rauschen erfasst. Sie sah das schimmernde Etwas um sich herum. Sah in Timos Augen, der sie musterte. Dann spürte sie das Kribbeln auf der Haut, das sie schon zuvor gespürt hatte. Beim Aufprall mit dem Auto. Als der Riese mit der Harpune auf Timo gezielt hatte. Als Marc im Gefängnis die Flasche geöffnet hatte. Es kribbelte am ganzen Körper. Aber die schimmernde Energie gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Mit einem Mal wusste sie, dass Timo recht hatte. Ihr würde nichts passieren. Dann löste sich die Umgebung um sie herum auf. Oder sie selbst.