Welt Vier
Träumer
Sie landete unsanft auf hartem Steinfußboden. »Au!«
»Du musst aus dem Weg!«, rief Isabel neben ihr und zog sie am Arm fort. Sie waren erneut in einer Höhle gelandet.
»Hast du das gesehen?«, fragte Lara aufgeregt. Sie konnte Isabels Gesicht im Halbdunkel kaum erkennen. Aber glücklich wirkte sie nicht. Genauso wenig wie Susi, die neben ihnen auf dem Boden lag und leise winselte. Lara beugte sich zu der Hündin hinunter und streichelte sie. »Du verstehst das nicht, Susi. Aber was wir gesehen haben, das ist unser Zuhause. Laniakea.«
»Marc hat dich bestens aufgeklärt«, erwiderte Isabel bissig.
Lara konnte es nicht fassen. Da bekamen sie so etwas zu sehen – und Isabel war eifersüchtig?
»Was ist los mit dir? Ich meine, du bist Fotografin! Haut dich das nicht um? Hast du nicht Lust, das für die Ewigkeit festzuhalten?«
Isabel erwiderte nichts. Ein Poltern erklang hinter ihnen. Es war Timo, der elegant auf beiden Beinen landete und sie fragend in dem schwachen Licht musterte.
»Alles gut gegangen?«
»Alles gut gegangen? Wie könnt ihr so gelassen bleiben? Das war doch wohl der absolute Hammer!« Trotz ihrer ganzen aussichtslosen Situation wurde Lara das Gefühl der Begeisterung nicht los. »Ich habe noch nie so etwas Schönes
gesehen!«
Endlich entlockte sie Timo ein Lächeln. »Ich schon«, meinte er und sah sie dabei intensiv an.
Sein Blick machte sie nervös, doch Isabel unterbrach den Moment. »Und jetzt?«, fragte sie.
»Sind wir in einer der nächsten Welten?«
»Ja«, sagte Timo. »Die Sieben Welten, die zusammengehören, reihen sich aneinander. Ein magischer Ort
ist der Eingang. Ein anderer der Ausgang. Um den zu finden, müssen wir den Weltenhüter finden. Bevor er versucht, uns umzubringen.«
Sie gingen einen Gang entlang, der zum Ausgang hin immer schmaler wurde. Susi hatte sich von ihrem Ausflug ins Universum erholt und lief schwanzwedelnd vor. Die Höhle mündete in einen schmalen Spalt, durch den man sich nur noch hindurchzwängen konnte. Timo rief Susi zurück.
»Wir wissen nicht, was uns erwartet.« Er wandte sich an Lara. »Du weißt, was an diesem Strand los war. Wir bleiben immer zusammen. Ich gehe vor.«
Sie folgte ihm, er hielt Susi am Halsband. Sie mussten kriechen, um das Ende der Höhle zu erreichen. Sand rieselte herab. Die Hündin drängte nach vorn. Bestimmt hoffte sie, Marc zu finden. Wo er wohl war? Hatte Timo recht und er hatte die Flasche benutzt? Um sich selbst zu retten? Hatte er Lara einfach so zurückgelassen? Es würde zu ihm passen. Aber dann auch wieder nicht. Sie hatte eine Seite an ihm kennengelernt, die mit dem egoistischen Marc nicht viel zu tun hatte. Wie er über die Sterne gesprochen hatte, über Venus und goldilocks, redete so ein Typ, der nur an sich
dachte?
Timo hatte das Ende des Gangs erreicht und kroch langsam hinaus. Susi drängelte hinter ihm und stieß ihm die Schnauze in den Hintern. Nach einem kurzen Zögern war er draußen. Da er die Hündin nicht aufhielt, als diese bellend hinaussprang, ging Lara davon aus, dass keine Gefahr drohte. Sie kroch ans Ende des Gangs, als er ihr die Hand entgegenstreckte. Sie trat neben ihn ins Freie.
Vor ihr erstreckte sich eine weite Ebene, in der sie nichts als kleine Steinbrocken ausmachen konnte. Eine endlose, karge Wüste. Der Himmel war grau, und es war eiskalt, obwohl kein Wind wehte. Egal, in welche Richtung Lara blickte, es war nichts weiter zu erkennen als Steine.
Isabel trat hinter ihr ins Freie. Sie fröstelte sofort. »Und jetzt?«
Timo zog eilig die Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Nach allem, was Lara von Marc erfahren hatte, wirkten seine Berührungen nun weniger intim als geschwisterlich. Ihre Eifersucht kam ihr töricht und albern vor.
»Wir laufen, bis uns der Weltenhüter findet. Dann fragen wir nach Marc und hoffen, dass wir zum Ausgang gebracht werden.«
»Dafür brauchen wir den Weltenhüter nicht mal«, erinnerte sich Lara und zog die Karte aus der Tasche. Ob sie den Sturz ins Wasser überstanden hatte? Sie faltete das Papier auseinander. Und fand auf dem Blatt eine Zeichnung, die der Steinwüste tatsächlich ähnlich sah.
Lara reichte das vom Wasser unbeschadete Papier Timo und erklärte ihm, was es damit
auf sich hatte. Zumindest, soweit sie dazu in der Lage war. Denn warum diese Karte immer genau die Welt wiedergab, auf der sie sich befand, war ein Rätsel. Hätte Lara sie vor dieser Reise in die Hände bekommen, hätte sie an irgendeinen Trick geglaubt.
»Das muss die Karte sein, von der Marla gesprochen hat. Nur die Weltenhüter besitzen sie. Wer hat sie dir gegeben?«, wollte Timo wissen.
Sie beschrieb ihm den alten Mann, den außer ihr und Mila niemand hatte sehen können. Ihr Weltenhüter.
»Wenn Mila ihn sehen kann und auch das Auge in der Hand hat, bedeutet das dann …«
»… dass sie so eine Art Mini-Weltenhüter ist? Ja, das habe ich auch schon gedacht.« Sie zeigte ihm das Kreuz auf der Karte. Es war irgendwo in der Wüste eingezeichnet. Ohne erkennbaren Weg dorthin. »Na, toll. Wie sollen wir das finden?«
»Moment mal …« Isabel nahm die Karte an sich. »Seht ihr? Es bewegt sich.«
Lara betrachtete sich das Kreuz genauer. Tatsächlich. Es bewegte sich langsam von ihnen weg. Der magische Ort
dieser Welt war beweglich.
»Wir gehen hinterher. Der Weltenhüter dieser Erde weiß bereits, dass wir hier sind. Sie bemerken das quasi beim Eintritt in ihre Welt. Vielleicht begegnen wir ihm auf dem Weg zu diesem wandernden Kreuz.«
»Und was ist, wenn er uns gar nicht erst zu Wort kommen lässt?«, hakte Lara nach.
»Marla hat versprochen, dass sie ihn auf unseren Besuch vorbereitet«, antwortete Timo. »Sie konnte uns
zwar nichts versprechen, aber sie wollte dafür sorgen, dass er uns am Leben lässt.«
Tolle Aussichten! Aber sie hatten keine Wahl. Ein steiniger Marsch begann.
Susi war die Einzige, die nicht fror. Aber sie hechelte. Durstig. Sie waren noch an keinem Wasserlauf vorbeigekommen, obwohl sie bestimmt schon seit einer Stunde durch die karge Landschaft liefen. Timo schien sich an der Sonne zu orientieren, die gerade noch so am Horizont zu erkennen war, aber keine wärmenden Strahlen mehr aussandte. Lara hatte bemerkt, dass der Sonnenstand sich kaum verändert hatte. War die Sonne in der letzten Welt in Sekundenschnelle untergegangen, so schien sie hier am Himmel festzukleben. Dank Marc achtete sie nun auf solche Dinge.
Wenn diese Welt wirklich von anderen erschaffen worden war, welchen Sinn sollte sie haben? Nichts wuchs, zumindest nicht in dieser Gegend. Aber vielleicht würde man dasselbe sagen, wenn man in einer Wüste auf der Erde landete und den Rest des Planeten nicht kannte? Sah es in der letzten Welt mit all ihren Pflanzen und Gräsern auf dem ganzen Planeten so aus – oder gab es auch dort karge Landschaften? Und gab es bei den Frauen Wüsten?
Wenn Lara ehrlich war, würde sie am liebsten auf jeder Welt einige Zeit verbringen, um sie besser kennenzulernen. Außer bei den kriegsfreudigen Riesen.
Sie beobachtete Timo, der vor ihr lief. Er ging schnell voran. Vielleicht, weil ihm kalt war. Vielleicht war er aber auch einfach nur wild entschlossen. Seit er die
Flasche gefunden hatte, schien er an nichts anderes mehr denken zu können.
Sie musste ihm unbedingt von ihrer Erinnerung erzählen. Die Erinnerung an die Stimme ihres Vaters. Gerade wollte sie ihn darauf ansprechen, als er stehen blieb. Lara folgte seinem Blick und sah es ebenfalls. Etwas kam auf sie zu. Oder besser: Es flog auf sie zu. Eine Kugel von der Größe eines Sitzballs. Im gemächlichen Tempo näherte sie sich. Sie besaß keine richtigen Konturen, vielmehr schien sie aus etwas Leuchtendem, Flirrendem zu bestehen, das Lara an das Leuchten erinnerte, das sie gerade von einer Welt in die andere gebeamt hatte. Langsam drehte sich die Kugel um sich selbst, war ständig in Bewegung. Mal dehnte sie sich aus, mal zog sie sich wieder zusammen. In gleichmäßigem Takt. Als würde sie atmen. Sie war transparent, und Lara konnte verschwommen durch sie hindurchsehen. Aus irgendeinem Grund brachte ihr Anblick Lara zum Lächeln. Dieses Flirren hatte etwas Friedliches, Erhabenes an sich. Was offensichtlich nicht alle so sahen.
Timo wich zurück und stellte sich schützend vor Lara und Isabel, während Susi der wirbelnden Kugel neugierig und geduckt entgegenlief.
»Susi. Bleib!«, rief Timo.
Die Hündin winselte nervös. Ihre Neugier kämpfte gegen den Gehorsam. Lara spürte, dass sie nicht in Gefahr waren. Beim Anblick der Kugel fühlte sie sich … verliebt. Der Glanz erinnerte sie nicht nur an das Schimmern am
magischen Ort
, sondern auch an die Flüssigkeit in der Flasche. Als würde all
das aus ein und demselben Material bestehen. Sie wollte der Kugel entgegengehen, sie anfassen, doch Timo hielt sie zurück.
Jetzt sah sie, dass sich innerhalb der Kugel etwas bewegte. Je näher sie kam, desto deutlicher war es zu erkennen. Mittlerweile schwebte sie vor ihnen in der Luft. Tatsächlich. Etwas spielte sich in der Kugel ab. Ein Bild war zu erkennen, ein Wald mit dicht verzweigten Ästen und riesigen, violetten und roten Blüten, die ihre Kelche Richtung Sonne streckten. Das Bild näherte sich einem Baum und zeigte immer mehr Details. Lara war fasziniert. Es war wie Fernsehen. Sonnenlicht drang durch das Blattwerk. Etwas sprang durch die verdeckten Äste. Ein Tier! Ähnlich einem Affen, aber mit viel längeren Armen und Beinen und einem silbernen Fell. Das Wesen besaß riesige Augen, die erstaunt durch die Gegend schauten. Es war, als würde Lara das Tier durch die Perspektive eines anderen Beobachters sehen.
»Da! Seht doch!«, rief sie fasziniert.
Die Kugel wich vor ihr zurück. Als hätte sie sich über ihren Ausbruch erschreckt. Sie verformte sich kurz zu einer Art Banane.
»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken«, flüsterte Lara leise.
Die Kugel schwebte weiter vor ihr in der Luft.
Lara hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. »Bist du der Weltenhüter?«, fragte sie vorsichtig.
Keine Reaktion. Die Kugel schwebte weiter und nahm ihre alte Form an. Das Bild in ihr war verschwunden. Es zeigte nun einen grauen Schimmer. Als wä
re ein Sender in einem alten Fernseher ausgefallen. Lara folgte ihr zaghaft.
»Lara. Bleib hier.«
Sie hörte Timos Stimme kaum. Zu fasziniert war sie von der schimmernden Kugel. Lara hätte sie zu gern einmal angefasst. Doch als ihre Hand sich ihr näherte, erschien wieder ein Bild. Sie sah einige Farben, die hintereinander folgten. Blau, rot, grün. Immer schneller war die Abfolge. Lara musste sich beeilen, um der Kugel folgen zu können.
»Lara!«
Sie lief eilig hinterher. Jetzt konnte sie erkennen, dass sich aus den schimmernden Farben eine Gestalt abhob. Es war eine der Frauen aus Marlas Welt. Verblüfft blieb Lara stehen.
Plötzlich stand Timo hinter ihr und packte sie an den Schultern. »Hörst du schlecht?«
»Hast du das gesehen?«
»Ich habe gesagt, wir müssen zusammenbleiben!«
Er sah sie so zornig an, dass sie stutzte. »Ich bin doch kaum fünfzig Meter gegangen.«
»Du bleibst jetzt neben mir. Klar?« Damit stapfte er zurück zu Isabel, die mit Susi auf ihn wartete.
Wut stieg in ihr auf. Bei allem Verständnis für seine Anspannung kapierte sie nicht, warum er nicht genauso fasziniert von dieser Welt war wie sie. Stattdessen führte er sich wie der Anführer ihrer Truppe auf.
Sie zögerte, ihm zu folgen. Die Kugel war noch in der Nähe. Wenn sie sich beeilte, würde Lara sie erwischen.
Als sie jedoch wieder zu Timo sah, erkannte sie, dass sich ihnen noch mehr von diesen schimmernden
Kugeln näherten. Die ganze Umgebung schien mit einem Mal voll von ihnen zu sein. Sie schwebten auf Timo und Isabel zu. Lara näherte sich der Kolonie und staunte: In jeder Kugel war etwas anderes zu erkennen. Als würden Hunderte von Fernsehern gleichzeitig laufen. Auf unterschiedlichen Kanälen.
In einer Kugel konnte Lara ein Stück Dschungel erkennen, durch das ein Tier huschte, das sie entfernt an einen Löwen erinnerte. Nur viel kleiner und rot, mit wuscheligem Fell und einem erstaunten Gesichtsausdruck. Ein anderes Tier folgte ihm, ungefähr so groß wie ein Elefant, aber dünn und mit blauen Flecken versehen. Auch seine Augen wirkten wie die eines erstaunten Kindes. In einer anderen Kugel waren Farben. Wie bei den Frauen gingen sie ineinander über und besaßen diesen merkwürdigen Schimmer. Lara hätte stundenlang zuschauen können, als so beruhigend und gleichzeitig berauschend empfand sie das Farbspektakel. Die anderen Kugeln waren aber mindestens genauso interessant.
In einer waren Gräser zu erkennen, und Lara musste an die letzte Welt denken, die sie besucht hatten. Es hätte ein und dieselbe sein können. Ein anderes Mal erkannte sie dunkles Blau, seltsam geformte Wesen mit Fühlern, an denen Augen hingen, und dann, als sie schon aus dem Staunen nicht mehr herauskam, erkannte sie die Riesen.
Eine weite Ebene war zu erkennen, auf der eines dieser Ungetüme in seiner Rüstung stand, mit den Händen eine Waffe formte und sie auf eine ganze Schar anderer
Hünen warf.
Leise trat Lara neben die anderen. »Da! Seht ihr? Das sind die Welten, in denen wir schon waren. Und andere.«
Timo nickte. Fasziniert beobachtete auch er den Tumult und schien für den Moment seine heilige Mission vergessen zu haben.
Nur Isabel wirkte verstört wie eh und je. »Sollten wir nicht weiter? Der Weltenhüter ist nicht dabei.«
»Findest du das nicht total abgefahren?«, fragte Lara verblüfft. Wie konnte man solch ein Wunder entdecken und einfach daran vorübergehen?
»Sie hat recht«, erwiderte Timo nun. »Wir gehören nicht hierher. Wir haben keine Zeit.« Er ging eilig voran, darum bemüht, keine der schimmernden Kugeln zu berühren.
»Du bist nicht unser Anführer«, konterte Lara gereizt.
Er drehte sich zu ihr um. »Das habe ich nie behauptet. Ich will mich nur an die Regeln halten.«
»Regeln sind nicht immer das Wichtigste.«
»Für mich schon!«
»Ja. Das habe ich gemerkt.«
Überrascht zuckte er zurück.
»Marc hat mir erzählt, warum du ihn nicht leiden kannst.«
Isabel horchte auf und sah Lara nun angespannt an.
»Hat er das?«, fragte Timo kühl.
»Ich meine ja nur, manchmal haben Leute Gründe für das, was sie tun. Und man kann doch nicht einfach jemanden verurteilen, wenn man dessen Beweggründe nicht
kennt.«
Isabel lachte spöttisch auf. »Was auch immer er dir erzählt hat, er hat gelogen. Unser Kind war ihm scheißegal.«
»Das stimmt nicht!«, rief Lara. »Außerdem ist es auch nicht okay, einfach die Pille abzusetzen.« Sie bereute ihre Worte bereits, ehe Isabel sich vor ihr aufbaute.
»Das geht dich nichts an!«
»Genug jetzt!«, donnerte Timo. Sein Gesicht hatte einen angespannten Ausdruck angenommen. »Ich will nicht über diesen Idioten reden.« Er drehte sich um und ging davon.
»Ich wusste gleich, dass du auf ihn abfährst.« Isabels grüne Augen musterten Lara kühl, ehe sie Timo hinterherlief.
»Tu ich nicht!«, rief Lara entrüstet. Sie konnte es nicht fassen. Für einen Moment zog sie in Erwägung, einfach hierzubleiben. Aber der Anblick von Timo, der völlig in sich gekehrt voranlief, berührte sie. Glaubte er womöglich auch, dass sie auf Marc stand?
Sie warf einen letzten Blick auf die schimmernden Kugeln und folgte ihm.