Erinnerungen
Egal, wie lange sie liefen, der Sonnenstand veränderte sich nicht. Lara war sich unsicher, ob sie die ganze Zeit im Kreis liefen.
Immer wieder holte sie die Karte aus der Hosentasche und sah nach, ob das Kreuz näher gekommen war. Fehlanzeige. Es bewegte sich weiterhin von ihnen weg. Würden sie den magischen Ort überhaupt erreichen? Wenn sie nicht bald etwas zu trinken fanden, konnten sie die Wanderung sowieso nicht mehr fortsetzen. Susi schleppte sich bereits mühsam neben Isabel her. Die Zunge hing ihr weit aus dem Maul. Auch Timos entschlossener Gang hatte sich verlangsamt. Lara sehnte sich nach dem Moment zurück, als sie fast ertrunken wäre. Warum hatten sie nichts von dem Wasser mitgenommen?
Mit einem Mal legte sich die Hündin auf den Boden. Sie konnte nicht mehr weiter.
Hilflos blieb Isabel stehen. »Timo?«
Er drehte sich um. Das Gesicht angespannt, erschöpft. »Gut. Ihr macht Pause. Ich suche Wasser.«
»Ich komme mit«, rief Lara. Während Isabel sich zu Susi setzte, ging sie eilig zu ihm. Sie konnte kaum mit ihm Schritt halten. »Jetzt warte doch. Können wir reden?«
»Wir brauchen Wasser. Das ist wichtiger. Oder ist dir das zu moralisch?« Er stapfte davon.
Sie folgte. Schweigend.
Erneut waren sie eine gute Strecke gelaufen, als sie endlich ein erlösendes Plätschern hö rte. Nur Wasser war keines zu sehen. Timo kniete sich auf den Boden und grub zwischen den Steinen. Lara setzte sich zu ihm, um zu helfen. Gemeinsam schaufelten sie Steine und Sand zur Seite und gruben sich gut einen Meter in den Boden hinein. Endlich! Unter der Oberfläche floss ein kleiner Bach. Vorsichtig kostete Lara und nickte. Süßwasser. Beide tranken gierig, bis der gröbste Durst gelöscht war. Dann gingen sie eilig die ganze Strecke zu Isabel zurück, die mittlerweile benommen neben Susi auf dem Boden lag. Während Timo sie auf die Arme nahm, hob Lara die Hündin hoch. Mit letzter Kraft schleppten sie beide zu der Wasserstelle, wo Susi, die das Wasser witterte, augenblicklich wieder fit wurde und eilig trank. Timo gab Isabel zu trinken. Anschließend saßen sie erschöpft zusammen. Isabel war sofort wieder in einen tiefen Schlaf gefallen, und Timo hatte entschieden, dass sie sich etwas ausruhen sollten.
Lara starrte zum Horizont, auf die graue Sonne, die nicht untergehen wollte und diese ganze Welt in einen ständigen Halbschatten warf. Dann sah sie zu Timo, der ebenfalls keine Ruhe fand.
»Warum begegnet uns nicht der Weltenhüter?«, fragte sie leicht nervös. »Und warum bewegt sich der magische Ort dieser Welt?«
Er zuckte mit den Schultern. Schien in trübe Gedanken vertieft. Sie hätte ihm sagen können, dass Marc ihr nichts bedeutete. Dass Timos Anwesenheit hingegen sie nervös machte. Ihr weiche Knie bescherte. Und dass sie nicht aufhören konnte, an ihren Kuss zu denken. Warum tat sie es nicht? Hatte Marc richtig gelegen? War sie wie die Venus, die niemanden zu sich lassen wollte?
»Ich glaube nicht, dass ich immer recht habe«, sagte Timo plötzlich in die Stille hinein. »Im Gegenteil. Eigentlich baue ich immer irgendeinen Scheiß. Sazan und Isabel, die beiden sind ständig in irgendwelchen Schwierigkeiten gewesen. Und ich … hatte einfach immer das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Und dann kamst du und …«
»… bin dauernd in Schwierigkeiten«, beendete sie seinen Satz.
»Als Marc und du verschwunden seid, habe ich gedacht, ich sehe dich nie wieder.« Sein Blick durchbohrte sie. »Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat. Kann sein, dass ihn die Fehlgeburt auch mitgenommen hat. Ich habe nur Isa vor mir gesehen. Wie fertig sie war. Wie verletzt. Alles, was ich wollte, war, dass es ihr einmal im Leben gut geht. Und er tut ihr nicht gut. Ganz egal, warum er ist, wie er ist.« Er sah zu Isabel, die tief und fest schlief.
»Du hast mir nie von ihr erzählt. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern«, erwiderte Lara.
Er wollte gerade antworten, als sie etwas beobachtete. Über Isabels Kopf war etwas zu erkennen. Klein und schwebend, wie eine Seifenblase.
»Siehst du das auch?«, fragte er.
Sie nickte und ging langsam näher. Die kleine Blase formte sich weiter aus. Wurde zunehmend größer. Fasziniert beobachtete Lara, wie sich innerhalb der Blase eine Szene abspielte. Wie zuvor in den schimmernden Kugeln: Sie sah zwei kleine Mädchen. Auf der Rückbank eines Autos. Sie spielten ein Klatschspiel und lachten dabei.
»Sie träumt«, flüsterte Timo. »Genau wie die Kugeln. Sie träumen!«
Lara bekam eine Gänsehaut. In der Blase ging die Szene nun weiter. Die Mädchen gerieten durch etwas in Streit und zankten sich. Sie konnte nichts hören, aber deutlich erkennen, wie wütend beide wurden. Sie wandten sich nach vorn, zu einer Frau, die auf dem Beifahrersitz saß. Die Frau drehte sich um. Genau wie der Mann, der am Steuer saß. Sie redeten auf die Mädchen ein. Und sahen den LKW nicht, der nun frontal auf sie zufuhr.
Mit einem Schrei erwachte Isabel aus dem Schlaf. Timo war sofort an ihrer Seite und nahm sie in den Arm. Lara betrachtete ihr panisches Gesicht und fühlte mit ihr. Das musste der Unfall gewesen sein, bei dem sie Schwester und Eltern verloren hatte. Und noch immer träumte sie davon, obwohl es so viele Jahre her war. Lara fragte sich, ob sich der Autounfall ihrer eigenen Mutter ähnlich zugetragen hatte.
Isabel schlief jedoch schnell wieder ein. Sowohl über ihr als auch über Susi hingen bald darauf kleine Traumblasen. Während Isabel von der Welt der Frauen träumte und immer wieder Marcs Gesicht zu sehen war, waren in Susis Träumen nur Farben und Formen zu erkennen.
Lara konnte nicht aufhören, auf diese Traumblasen zu starren. Auch wenn sie das Gefühl hatte, ein Tagebuch zu lesen. Es war seltsam intim.
Irgendwann wurde sie ebenfalls schläfrig, als Timo sich neben sie setzte.
Er zog etwas aus der Tasche. Einen MP3-Player. »Hier. Den schleppe ich schon seit einer halben Ewigkeit mit mir rum.«
Lara nahm den Player entgegen, an den ein Kabel mit Ohrstöpseln gesteckt war.
»Er ist für dich. Ich wollte auf den perfekten Moment warten, um ihn dir zu geben. Und jetzt dachte ich, vielleicht wird es diesen perfekten Moment nie geben. Also … hier.«
Sie setzte die Kopfhörer auf und schaltete den Player an. Sofort erschien eine Playlist auf dem Display. Lara lauschte dem ersten Song. Ein Song, in dem es um eine Liebe ging, die nie ein Ende fand. Sie sah ihm in die Augen. Er erwiderte ihren Blick halb fragend, halb verlegen. Ihr Herz klopfte schneller. Sie ließ das Lied zu Ende laufen und lauschte dem nächsten. Während ihr ein Liebeslied nach dem anderen in die Ohren drang, legte sie sich wortlos zu Timo und kuschelte sich eng an ihn. Er nahm sie fest in den Arm. Augenblicklich wurde es ihr wärmer. Und während sie in den wolkenverhangenen Himmel starrte, der alle Sterne verdeckte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Herzen im Einklang zum Takt der Lieder schlugen.
Irgendwann schlief sie ein.
Als sie aufwachte, war es eiskalt. Sie richtete sich auf. Timo war nirgends zu entdecken. Sie zog sich die Ohrstöpsel raus und sah sich um. Da entdeckte sie ihn. Ein Stück weit weg starrte er finster zum Horizont.
Lara stand auf und näherte sich ihm. » Hey.«
Er drehte sich um. »Wir sollten Isabel wecken. Wir müssen weiter.«
Schon wollte er an ihr vorbei, als sie ihn aufhielt. »Moment. Warte. Was ist denn los?«
»Nichts.«
»Wie, nichts. Hast du schlecht geschlafen?«
Verletzt sah er sie an. »Ja. Im Gegensatz zu dir. Du hast geträumt.«
Sie stutzte. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Ach nein? Aber an den Kuss kannst du dich bestimmt erinnern.«
»Unseren Kuss? Natürlich. Darüber wollte ich noch mit dir reden, ich …«
»Ich rede nicht von unserem Kuss.«
Es arbeitete in ihr. Wenn er nicht ihren Kuss meinte, dann …
Er machte sich energisch los.
»Timo! Was genau hast du gesehen?«
»Genug, um zu wissen, wen du wirklich willst.«
Ihre Ahnung bestätigte sich. Sie hatte offensichtlich von Marcs Kuss geträumt. »Dann hast du nicht die Ohrfeigen gesehen, die ich ihm gegeben habe.«
»Schon okay. Ich weiß, wie er ist. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du so dämlich bist, auf ihn reinzufallen.«
Er hatte Isabel fast erreicht, als sie ihn am Arm packte und zu sich zog. »Mann, kapierst du es denn wirklich nicht? Er hat mich geküsst. Nicht ich ihn. Ich will Marc nicht. Ich will dich! Seit wir aus diesem See aufgetaucht sind, kriege ich Herzklopfen, sobald ich dich sehe. Als du mich geküsst hast, das war wie Fliegen. Ich will mehr davon. Ich weiß nur nicht, wie ich das sagen soll. Weil ich so was noch nie gesagt habe.«
Er schwieg einen Moment. Dann strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Was hast du noch nie gesagt?«
Sie zögerte. Wer wollte sie sein? Die Venus? Oder goldilocks, die habitable Zone?
»Dass ich verliebt in dich bin.«
Er erwiderte nichts, zog sie einfach nur zu sich und küsste sie. Und während er sie küsste und sie ihren eigenen Namen vergaß, vergaß sie auch, wer sie war und woher sie kam. War nur noch eins mit ihm in diesem einen Moment.
Da brachen sie über sie herein.
All ihre Erinnerungen.
Das Auge in seinem weißen Raum, das seine Bestimmung vergessen hatte. Timo, der von seinem Rucksack durch ein Fenster gezogen wurde und fort war. Ihr Patenonkel Konrad, der ihr mitteilte, dass sie tot sei. Die Sekunde, in der sie das erste Mal die Flasche öffnete und die Reise auf die andere Seite begann. Ihre verstorbene Großmutter, Fred, Luxus, Frau Meier, ihre Mutter! Sie war bei ihrer toten Mutter gewesen! Und war ihrem toten Vater begegnet. Deshalb also war sie von der Nachricht über seinen Tod nicht überrascht gewesen. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst.
Lara schrie auf und starrte Timo an. Ein Blick in sein Gesicht reichte aus, um zu wissen, dass es ihm genauso erging. Erneut zog er sie zu sich und küsste sie.
Die Flut der Erinnerungen ging weiter. Lara erinnerte sich an Sazans Land und Timos Hand im Sandhü gel. Die Vereinigung ihrer Eltern mit ihren Freunden, den Moment, in dem sie eine neue Welt erschaffen hatten und Lara mit ihnen gehen wollte. Aus Timos Perspektive sah sie, wie die neue Welt entstanden und Lara verschwunden war. Wie er alle Gegenstände einsammelte, mit deren Kraft sie zurück ins Leben finden sollten. Wie das Auge eine Träne weinte. Eine schimmernde Flüssigkeit, die Timo in der Flasche auffing. Der Schimmer! So war er also entstanden. Sie sah, wie das Auge sich spaltete, in eine Sonne und einen Mond. Und ein kleines, drittes Auge, das davonflog. Ohne seine Flasche, die Timo fest in den Händen hielt und nicht hergeben wollte.
Erschrocken machte sie sich von Timo los. »Du hast sie mitgenommen!«
Er erwiderte genauso schockiert ihren Blick, als sie plötzlich eine Stimme neben sich hörten.
»Wow!«
Isabel stand neben ihnen und starrte sie an. »Das habt ihr erlebt? Wirklich?« Ihr Blick war auf den Bereich über ihren Köpfen gerichtet.
Lara sah nach oben und erkannte noch verschwommen die Blase, die sich über ihnen gebildet hatte. Isabel hatte alles gesehen. Wie in einem Traum.
Timo trat einen Schritt zurück. »Dein Vater hat gesagt, dass wir nur einen Tropfen der Flüssigkeit nehmen dürfen. Aber ich habe die Flasche mitgenommen.«
»Du wolltest mich retten«, verteidigte sie ihn. Schuldbewusst sah sie ihn an. Jetzt, da all die Erinnerungen wiedergekommen waren, konnte sie überhaupt nicht begreifen, wie sie all das hatte vergessen können.
»Ohne die Flüssigkeit kann das Auge nicht zu den Seelen. Es kann sie nicht erlösen.«
»Deshalb der Stillstand. Deshalb kann keiner mehr sterben.« Sie musste sich setzen, während Isabel ungläubig vom einen zum anderen schaute.
»Moment. Es ist eure Schuld, dass niemand mehr stirbt? Warum? Wo seid ihr gewesen?«
»Wir waren tot.«
Sie hatten Isabel alles erzählt. Sie starrte sie an, als wären sie verrückt.
»Ich weiß, wie das klingt, aber …«
»Ich glaube euch. Ich habe es ja selbst gesehen. Und jetzt habe ich all diese Welten gesehen und …« Ihre Augen leuchteten mit einem Mal, als würde nach langer Zeit wieder Leben in sie zurückkehren. »Ihr seid tot gewesen und zurückgekommen?«
»Wir waren nicht tot«, versuchte Timo zu erklären. »Wenn man tot ist, gibt es kein Zurück. Wir waren irgendetwas dazwischen.«
»Aber es geht weiter. Nach dem Leben«, stellte Isabel fest.
»Definitiv«, bestätigte Lara.
Auf Isabels Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Das erste seit langer Zeit.
»Wir können über alles reden. Aber jetzt sollten wir weiter«, erklärte Timo angespannt.
Lara und Isabel versuchten, mit ihm Schritt zu halten. Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach, bevor Isabel sagte: »Verstehe ich das richtig? Wenn das Auge nicht reisen kann, dann ist da jetzt eine Art Stau? Und deshalb kann niemand mehr sterben? «
»Vielleicht. Es würde Sinn ergeben. Irgendwie«, erwiderte Lara vage.
»Und das hier sind die verschiedenen Welten«, schlussfolgerte Isabel weiter. »So wie die, die deine Eltern am Ende erschaffen haben?«
Sie nickte und war erstaunt, wie lebendig Isabel wirkte, seit sie erfahren hatte, dass es nach dem Tod weiterging.
»Warum bringt uns die Flüssigkeit jetzt hierhin? Und nicht in die Totenländer?«
Eine gute Frage, die Lara sich noch gar nicht gestellt hatte. »Keine Ahnung.«
»Und wenn wir nicht in die Totenländer kommen, wie sollen wir dann die Flasche zurückbringen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr müsst die Flasche ja erst wiederfinden«, erinnerte sich Isabel. Damit hatte sie recht.
Timo beschleunigte seine Schritte, sodass er nun fast rannte. »Wo ist der verdammte Weltenhüter?«
Lara blieb plötzlich stehen. »Warte!«
Timo drehte sich um. »Was ist?«
Sie starrte ihn an. »Wenn Ayse und Cem das Programm auch benutzt haben und genau wie wir zum Auge gelangt sind … Du weißt, was mit uns passiert ist, wenn wir zu lange in einem der Totenländer waren?«
Er nickte stumm.
»Wieso? Was ist denn dann mit euch passiert?«, fragte Isabel.
Lara konnte es nicht aussprechen. Ihr traten Tränen in die Augen.
»Man stirbt«, flü sterte Timo.
»Aber es kann doch keiner mehr sterben«, versuchte Isabel, sie zu beruhigen.
»Sie sind vorher verschwunden. Sie konnten noch sterben. Genau wie mein Vater.« Sie musste die aufkommenden Tränen runterschlucken.
Timo ging auf sie zu. »Hey. Man hat die Leiche deines Vaters gefunden. Aber nicht die von Ayse und Cem.«
»Noch nicht«, erwiderte sie tonlos. Und konnte nichts dagegen tun, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. »Das ist alles meine Schuld. Wenn ich nicht hergekommen wäre. Wenn ich das Programm einfach weggeschmissen hätte, dann wäre das alles nie passiert.«
»Du wusstest doch nicht, was Level Sieben ist.«
Ayse und Cem. Tot. Weil sie versucht hatten, sie zu retten.
Timo nahm sie fest in den Arm. »Du hörst mir jetzt genau zu. Solange wir nicht die Leichen der beiden sehen, sind sie auch nicht tot. Klar? Das ist noch nicht vorbei. Wir haben eine Chance. Wir finden jetzt diese verdammte Flasche, und dann bringen wir sie zum Auge. Und dann finden wir einen Weg, Ayse und Cem zurückzubringen.« Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und sah sie eindringlich an. »Okay?«
Sie nickte. »Okay.«
Er küsste ihr eine Träne weg und lief eilig Richtung Sonne weiter. Susi schleckte Laras rechte Hand, während Isabel ihr unbeholfen für einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter legte. Dann folgten sie Timo nebeneinander.