Das fliegende Portal
Wieder waren sie Stunden gelaufen, ohne dass die Gegend oder der Sonnenstand sich verändert hätten. Lara hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Außerdem kreisten ihre Gedanken unablässig um Ayse und Cem, die nun im Totenreich verschollen waren. Hatte Timo recht? Gab es noch eine Chance für sie?
»Als damals der Unfall passiert ist«, begann Isabel, die neben ihr lief, plötzlich leise, »da war ich davon überzeugt, dass es meine Schuld war.«
Lara sah sie von der Seite an.
»Ich habe den Streit mit Babsi angefangen.«
»War das deine Schwester?«
Sie nickte. »Es ging um die Reihenfolge bei einem Klatschspiel. Kannst du dir das vorstellen? Ich war mir so sicher, dass die Hände erst auf die Oberschenkel und dann auf die Oberarme kommen. Babsi hat behauptet, es ist andersrum. Ich wurde so wütend. Immer wollte sie recht haben. Wenn ich sie einfach gelassen hätte, wenn wir uns nicht gestritten hätten, dann wäre der Unfall nie passiert.«
Lara fragte sich, warum Isabel ihr das gerade jetzt erzählte.
»Ich weiß, dass es Quatsch ist. Aber als Kind habe ich mich so schuldig gefühlt, dass ich ein Jahr lang kein Wort geredet habe.« Sie suchte Laras Blick. »Was mit Ayse und Cem passiert ist, das ist nicht deine Schuld. Es ist eben einfach passiert.«
Lara nickte und erinnerte sich an den Moment, in dem ihre Eltern und die fünf anderen ihres Kreises
sich wiedergetroffen hatten. »Bevor meine Eltern, deren Freunde und meine Oma diese neue Welt erschaffen haben, da habe ich sie gefragt, warum sie sich jetzt nicht mehr streiten. Warum all die Konflikte, die sie miteinander hatten, keine Rolle mehr spielen. Sie haben mir erklärt, dass sie sich verabredet hatten. Vor ihrem Leben. Und dass sie entschieden hatten, sich genau das Leid anzutun, das sie sich dann angetan haben. Weil man erst irgendeinen Mist erleben muss, um zu begreifen, was und wer man eigentlich ist.«
Isabel blieb stehen. »Du meinst, dass alles einen Sinn hat?«
Lara zuckte mit den Schultern. »Sie waren auf jeden Fall davon überzeugt. Ich weiß noch, wie glücklich sie ausgesehen haben. Und ich weiß, dass Ayse und Cem selbst ihre Entscheidungen getroffen haben. Genau wie deine Eltern sich aufgrund ihrer eigenen Entscheidung im Auto umgedreht haben. Trotzdem werde ich nie vergessen, dass ich Ayse hergebeten habe. Und du wirst nie vergessen, dass sich deine Eltern deinetwegen umgedreht haben. Es ist immer leicht, zu sagen, dass man keine Schuld hat. Aber es fühlt sich verdammt noch mal nicht so an. Oder?«
Isabel lächelte traurig und nickte. Sie gingen eine Weile schweigend weiter.
»Er liebt dich wirklich«, erklärte Isabel dann mit Blick zu Timo.
Lara lächelte. »Ich ihn auch.«
Nun, da sie es einmal ausgesprochen hatte, kam es ihr ganz leicht vor
.
Plötzlich tauchte in der Ferne eine weitere Gruppe schimmernder Kugeln auf. Langsam gingen sie darauf zu. Diesmal bewegten sich die Kugeln jedoch nicht, sondern hatten einen Kreis gebildet. Lara zählte sieben Stück, die alle ein und dasselbe Bild in sich trugen. Ein Bild, das ihr sehr bekannt vorkam.
»Das ist Berlin«, flüsterte Isabel.
Tatsächlich. Sie erkannte den Alexanderplatz. Sah zahlreiche Menschen durcheinanderlaufen. Die sieben Kugeln schwebten dichter zusammen, und ganz langsam schob sich eine über eine andere, bis ihre Konturen ineinander übergingen. Eine dritte schob sich dazu, und so ging es weiter, bis alle sieben Kugeln nur noch eine einzige waren. Und diese Kugel zeigte sieben Menschen. Gänzlich verschieden in ihrer Abstammung. Sie erkannte zwei Asiaten, drei weiße Männer im Anzug und zwei Frauen mit Kopftuch.
»Sie verabreden sich«, flüsterte Timo ehrfurchtsvoll. »Sie entscheiden sich, wer sie sein werden und wo sie hingehen.«
Verblüfft beobachtete Lara, wie die Kugel sich nun immer schneller um sich selbst drehte. Das Bild war längst nicht mehr zu erkennen. Mit einem Plopp, als würde eine Seifenblase platzen, war die Kugel plötzlich verschwunden.
»Was für ein Trip!«, rief Isabel. Sie drehte sich zu Timo um und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Glaubst du, dass es so funktioniert?«
»Wenn ja, dann wäre es unglaublich«, fand Lara. »Es wäre so, wie Luxus, der Freund meiner Eltern, gesagt hat. Dass wir uns unser Leben selbst aussuchen.
«
»Aber warum sollte sich jemand aussuchen, freiwillig auf unsere Erde zu kommen?«, hakte Isabel nach. »Für Krieg und Hass? Nur um sich zu erinnern, dass man eigentlich von einem Wüstenplaneten stammt und mal eine schimmernde Kugel war?«
»Ich glaube nicht, dass es nur schimmernde Kugeln sind«, erwiderte Timo.
»Was denn sonst?«
»Es ist das, was uns ausmacht. Die pure Liebe.« Mit diesen Worten ging er weiter.
Lara taten die Füße weh. Eine geringere Schwerkraft war hier nicht zu bemerken. Die andauernde Dämmerung machte sie mürbe und der Durst wurde wieder unerträglich. Seit der letzten Quelle hatten sie kein Wasser mehr gefunden. Die schimmernden Kugeln brauchten ja auch keine Nahrung.
Müde zog sie die Karte aus der Hosentasche. Sie erwartete bereits, dass das Kreuz sich immer noch von ihnen fort bewegte. Aber nun hielt sie erstaunt inne. Es war ganz nah und bewegte sich auf sie zu! In diesem Moment drehte Susi sich um und blieb in geduckter Haltung stehen. Ihr Schwanz wedelte aufgeregt. Lara folgte ihrem Blick und staunte, als hinter ihnen eine riesige, schimmernde Kugel in der Luft schwebte.
»Timo«, flüsterte sie leise.
»Ja. Ich sehe es.« Langsam ging er auf die Kugel zu. »Bist du es?«, fragte er. »Bist du der Weltenhüter?«
Die Kugel zog sich in die Länge, und in ihr entstand ein Bild. Sie zeigte genau dieselbe Steinwüste, durch die sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit wanderten. Und
eine Person, die sich hektisch umsah. Die Person hatte eine Flasche in der Hand. Marc!
Lara konnte es nicht fassen. Timo hatte recht gehabt! Marc besaß die Flasche. Und er hatte sie benutzt. Offensichtlich war er in dieser Welt gelandet. Sie konnte sehen, wie er erst in die eine, dann in die andere Richtung schaute und die Flasche schließlich erneut öffnete.
»Nein!«, rief Timo.
Auch Lara war entsetzt. Sie konnte deutlich erkennen, wie wenig noch vom Schimmer übrig war. Wenn Marc so weitermachte, dann hatten sie nichts, was sie dem Auge bringen konnten. Und die Menschen auf der Erde würden weiterhin nicht sterben können.
Der Tod kam Lara mit einem Mal wie etwas vor, das man erhalten musste. Jetzt, da sie sich an alles erinnerte. Der Tod war kein Ende, sondern ein notwendiger Übergang, um sich als Seele weiterzuentwickeln. Es zu unterbrechen, bedeutete, seine eigene Entwicklung zum Stillstand zu bringen.
Marcs Bild löste sich auf. Und mit ihm die Flasche.
»Er ist in die nächste Welt. Wie kommen wir da hin?« Timo ging auf die riesige, schimmernde Kugel zu. »Wenn du der Weltenhüter bist, dann verstehst du mich. Also bitte sage mir: Wo ist der
magische Ort
?«
Die Kugel dehnte sich aus. Sie wurde größer und größer. Das Schimmern kam näher und war bald wie eine riesige Wand, die sich vor ihnen türmte. Susi lief nervös näher und schnüffelte. Auch Isabel ging auf das Schimmern zu.
»Isa. Was machst
du?«
Sie drehte sich lächelnd um. »Es ist selbst der magische Ort
. Es ist der Durchgang.«
Timo und Lara sahen verblüfft dabei zu, wie Isabel auf das Schimmern zutrat und vorsichtig die Hand austreckte. Ein Sog erfasste sie und wollte sie in die Kugel hineinziehen, da zuckte sie zurück. Einen Herzschlag später wich jede Angst aus ihrem Gesicht, und sie ließ sich einfach in die schimmernde Wand hineinfallen. Lara konnte gerade noch erkennen, wie Isabel sich auflöste.