Welt Fünf
Tiere
Zwei riesige Augen starrten sie an. Lara erschrak so heftig, dass sie rückwärts robbte und prompt mit dem Hinterkopf an etwas Hartes stieß.
»Au!« Sie rieb sich die schmerzende Stelle. Ein kurzer Blick zurück. Sie war an einen Baum gestoßen. Als sie sich wieder umdrehte, waren die Augen verschwunden. Es raschelte nur noch verdächtig im Dickicht, das sie umgab.
Isabel hatte recht behalten. Die Kugel war der magische Ort gewesen. Der Reihe nach hatte sie die Gruppe weitergebeamt. Noch einmal hatte Lara für Sekunden den Anblick Laniakeas genießen dürfen. Viel zu schnell war es vorbeigewesen.
Neben sich hörte sie Ächzen und Winseln. Susi kam in geduckter Haltung auf sie zugekrochen. Lara streichelte die Hündin und vergewisserte sich, dass auch Timo und Isabel heil angekommen waren. Die beiden waren neben ihr aufeinandergefallen und nun dabei, sich zu entknoten. Timos Gesicht war schmerzverzerrt.
»Mist. Mein Fuß.« Er rieb sich den Knöchel.
Sie hockte sich neben ihn und tastete vorsichtig seinen Fuß ab. Er war bereits geschwollen. »Der ist mindestens verstaucht. Was ist passiert?«
»Unsanfte Landung.« Er stand auf und versuchte, darauf zu stehen, zog den Fuß aber sofort wieder in die Luft.
»Du kannst damit nicht laufen«, stellte Isabel besorgt fest .
Er schüttelte nur den Kopf. »Es geht schon. Seht euch um. Kann sein, dass wir sofort angegriffen werden.« Er humpelte etwas zur Seite und verschaffte sich einen Überblick.
Sie waren auf einer Lichtung in einem dichten Wald gelandet. Um sie herum wuchsen riesige Bäume in die Höhe. Ihr Blattwerk verdeckte das Blau des Himmels. Einzelne Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg hindurch. Lara entdeckte Lianen, die sich von Baum zu Baum wanden. Im ersten Moment hätte man meinen können, in einem Dschungel auf der Erde gelandet zu sein. Aber dann merkte Lara, dass der Baum, gegen den sie gestoßen war, anstelle von Blättern riesige Blüten besaß, die einen süßen, unwiderstehlichen Duft ausströmten. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass alle Pflanzen hauptsächlich aus Blüten bestanden. Sie glichen Kelchen, Glocken oder Kugeln, ihre Farben waren intensiv und leuchtend. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Das ist wunderschön.« Isabel war neben sie getreten und betrachtete die Welt mit leuchtenden Augen.
»Das Blattwerk ist dicht. Wir können nicht sehen, wenn uns jemand angreift«, sagte Timo hingegen angespannt.
»Keiner greift uns an«, erwiderte Lara.
»Woher willst du das wissen?«
»Als wir gelandet sind, hat mich etwas angestarrt. Ich bin erschrocken, aber die Augen waren so gütig. Die tun uns nichts.«
Jetzt wurde sie sich der Geräusche um sie herum bewusst. Es war nicht still wie in den anderen Welten. An diesem Ort zirpte und summte es. Etliche kleine Insekten schwirrten durch die Gegend und suchten die großen Blüten auf. In den Baumwipfeln raschelte es. Vogelpfeifen war zu hören.
»Du weißt nicht, was hier noch so alles lebt«, sagte Timo besorgt. »Zeig mal die Karte.«
Lara holte die Karte aus der Tasche. Timo faltete sie auseinander und betrachtete sie konzentriert. Auch Isabel schaute ihm über die Schulter.
»Hier«, sagte er. »Das ist die Lichtung. Das Kreuz ist bei diesem Berg hier.«
Lara sah sich weiter um. Aus irgendeinem Grund kam ihr das alles sehr vertraut vor. Sie konnte nur nicht sagen, warum. Als ein Sonnenstrahl sie kitzelte, musste sie heftig niesen.
»Hier entlang. Wir müssen zu diesem Berg.« Timo humpelte bereits in Richtung eines Gebirges, das sich in weiter Ferne erhob.
Isabel und Susi folgten ihm. Lara ging langsam hinterher, ständig abgelenkt von den bezaubernden Blütenkelchen um sie herum. Die Lichtung, auf der sie gelandet waren, schien in der näheren Umgebung die einzige zu sein. Was sie jetzt erwartete, war dichtes Blattwerk. Sie kamen nur langsam voran.
Immer wieder versuchte Timo, sich am Sonnenstand zu orientieren. Lara konnte seine Anspannung und Eile zwar verstehen, trotzdem vermittelte ihr die ganze Umgebung ein Gefühl von Sicherheit und Zuversicht.
Als sie eine Weile durch das Unterholz gegangen waren, blieben sie an einem Baum stehen .
»Ich kann die Sonne nicht mehr sehen. Wir müssen hier rauf, um die Richtung zu prüfen. Aber mit meinem Fuß komme ich da nicht hoch.«
»Ich mache das«, sagte Lara. Es war ein Leichtes, auf den Baum zu klettern. Eine Liane hatte sich um den Stamm gewickelt und glich einer Strickleiter, auf der Lara nach oben klettern konnte. Schnell war sie aufgrund der vielen Blätter außer Sichtweite.
Sie setzte ihren Weg fort, als sie plötzlich ein Rascheln neben sich hörte. Regungslos verharrte sie, während sich ein bepelzter Kopf durch die Äste des Nachbarbaums schob. Zwei riesige, dunkle Augen starrten sie mit einem Ausdruck des Erstaunens an. Graues, wirres Fell stand dem Tier nach allen Seiten hin ab. Die Statur glich einem Affen, war aber pummeliger. Die Pfoten waren riesig und fanden problemlos an den Blättern Halt. Lara musste lächeln. Das Tier sah ulkig aus. Und war ziemlich neugierig. Seine kleine Schnauze schnüffelte in ihre Richtung. Als sie eine Hand ausstreckte, zuckte das Wesen jedoch zurück. Um dann umso neugieriger die eigene Pfote auszustrecken. Sie berührten sich.
Lara wagte nicht, sich zu bewegen, so wundersam kam ihr dieser Augenblick vor. Sie war sich sicher, dass sie diese Welt in einer der Traumblasen gesehen hatte.
»Lara? Alles okay?«
Mit einer schnellen Bewegung war das Tier verschwunden. Sie bedauerte das sehr.
»Ja!«, rief sie nach unten. Sie wartete noch einen Moment, aber das Tier kam nicht zurück. Also kletterte sie weiter nach oben, und je höher sie kam, desto lauter wurde es. Fiepen, Summen, Trällern, bald schon vermischten sich die Geräusche. Um sie herum flogen etliche Insekten, die entfernt an Bienen erinnerten, aber viel bunter waren. Sie flogen um Lara herum, manche setzten sich kurz auf ihre Arme.
Sie widerstand dem Impuls, sie zu verscheuchen, denn sie begriff, dass diese Tiere anders als auf ihrer Welt keinen Stachel besaßen. Sie suchten nach Nektar. Lara wusste nicht, warum sie dies alles so instinktiv erahnte, aber sie verspürte das tiefe Bedürfnis, diese Welt hier zu schützen. Nichts zu zertrampeln oder zu zerreißen, keinem Lebewesen zu schaden.
Bald schon hatte sie den Baumwipfel erreicht. Sie klammerte sich an einen dicken Ast und hatte nun einen Blick über den Wald. Vor Staunen stand ihr der Mund offen. Über die gesamte Weite erstreckten sich Baumwipfel. Riesige Blütenkelche in allen möglichen Farben streckten sich der Sonne entgegen, die hell am blauen Himmel stand. Über Lara schwirrten unzählige Tiere. Vögel in allen Formen und Farben. Manche ganz klein und hektisch in ihren Bewegungen, die dabei aufgeregt tschilpten. Andere groß und erhaben mit riesiger Flügelspannweite. Begeistert beobachtete sie das Geschehen und vergaß darüber fast ihre Aufgabe, nach dem Berg Ausschau zu halten.
Da hörte sie plötzlich eine Stimme sagen: »Zottel?«
Sie zuckte zusammen. Die Stimme war nicht von außen an sie heran gedrungen. Sie hatte sie in ihrem Inneren gehört. Als würde man sie im Inneren kitzeln.
»Zottel!« Die Stimme war energischer geworden, und der vorwurfsvolle Tonfall kam ihr mehr als bekannt vor .
»Auge?«, rief sie erstaunt.
Da senkte sich mit einem Mal die Sonne auf den Planeten nieder. Ein Hitzeschwall erreichte den Wald. Alle Tiere stoben erschrocken ins schützende Blattwerk.
»Was machst du hier?«
Der Hitzeschwall ging vorüber. Das grelle Licht zog sich zurück, und Lara konnte erkennen, dass sich aus Richtung der Sonne etwas löste und langsam zu ihr herunterschwebte.
Das Auge! Genauso wie Lara es in Erinnerung hatte. Riesig und golden leuchtend, wie eine Glasmurmel, die man auseinandergezogen hatte.
»Du bist es wirklich!« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Ein Gefühl der Liebe überkam sie. Als würde sie einen guten, alten Freund wiedersehen.
Das Auge schien jedoch alles andere als erfreut. Es kniff sich zusammen. »Was hast du hier zu suchen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Hat diese Geschichte zufällig etwas mit einer geklauten Flasche zu tun?«
Sie kam sich wie ein kleines Schulmädchen vor, das seine Hausaufgaben vergessen hatte. »Könnte sein«, murmelte sie.
»Hat dein Vater nicht genaue Anweisungen hinterlassen? Nur einen Tropfen! Und was macht ihr? Nehmt die ganze Flasche mit!«
»Woher weißt du das?«, erwiderte Lara trotzig. Bis ihr etwas einfiel. »Moment. Bist du die Sonne dieser Welt hier? Heißt das, wir sind in der Welt meiner Eltern?«
»Habt ihr die Flasche zurückgebracht? «
»Sind meine Eltern hier?«, fragte sie aufgeregt.
»Zottel. Du gerätst immer in Schwierigkeiten. Seit ich dir das erste Mal begegnet bin. Du hast in dieser Welt nichts verloren. Du musst weg.«
»Ich weiß es doch. Wir suchen nur Marc und die Flasche und gehen dann weiter. Versprochen. Wir machen nichts kaputt.«
Das Auge zwinkerte. »Nun ja. Du hast dich schon einmal aus dem Schlamassel befreit. Ich gehe davon aus, dass du es auch diesmal schaffst. Und kämm dich mal.« Damit schwebte das Auge wieder Richtung Sonne.
»Halt! Warte! Sind meine Eltern hier? Was ist mit Oma? Fred und …«
Das Auge war längst wieder mit der Sonne verschmolzen. Aufgeregt verschaffte sich Lara einen kurzen Überblick, in welche Richtung sie gehen mussten, und kletterte dann wieder nach unten.
»Timo, du glaubst nicht, wen ich gerade getroffen habe!« Sie sprang auf den Boden und blieb fassungslos stehen.
Blaue Augen strahlten sie an. »Hallo, Lara.«
»Luxus?«
Sie saßen in einem Kreis auf einer kleinen Lichtung. Lara konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Luxus kniete vor Timo auf dem Boden und wickelte ihm feuchte Blätter um den geschwollenen Knöchel.
»Du bist es wirklich.«
Er lächelte. »Das sollte der Schwellung entgegenwirken. «
»Danke«, murmelte Timo.
»Wer bist du denn?«, fragte Isabel nach, die ihren Blick genau wie Lara kaum von Luxus abwenden konnte. Wenn auch vermutlich aus anderen Gründen. Er sah immer noch genauso gut aus wie damals, als er sie als Kürbis in seiner Totenwelt gefunden hatte.
»Ich bin ein alter Freund von Laras Eltern.« Er reichte Isabel die Hand. »Man hat mich Luxus genannt.«
Isabel nahm seine Hand und ließ sie verdächtig lange nicht los. Hinter den beiden wackelten einige Blätter. Ein weiteres ulkiges Wesen streckte den Kopf hindurch und musterte die Runde voll Erstaunen. Alle Wesen auf dieser Welt schienen konstant erstaunt zu sein.
»Wie nennt man dich denn jetzt?«, hakte Timo nach.
Als Antwort zeigte er ihnen die linke Hand. Sie erkannte ein Auge darauf, welches sie interessiert anblinzelte.
»Du bist der Weltenhüter?«, entfuhr es Lara verblüfft.
»Das bin ich.« Er setzte sich und verteilte ein paar Früchte. Von der Größe her ähnelten sie Kiwis, besaßen aber keine Schale und ein violettes Fruchtfleisch.
Lara biss hungrig hinein und konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Süßeres, Köstlicheres gegessen zu haben. Auch Susi bekam von den Früchten und verspeiste sie gierig. Neben dem kleinen, grauen Wesen, das eben noch durch die Blätter gelugt hatte, wagten sich nun weitere Tiere zu ihnen. Manche waren grau, andere gestreift oder gepunktet. Manche waren klein und krochen auf unzähligen Beinchen zu ihnen. Andere wiederum stelzten auf langen Beinen und starrten sie mit großen Augen über langen Schnäbeln neugierig an. Allesamt verwundert über das, was sie sahen, und absolut friedlich.
»Als wir diese neue Welt erschaffen haben, wurde ich zum Weltenhüter auserkoren. Ein ziemlich guter Job, wie ich finde.« Er grinste in die Runde.
Isabel hing an seinen Lippen.
»Du bist der erste Weltenhüter, der sich über uns freut«, stellte Lara fest.
»Das tue ich nur, weil ich weiß, dass ihr bald wieder verschwindet.« Er streichelte Susis Kopf. Die Hündin beäugte misstrauisch die Tiere um sich herum.
»Ich weiß, es ist nicht in Ordnung, dass wir hier sind«, entschuldigte sich Lara.
»Das kannst du laut sagen«, dröhnte die Stimme des Auges in ihrem Inneren.
»Wer ist das?«, fragte Isabel verblüfft.
»Ein alter Bekannter. Der sich dummerweise an alles erinnert«, antwortete Lara.
»Ich hatte nie irgendetwas vergessen. Das waren alles nur Unterstellungen.«
»Aber wir hatten alles vergessen. Nur deshalb sind wir hier gelandet. Wir können wirklich nichts dafür!«
»Ich weiß, was euch passiert ist. Die anderen Weltenhüter haben mich vorgewarnt«, beruhigte Luxus sie.
»Du stehst mit ihnen in Kontakt?«
»Natürlich. Immer.«
Sie sah zu seiner Hand und erinnerte sich. »Mila hat mich damals im Totenreich durch das Auge beobachten können. Als wir sie zusammen besucht haben, konnte sie mich auch sehen. Als ich ein Geist war. Kannst du das jetzt auch? Ins Totenreich sehen, meine ich? Hast du Cem und Ayse gesehen?«
»Nein«, erwiderte Luxus ernst. »Ich kann nur durch das Auge selbst ins Totenreich sehen. Das neue Auge, das bei der Entstehung dieser Welt hier entstanden ist, öffnet sich aber nicht. Es hat sich zusammengekniffen.«
»Weil es Angst hat!«, rief das Auge entrüstet. »Kein Wunder. Es hat ja seine Flasche nicht.«
»Wenn du dich die ganze Zeit einmischst, dann komm wenigstens dazu«, verlangte Lara, die nicht eingestehen wollte, wie sehr sie sich über dieses Wiedersehen freute.
»Nein. Das Auge muss am Himmel bleiben«, lachte Luxus.
Sie sah ihn ernst an. »Du weißt also nicht, was mit Ayse und Cem ist?«
Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nur, dass es nicht deine Schuld ist.«
»Hmpf«, machte das Auge.
»Timo wollte dich retten und hat die Flasche an sich genommen. Er hat euch damit das Leben gerettet. Dass ihr alles vergessen hattet, gehört nun mal dazu, wenn man auf die Erde kommt. Auf Level null. Du weißt ja, dass das Vergessen zu unserer Existenz gehört.«
»Vergessen, um sich zu erinnern«, bestätigte Lara.
»Warum bringt uns die Flüssigkeit eigentlich von einer Welt in die nächste? Und nicht ins Totenreich?«, hakte Timo nach. Er wirkte erschöpft.
»Erinnert ihr euch noch, was wir euch über die verschiedenen Levels gesagt haben? «
»Das Totenreich und die Erde sind auf verschiedenen Levels. Die Erde ist in ihrer Energie eine Stufe niedriger. Wir haben den Raum mit dem Auge auf dieses Level gezogen, weil wir mit unseren Körpern eingedrungen sind. Deshalb hatte auch das Auge alles vergessen.«
»Genau«, rief Luxus. »Die Flüssigkeit beamt einen von einer Welt in die nächste. Aber immer nur in dem Level, in dem sie sich gerade befindet. Wenn ihr die Flasche also im Totenreich öffnet, beamt sie euch von einem Totenland ins nächste. Seid ihr aber auf der Erde, beamt sie euch von einer Welt in die nächste.«
»Dann gehört unsere Erde zu dieser Welt dazu?«
»Sie gehört zum Kreis dieser sieben Welten, ja. Und diese sieben Welten sind wiederum nur ein Teil eines noch größeren Systems.«
»Laniakea«, sagte Lara.
Luxus nickte.
»Aber die Erde besteht doch schon so lange? Und diese Welt hier ist noch sehr jung? Wie passt das zusammen? Müssten nicht die sieben Welten auch gleichzeitig entstehen?«
»Die Erde war der Ausgangspunkt. Jede Welt, die dazugehört, ist nach ihr entstanden. Auf der Grundlage der Erfahrungen, die auf der Erde gemacht wurden und nun vertieft werden sollen.«
»Und was ist das hier für eine Welt?«, fragte Isabel leise.
»Ich nenne sie Frieden. Wir haben eine Welt erschaffen, in der es keine Menschen gibt. Nur Tiere, die sich ausschließlich von Pflanzen ernähren. Es ist eine Welt ohne Angst. Sie besteht nur aus Liebe.« Luxus nahm ihre Hand. »Deine Eltern sind hier überall. Sie sind zu Liebe geworden.«
Lara schaute auf die Tiere. In ihren großen, erstaunten Augen erkannte sie ihre Eltern und all ihre Freunde wieder. Sie verstand, dass sie nicht für immer fort waren. Sie waren nur zu etwas anderem geworden. Wie gut, dass sie nicht zu den Kriegern in der Ritterrüstung geworden waren.
Sie bemühte sich um ein Lächeln. »In ihrer alten Form wären sie mir trotzdem lieber.«
Er drückte sie kurz, und sie sah das Auge in seiner Hand.
»Darf ich mal durchgucken?«
»Natürlich.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Isabel kauerte sich dicht neben sie. Gemeinsam sahen sie durch das Auge und Mila ins Gesicht.
»Hey! Das ist Mila! Kann sie mich hören?«
Er nickte.
»Mila! Ich bin okay! Du bist der Weltenhüter, nicht wahr?«
Dunkelheit. Das Auge schloss sich.
»Was ist denn jetzt?«
»Mila ist gerade in einer schwierigen Phase. Eine Art Weltenhüterpubertät.«
Lara hatte tausend Fragen, aber Timo kam ihr zuvor.
»Warum haben alle Welten die gleichen Bedingungen?«, fragte er. »Wir können auf allen Welten gehen, atmen, trinken. Sogar in der Welt dieser Träumer. Obwohl die doch bestimmt keine Nahrung oder Luft zum Atmen brauchen?«
»Das stimmt«, bestätige Luxus. »Aber wir Weltenhüter reisen immer wieder zwischen den Welten umher. Wir können unsere Körper nicht ändern. Also brauchen wir alle die gleichen Voraussetzungen. Die gleiche Luft zum Atmen. Wasser zum Trinken.«
»Diese Träumer. Wir haben sieben gesehen, die zusammen in einer Blase verschwunden sind.«
»Die Welt der Träumer ist die Welt, in der die neuen Seelen aus anderen Galaxien eintreffen. Sie haben auf ihren Welten genug Erfahrungen gesammelt und wollen selbst keine neue Welt erschaffen. Sie wollen erst auf anderen Welten leben. Sie kommen auf die Welt der Träumer und betrachten sich die restlichen sechs Welten, ehe sie entscheiden, wo sie als Nächstes hingehen.«
»Dann suchen wir uns das alles wirklich selbst aus?«, hakte Isabel nach.
»Das tun wir.«
Nachdenklich schwieg sie und blickte weiter durch das Auge in Luxus Hand. Lara erkannte Ausschnitte aus verschiedenen Ländern ihrer Erde. Sie erkannte Jerusalem und die Menschenmassen, die sich dort immer noch versammelten. Die Menschen schrien sich an und stießen einander. Dann erkannte sie eine Großstadt. Wolkenkratzer reihte sich an Wolkenkratzer. Dichter Nebel lag über den Häusern. Smog. Das Bild wechselte erneut, und sie sah eine Hügelkette, auf der ein einsamer Mann wanderte. Es folgten etliche Szenen ihrer Erde. Während Lara sie voller Liebe betrachtete, ging es Isabel anders.
»Ich würde mich nie wieder für unsere Welt entscheiden«, erklärte sie leise. »Ich weiß nicht, was daran toll sein soll. Wir machen alles kaputt, zerstören die wunderschöne Natur, hassen und bekämpfen einander.«
»Das ist ein Aspekt, ja«, erwiderte Luxus ruhig.
»Die Welt der Frauen war viel schöner. So friedlich, und alle waren im Einklang mit ihrer Welt. Sie haben mit ihr gelebt. Nicht gegen sie.«
Lara erinnerte sich, dass sie am Ende der Reise durch die Länder der Toten ähnlich empfunden hatte. Sie hatte nicht in ihr altes Leben zurück gewollt. Jetzt empfand sie das anders. Sie fühlte sich mit ihrer Welt verbunden.
»Es gibt auch auf eurer Welt Menschen, die im Einklang mit ihr leben«, erwiderte Luxus.
Sie sah eine Szene in Berlin. Am Kottbusser Tor. Zwei abgemagerte Jugendliche schlugen sich die Fäuste ins Gesicht. Neben ihnen lag ein Mann neben einem Hund am Gehweg und schlief. Die Szene wechselte, und Lara erkannte ein kleines Häuschen, das ihr mittlerweile sehr vertraut war. Es war das Haus von Jo und Karin. Sie fühlte, wie Wärme in ihr aufstieg. Berlin war immer ihre Heimat gewesen. Sie liebte die raue, laute Stadt mit ihren unzähligen Menschen. Aber sie hatte auch die Ruhe und die gute Luft im Schwarzwald lieben gelernt. Ihren Onkel und seine Frau, die mittlerweile wie eine Familie waren. Eine tiefe Sehnsucht erfüllte sie. Wenn sie jemals wieder zurückkehren sollten, würde sie im Schwarzwald bleiben.
Sie lächelte Luxus an. »Wir sind die Welt der Gegensätze«, begriff sie mit einem Mal. »Wir bekämpfen uns, aber wir lieben uns auch. Wir sind nicht nur die Riesen im Krieg. Oder die Frauen, die ihre Welt durch Gesang dazu bringen, Früchte wachsen zu lassen. Wir sind nicht nur die Pflanzen und nicht nur die Tiere. Wir sind alles auf einmal. Wir können alles erfahren, was wir erfahren wollen. Jedes Extrem. Licht und Dunkel. Liebe und Hass.«
»So ist es.« Luxus lächelte. »Und wenn ihr all diese Erfahrungen gemacht habt, entscheidet ihr euch meistens für eine Richtung, in die ihr gehen wollt.«
»Aber wie kann man sich für den Krieg entscheiden? Wer geht freiwillig zu diesen Riesen und knallt sich ab?«
»Jemand, der danach umso mehr begreift, dass er das Leben ist.«
»Das ist doch Quatsch«, betonte Isabel zunehmend verstimmt. »Ich brauche diesen ganzen Hass nicht, um glücklich zu sein. Ich will ihn nicht mehr!«
»Dann entscheide dich für etwas anderes.«
Sie musterte Luxus einen Moment schweigend und nickte dann. »Ja. Das werde ich.«
»Marla hat betont, dass wir noch nicht voneinander erfahren dürfen«, erinnert sich Lara. »Heißt das, dass wir irgendwann von diesen anderen Welten wissen werden?«
»Natürlich«, erwiderte Luxus gelassen. »Was glaubt ihr, warum wir den unbändigen Drang dazu verspüren, das Weltall zu erkunden? Es kommt die Zeit, da werden alle Menschen die magischen Orte nutzen und durch alle Welten reisen. So wie es ihnen gerade gefällt. Aber bis dahin dauert es noch. Ihr habt jetzt erst mal eine andere Aufgabe.«
»Du weißt, in welchem Schlamassel die Erde steckt«, betonte Timo. »Wir müssen die Flasche zum Auge zurückbringen. Dafür müssen wir Marc finden. Hast du ihn gesehen?«
»Er kam hier vorbei«, bestätigte Luxus.
»Und?«, fragte Lara aufgeregt.
»Er ist eine Welt weiter. Ich habe ihn dort abgestellt.«
Alle schwiegen verblüfft.
Dann ergriff Timo das Wort. »Wie abgestellt?«
»Er hätte die Flasche ganz aufgebraucht. Das konnte ich nicht zulassen. Aber ich konnte ihn durch den magischen Ort nur eine Welt weiterbringen. Ohne die Karte weiß er nicht, wo der nächste Durchgang ist. Er ist dort also gestrandet.«
»Was den Weltenhüter nicht begeistern wird.«
»Sagen wir mal so, in dieser Welt kann nicht einmal Marc irgendeinen Schaden anrichten.«
»Diese Welt würde ich gerne kennenlernen«, erwiderte Isabel trocken.
»Das wirst du. Wenn ich euch dorthin schicke.«
»Aber die Flasche …?«
Luxus griff in seine Tasche und zog etwas heraus.
»Du hast sie!« Timo sprang auf, wurde aber sofort an seine Verletzung erinnert. »Au!« Er ging in die Knie.
Lara betrachtete die Flasche. Ein kleiner Rest des Schimmers war noch darin. »Bringst du sie zum neuen Auge?«, fragte sie.
»Das kann ich nicht. Ich kann mein Level nicht verlassen.«
»Ich mache es. Was muss ich tun?«, fragte Timo.
Jetzt wurde Luxus ernst. »Es ist eigentlich ganz einfach. Die Flasche bleibt bei dem, der sie in den Händen hält. Als Gegenstand kann sie zwischen den Levels wechseln. Was bedeutet, dass sie bei demjenigen bleibt, der sie mit zum Auge nimmt. Ihr wisst ja, wie man zum Auge gelangt.«
Lara spürte plötzlich, wie ihr Herz heftig schlug. Sie wagte nicht, es auszusprechen.
»Man stirbt«, sagte Timo leise.
Luxus nickte. Lara wurde heiß und kalt zugleich, als sie in Timos entschlossenes Gesicht blickte.
»Aber wir können nicht sterben«, erinnerte Isabel. »Das ist ja das ganze Problem. Oder nicht?«
»Auf der Erde nicht.« Er ließ die Worte im Raum stehen.
Timo richtete sich auf. »Aber hier können wir sterben.«
»Nein!« Lara sprang auf.
Timo schnappte sich die Flasche und humpelte in den Dschungel davon.
»Warte!«, schrie Lara und lief ihm hinterher. Trotz seiner Verletzung war er so schnell, dass sie kaum hinterherkam. Erst nachdem sie bereits tief in den Dschungel vorgedrungen waren, holte sie ihn ein. »Das machst du nicht!«
Er blieb unwillig stehen. »Ich habe keine Wahl.«
»Natürlich hast du eine Wahl. Dich nicht umzubringen!«
»Ich habe es die ganze Zeit irgendwie gewusst. Dass es die einzige Möglichkeit ist. Es ist okay.«
»Nein. Es ist absolut gar nicht okay! Weißt du noch? Sazan? Sie hat sich umgebracht. Jetzt dämmert sie in ihrem Land aus Sand vor sich hin, und ihre Sieben verpassen die Erfahrung, die sie gemeinsam machen wollten. Timo, du gehörst zu meinen Sieben. Ich weiß es. Ich kann dich nicht gehen lassen. Ich kann nicht … ohne dich …«
Seine Hand glitt über ihr Gesicht. Wischte ihr Tränen ab. »Als deine Eltern und ihre Freunde diese Welt hier erschaffen haben, da hat sich das alte Auge in drei Teile gespalten. Es wurde zu Sonne und Mond dieser Welt. Und es entstand ein neues, kleines Auge. Es ist davongeflogen, und die Flasche mit dem Schimmer wollte hinterher. Ich habe sie aufgehalten. Das neue Auge braucht den Schimmer. Ich muss es ihm zurückbringen. Und solange du keine bessere Idee hast, habe ich keine Wahl.«
Sie schwieg.
»Die Menschen sterben nicht mehr. Das ist meine Schuld.«
Lara schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist meine.« Mit einem Mal wurde sie ganz ruhig.
»Was redest du da?«
»Ich bin damals meinen Eltern hinterher. Wenn ich das nicht gemacht hätte, dann hättest du mich nicht retten müssen.« Die Tränen liefen ihr nun ungehindert über das Gesicht. »Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um meines zu retten. Nur deshalb hast du die Flasche mitgenommen. Ich muss das in Ordnung bringen. Nicht du.« Entschlossenheit machte sich in ihr breit.
»Das ist doch Blödsinn!«, rief Timo.
Sie war sich ihrer Sache plötzlich sicher. »Für Ayse und Cem ist es längst zu spät. Sie sind schon so lange dort, sie können gar nicht mehr leben. Aber du, du musst leben. Weil diese wunderbare Welt, die wir haben, die ist nur toll, wenn du in ihr bist.« Sie wollte ihm die Flasche aus der Hand nehmen, doch er hielt sie fest.
»Ich lasse dich nicht gehen«, murmelte er.
»Du musst.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du hast viel mehr Grund zu leben. Ich habe meine Eltern verloren. Meine beste Freundin. Aber du hast Familie. Du hast eine Schwester. Isabel wird dich brauchen, wenn sie mit diesem Idioten zusammen ist.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Ohne dich hat es keinen Sinn.«
Sie sahen sich an. Endlos, wie es Lara schien. In seinen Augen las sie dieselbe Entschlossenheit, die sie empfand.
Sie nahm seine Hand. »Wir gehen gemeinsam oder gar nicht.«
»Nein!«, schrie er. »Das ist Wahnsinn! Du wirst dich nicht umbringen!«
»Aber ich soll akzeptieren, dass du es tust? Obwohl ich genauso dafür verantwortlich bin?«
»Es reicht, wenn einer sich opfert.«
»Und jetzt? Sollen wir losen?« Sie erwiderte seinen Blick entschlossen. »Du wirst mich nicht umstimmen.«
Es musste ihm wie Verrat vorkommen, schließlich hatte er immer versucht, sie zu beschützen. 
Schritte waren zu hören. Isabel trat neben sie und sah Timo wütend an. Susi war ihr gefolgt und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Lara war sich sicher, dass Isabel versuchen würde, ihnen die Entscheidung auszureden .
»Ihr wollt also gehen?«
»Ich muss gehen. Lara nicht.«
»Du kannst nicht von ihr erwarten, dich in den Tod zu schicken und selbst am Leben zu bleiben. Ist dir nicht klar, dass sie dann nie wieder glücklich sein kann?«
Timo musterte sie verblüfft.
»Ich weiß, es ist dir nicht bewusst, aber was du verlangst, ist total egoistisch.«
Lara war erstaunt. Dass Isabel ihr ausgerechnet jetzt zur Seite stand, hätte sie nicht vermutet.
»Ich habe den Unfall damals überlebt. Und habe bis heute gebraucht, um mir zu verzeihen, dass ich weiterleben durfte. Das wünsche ich keinem.«
»Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass du es ihm ausreden willst«, sagte Lara.
Isabel sah Timo liebevoll an. »Ich will es dir nicht ausreden. Diese Reise hat alles verändert. Ich weiß jetzt, dass der Tod nicht das Ende ist. Und ich weiß, dass wir ihn brauchen. Ohne ihn steht die Welt still. Alles besteht nur noch aus Angst und Chaos. Du hast das vor mir kapiert. Ich kenne dich. Ich weiß, dass ich dich niemals aufhalten könnte. Selbst wenn ich wollte. Und du kannst sie nicht aufhalten.«
Das war nicht die Isabel, die Lara kennengelernt hatte.
Sie ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. »Danke. Für alles.«
Die beiden hielten sich einen Moment fest. Dann machte Isabel sich los.
»Also hat die Konfrontationstherapie doch noch was genutzt?«, fragte Lara .
Isabel wirkte wie befreit. »Ich hatte immer Angst. Vor Veränderungen. Jetzt habe ich das Gefühl, ich habe mein halbes Leben verpennt. Ich war so erstarrt. Wollte alles und jeden festhalten. Ich wollte sogar Marc mit einem Baby an mich binden. Aus lauter Angst, dass ich ihn verliere. Das ist doch krank! Man kann nichts festhalten. Alles verändert sich, und wenn ihr jetzt geht, dann seid ihr nur woanders. Erlebt etwas Neues. Aber ihr seid zusammen. Das ist die Hauptsache. Nach diesem Trip ist nichts mehr, wie es einmal war.« Sie lächelte und nahm nun auch Lara in den Arm.
Überrumpelt ließ Lara die Umarmung zu.
»Wer weiß, vielleicht findet ihr noch einmal einen Weg zurück? Und wir sehen uns wieder? Das würde mich sehr freuen.« Isabel löste sich von Lara und sah Timo mit Tränen in den Augen an. »Ich liebe dich.«
Er lächelte. »Ich dich auch.«
Susi schleckte aufgeregt Laras Hand. Als wüsste sie, dass ein Abschied bevorstand. Lara beugte sich hinunter und drückte die Hündin fest an sich. Dann packte Isabel Susi am Halsband und zog sie mit sich. Sie drehte sich nicht mehr um. Aber Lara sah, dass sie weinte.
Timo sah den beiden ebenfalls nach. »Ich wünschte, du würdest mit ihnen gehen«, murmelte er.
»Ich wünschte, wir beide könnten einfach nach Hause. Aber wie du gesagt hast, wir haben keine Wahl. Die einzige Wahl, die ich habe, ist, bei dir zu bleiben.«
Sie musterten sich. Dann nahm er ihre Hand, und sie gingen los.